Ausschnitt aus dem Buch von Laetitia Cénac, Jean-Philippe Delhom „Hinter den Kulissen von Chanel“ (Knesebeck Verlag). - Jean-Philippe Delhomme/Knesebeck Verlag

Warum Manufakturen nicht aussterben dürfen: Exklusive Einblicke in die Ateliers des Modehauses Chanel

Handwerklich hergestellte Produkte und die Verwendung traditioneller Materialien stellen als wertvolles Kulturgut eine nachhaltige Alternative zum schnellen Konsum und zur Welt der Massenprodukte dar. Manufakturen und ihre Artefakte stiften Identität, geben Orientierung, schärfen die eigene Wahrnehmung und Urteilsfähigkeit, vermitteln ein Bewusstsein über Material und Geschichte, zeigen das Machbare in der Gegenwart, aber auch Wege in eine bessere Zukunft. Denn von Handwerkskunst lässt sich lernen, was es bedeutet, sich an eine Sache hinzugeben, sich zu fokussieren, Schritt für Schritt vorzugehen (Handgriff für Handgriff), etwas hervorzubringen und mit den Konsequenzen des eigenen Tuns konfrontiert zu sein.

Die Überlieferung des traditionellen Handwerkerwissens wird im Haus Chanel sehr geschätzt. Hier arbeiten hochspezialisierte Kunsthandwerker wie Textilgestalter, Hutmacher oder Plisseure mit jahrelanger Erfahrung. Sie fühlen sich verpflichtet, überlieferte Fertigkeiten zu bewahren. Die ökonomischen und sozialen Strukturen vor Ort werden geschätzt und regionale Ressourcen genutzt, um ein besonderes Maß an Qualität und Verantwortung zu erreichen. Wer auf Qualität setzt, misstraut Kommunikations- und Marketingaktionen, die nicht aus gewachsenen, nachhaltigen Voraussetzungen entstehen. Dazu gehört, dass diejenigen, die für Qualität bürgen, ihrer Berufung folgen und nicht nur einen Job machen. Liebe ist für sie der Treibstoff, ohne den nichts läuft.

In seinem Porträt einer Stickerin beschreibt der Lyriker, Philosoph und Essayist Paul Valéry die Bedeutung der Handarbeit: „Sie beklagt sich weder über die Mühe noch darüber, wie viel Zeit dabei vergeht. Diese schönen Stoffseiten aus Gold und Seide haben mehrere Jahre aufgebraucht. In der zauberhaften Arbeit stecken Opfer und Größe, wobei sich die Beharrlichkeit eines Insekts und die Verbohrtheit eines Mystikers vermischen mit Selbstvergessenheit und der Ablenkung von allem, was man ausblenden will.“ Mode konnte sich Lagerfeld nicht ohne Stickerei vorstellen, „und Stickerei nicht ohne Lesage.“ Das Atelier Lesage schloss sich 2002 an das Modehaus Chanel an.

In der Regel werden sämtliche Montageschritte bei Chanel von Männern durchgeführt und alle Phasen der Fertigstellung von Frauen. Die Herstellung einer Handtasche ist in sieben Bereiche aufgeteilt: das Zuschneiden, die Vorbereitung der Werkstoffe, die zweidimensionale Montage, das flache Steppen, die dreidimensionale Montage im Rahmen, das Zusammennähen mit der Maschine und das Anbringen der Verzierungen.

Welche Prozesse hinter der Erschaffung von Prêt-à-porter-Kollektionen stecken, wie spezialisierte Kunsthandwerker zu den einzelnen Schritten beitragen, und wie durch die Zusammenarbeit mit den verschiedenen Werkstätten die Kollektionen zum Leben erweckt und schließlich auf dem Catwalk präsentiert werden wird in der illustrierten Dokumentation „Hinter den Kulissen von Chanel“ von Laetitia Cénac und Jean-Philippe Delhomme erstmals detailliert gezeigt. Ein Jahr lang recherchierten die beiden hinter den Kulissen des Modehauses Chanel.

Ihre Reise führte sie unter anderem in eine Weberei in Ostfrankreich, zu einem Hersteller von Strickwaren und Kaschmirprodukten im schottischen Hawick und in die Manufaktur Roveda in Mailand, die Chanel im Jahr 2000 übernommen hat. So wird auch die Geschichte des Mode-Imperiums erzählt, das unter dem Dach seiner Tochterfirma „Parafection“ 27 Handwerksbetriebe versammelt.

Das Buch erinnert uns daran, dass die Hand als Werkzeug des Bauens und Bildens sowie als Organon der Erkenntnis auch heute von entscheidender Bedeutung ist, denn eine Digitalisierungsgesellschaft braucht ein Könnensfundament, das sich handwerklichen Fähigkeiten verdankt. Laetitia Cénac schreibt für Madame Figaro über Kultur, Mode, zeitgenössische Kunst, Theater und Lifestyle und veröffentlichte mehrere Bücher über Kunst und Mode. Jean-Philippe Delhomme hat an der renommierten École nationale supérieure des Arts Décoratifs in Paris studiert. Als Modeillustrator arbeitet er unter anderem für Vogue, House & Garden, GQ und zahlreiche andere Magazine sowie als Autor für Verlage.

Im Buch beschrieben wird auch die Schau vom Herbst 2018, bei der im Museums-Bau Grand Palais ein Traumstrand mit feinem Sand aufgeschüttet wurde (eine Anspielung an den Strand von Sylt seiner Kindheit), durch den die Models barfuß liefen. Vorgestellt wird die Arbeit des Soundstylisten und des Dekorationsteams, die „Geheimnisse des Castings“ und die Ausstattung mit Accessoires. Auch werden die Menschen hinter Karl sichtbar: der Image-Designer, die Schuhdesignerin, die Markenbotschafterin und Lagerfelds langjährige rechte Hand, Virginie Viard, die inzwischen seine Nachfolge angetreten hat. „Von Chanel könne man lernen, dass die luxuriösesten Stoffe von innen kommen“ - so wie die schlichte Eleganz, die den Chanel-Stil auszeichnet. Auf den letzten Seiten sind die Métiers d'Art-Kollektion 2018/19 zu sehen, die im Dezember 2019 im Metropolitan Museum of Art (Met) in New York präsentiert wurde.

Ursprünglich sollte das Buch am 19. Februar 2019 gedruckt werden, dem Tag, an dem Karl Lagerfeld starb. Nun ist es nicht nur ein Bilderbuch über die Arbeit in der Modebranche, sondern auch eine Hommage an ihn und an das Modehaus geworden, für das er 36 Jahre als Kreativdirektor arbeitete. Aufgezeichnet ist auch ein Treffen mit Lagerfeld am 23. November 2018 in seinem Studio. Er trug seinen typischen Look mit weißem Pferdeschwanz, dunklen Halbhandschuhen und hohem Hemdkragen. Viele Aussagen von ihm sind Wiederholungen, die sich auch in Lagerfeld- Büchern und Interviews mit ihm finden, beispielsweise, dass er sich als „supernormal“ sieht oder ein Papier-Junkie ist. Besonders interessant sind allerdings seine Aussagen über Coco Chanel, die ihm in ihren Anfangsjahren die Liebste war wegen ihrer rebellischen und exzentrischen Art. Er mochte die Boshaftigkeit ihres Humors und ihre Intelligenz. An diese Chanel dachte er, wenn er seine Kollektionen entwarf.

Später war das Ziel von Chanel, eine perfekte Dame zu werden. Doch Perfektion kann auch rasch langweilig werden. Dagegen kämpfte Lagerfeld, indem er der Langeweile ein frisches Bild der Marke Chanel entgegensetzte – es war immer ein gegenwärtiges. „Ich habe eine schlafende Schönheit wachgeküsst“, sagte er. In seiner Arbeit wollte Lagerfeld Coco Chanel wiederaufleben lassen: „Ich mache Dinge, die sie nie getan hat, die aber trotzdem très Chanel sind. Ich kenne das richtige Maß.“

Lagerfeld zeichnete alles selbst. „Ich habe nie zeichnen gelernt, es kam ganz von allein. Ich verstehe gar nicht, warum manche behaupten, nicht zeichnen zu können. Es können doch auch alle schreiben.“ Er entwickelte, verwarf und begann von vorn. Was ihn ausmachte, waren Fleiß und Anstrengung und Offenheit gegenüber neuen Erfahrungen. Das waren entscheidende Voraussetzungen für seine Hervorbringungen, die als kreativ oder gar genial bewundert wurden. Als Modedesigner legte er sein ganzes Können und sein ganzes Herz in den Entwurf des Designs.

Das zeichnet die wirklich großen Meister wie Lagerfeld aus: Sie gehen auch im Kleinen ans Werk, sie bereiten sich ein Leben lang vor, wollen sich ständig verbessern und ruhen sich nicht auf vergangenen Erfolgen aus. Der Dünkel der Hierarchie, dass es die anderen sind, die lernen und üben müssen, ist ihnen fremd. Was immer nachhaltig gelingen soll, braucht Disziplin und Übung. Doch ohne Freude ist beides nichts. Lagerfeld war ständig auf der Suche nach Unverbrauchtem und Originellem. Wer denkt, wie er immer schon gedacht hat, wird auch erhalten, was er immer bekommt – dieselben alten Ideen. Der Meister aber wusste, dass das wichtigste Werkzeug eines Modedesigners Offenheit ist, um alles Neue willkommen zu heißen. So lag auch der Erfolg von Chanel darin, sich ständig neu zu erfinden.

Chanel steht für perfekte Verarbeitung, Stil und Luxus. Der Begriff Luxus kommt aus dem Lateinischen und bedeutet „Verschwendung“ – allerdings ist Luxus wirtschaftlich gesehen alles andere als überflüssig. Wahrer Luxus ist sogar nachhaltig, weil hochpreisige Produkte von den Konsumenten wertschätzender behandelt werden und wegen ihrer hochwertigen handwerklichen Verarbeitung länger halten.

Weiterführende Literatur:

Laetitia Cénac, Jean-Philippe Delhomme: Hinter den Kulissen von Chanel. Künstler, Ateliers und Werkstätten. Knesebeck Verlag, München 2019. Das Original "Dans les coulisses de Chanel" erschien erschienen im Verlag Editions de la Martinière.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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