Chris Güldner gibt Hopfen in den Sud seines Pilsners Heesch. Es ist die erste Biersorte, die er anbietet. Foto: Sofia Brandes

Warum sich ein Nebenerwerb doppelt lohnt

Viele Menschen würden gern ihre Leidenschaft zum Beruf machen, trauen sich aber nicht. Dabei zahlt sich der Mut aus – unter bestimmten Bedingungen.

Die Würfel waren gefallen – einer landete im Kronkorken. Es ist die Ausgangslage des Trinkspiels, das Chris Güldner an einem langweiligen Pandemieabend mit Freunden erfand. Nach jedem Wurf durfte der Würfler seine Mitspieler auffordern, ein paar Schlucke zu trinken. Genauer: so viele, wie Augen zu sehen waren. Die Augen des in den Korken geworfenen Würfels zählten doppelt. An jenem Abend, so erinnert sich Güldner, trank er jedoch nicht nur Bier. Er entschied auch, es mit dem Bierbrauen zu versuchen.

Das Experiment glückte. Und Güldner fand immer mehr Gefallen daran. Anfang Februar dieses Jahres gründete er mit zwei engen Freunden schließlich eine Firma – und taufte sie nach dem Trinkspiel: Körkchen’s BrewTal. Vor wenigen Tagen haben die drei Gesellschafter die ersten 1000 Liter ihres Biers bei einer Releaseparty für die neue Marke ausgeschenkt.

Güldner und seine beiden Mitgesellschafter haben ihr Hobby zum Beruf gemacht. Und dabei einen Weg gewählt, der es ihnen ermöglicht, eines Tages Geld zu verdienen, aber schon heute eine Menge Energie daraus zu ziehen – ohne allzu viel zu riskieren: Sie betreiben die Bierfirma im Nebenerwerb. Ein Weg, den der Ökonom Holger Patzelt, der an der Technischen Universität München eine Professur für Entrepreneurship hat, gerade in den gegenwärtig wirtschaftlich schwierigen Zeiten für sinnvoll hält: So kann „ein Hobby Hobby bleiben und wird nicht von der Notwendigkeit überschattet, finanziell zu überleben“.

Hobby-Bierbrauer Chris Güldner in Wuppertal Foto: Sofia Brandes

Diesen Weg entdecken offenbar immer mehr Menschen in Deutschland für sich. Zwar ist die Zahl der Selbstständigen hierzulande laut Statistischem Bundesamt seit mehr als zehn Jahren rückläufig. Gleichzeitig zeigt der aktuelle KfW-Gründungsmonitor, dass die Zahl derer, die im Nebenerwerb ein eigenes Geschäft aufbauen, das zweite Jahr in Folge gestiegen ist.

Güldner und seine beiden Geschäftspartner arbeiten zurzeit 60 bis 70 Stunden in der Woche. Den Großteil verwenden sie auf ihre eigentlichen Jobs, die Stunden drumherum nutzen sie für ihre neue Firma. Eine Belastung, keine Frage. Alles auf die Karte Körkchen zu setzen kommt für sie dennoch nicht infrage: „Uns ist bewusst, dass das immer noch ein Hobby ist“, sagt Mitgesellschafter Nikolas Rau, der hauptberuflich eine Kita leitet. „Deswegen wollen wir uns auch nicht diesem Druck aussetzen, wollten unsere Jobs erst mal behalten.“

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Trotzdem ist das Hobby für die drei weit mehr als nur ein Zeitvertreib. In ein Unternehmen – auch wenn es im Nebenerwerb gegründet wurde – fließt viel Herzblut. Allein der Gedanke ans Brauen an den Wochenenden, erzählt Güldner, trage ihn durch seine Arbeitswoche als Chemikant. Schon beim ersten Kaffee am Samstag freue er sich darauf, das Malz zu schroten, und auf den Duft beim Einmaischen. Der 30-Jährige hat in seiner Freizeit schon viele Sachen ausprobiert: Mit Fotografie hat er es versucht und Samples von Elektromusik zusammengeschnitten. Doch schließlich war es die Leidenschaft fürs Brauen, die ihn nicht mehr losließ. „Man lernt da einfach nicht aus, deswegen begeistert es mich immer noch wie am Anfang“, sagt Güldner, der nun immer öfter T-Shirt mit Körkchenlogo trägt.

TESTBALLONS STEIGEN LASSEN

Was Güldner erlebt, konnten Forscher der Universitäten Bamberg, Würzburg und Groningen vor drei Jahren auch in einer Studie nachweisen: Allein die Vorfreude auf das Hobby steigert das Engagement am Arbeitsplatz. Und zwar selbst dann, wenn man dort etwas ganz anderes tut. Eine der aktuellsten wissenschaftlichen Untersuchungen dazu entstand an der britischen Sheffield-Universität: Die Forscher befragten dafür vor fünf Jahren Menschen über mehrere Monate zu ihren Hobbys und deren Einfluss auf ihr Arbeitsleben. Dabei zeigte sich: Wer sich intensiver dem Fußballspielen oder seiner Briefmarkensammlung widmete, war überzeugter davon, bei der Arbeit einen guten Job zu erledigen. Interessant ist, dass dieser Effekt nur in zwei Konstellationen nachweisbar war – und zwar dann, wenn sich die Tätigkeiten in Arbeit und Freizeit ähnelten, die Teilnehmer das Hobby aber nicht konsequent verfolgten. Und dann, wenn die Befragten ihr Hobby ernst nahmen, es sich aber vom Job stark unterschied.


Doch so viel einem der Traumjob im Nebenerwerb auch geben mag, es empfiehlt sich, einen realistischen Blick darauf zu behalten. Jeder, betont etwa Coachin Sabine Votteler, die vor allem Führungskräfte bei ihrem Weg in die Selbstständigkeit begleitet, müsse sich klar darüber sein, dass Freiberuflichkeit Kraft, Energie und Zeit kostet. „Auch dann, wenn man sich einen lang gehegten Traum erfüllt.“ In einem ersten Schritt rät sie deshalb, „kleine Testballons steigen zu lassen“. So lasse sich gut erkennen, ob die Energie, die man aus einem solchen Projekt zieht, all die Mühen ausgleicht, die dieses nun einmal mit sich bringt – und ob das Projekt neben dem Hauptjob existieren kann.

Bei Gisela Schmidt stieg der erste Testballon als Roman. Die Deutschlehrerin liest genau wie ihre Schwester meist ein bis drei Bücher in der Woche, um die 100 Bücher im Jahr. Beide empfahlen sich gegenseitig neuen Stoff – bis der irgendwann ausging. Schmidt war immer diejenige, die auf Hochzeiten eine lustige Geschichte über das Brautpaar verfasste oder bei Geburtstagen mit kleinen Sketchen aufwartete. Und so war es an ihr, für Büchernachschub zu sorgen. „Ich wollte eine Geschichte schreiben, die so spannend ist, dass meine Schwester sie nicht mehr weglegen kann“, erzählt die 40-Jährige.

Die Autorin Gisela Schmidt schreibt Romane und signiert sie für ihre Leser – neben ihrem Job als Lehrerin Foto: Privat

Das Buch, das dabei entstand, kam auch bei ihrer Mutter an, bei Freunden und bei Freunden von Freunden. Deshalb veröffentlichte die Gymnasiallehrerin es spaßeshalber in einem Selfpublishing-Verlag. „Das ging dann durch die Decke, und Leute fragten, ob es schon mehr von mir zu lesen gibt“, erinnert sich Schmidt. „Also habe ich weitergeschrieben.“ Mittlerweile sind elf Romane von ihr erschienen.

Manche Ideen, die ihr eher zufällig in den Kopf kommen, kann Schmidt einfach zur Seite schieben. Einige aber lassen sie nicht mehr los. „Das sind dann die richtig guten Geschichten“, sagt sie. Die Einfälle dann aufs Papier zu bringen, entspanne sie so sehr wie andere ein Abend auf dem Sofa – genau das, was ein Hobby leisten sollte.

An ihren Büchern arbeitet Schmidt immer dann, wenn alle Aufgaben für ihren Hauptjob erledigt und ihre zwei Kinder versorgt sind – Schule und Familie gehen vor. Und obwohl ihre Bücher so erfolgreich sind, kann sie sich nicht vorstellen, ihre Arbeit als Lehrerin aufzugeben. „Der Autorinnenjob ist ja schließlich ziemlich einsam“, sagt Schmidt. „Man hat zwar seine Figuren, aber am Ende fehlt doch die Interaktion mit realen Menschen.“

STRIKTE TRENNUNG NÖTIG

Zuerst der eine, dann der andere Job. Eine ähnlich klare Trennung wie Schmidt befolgt auch Brauer Güldner. Abends, wenn er von einem Neunstundentag nach Hause kommt, arbeitet er noch an Etikettendesigns oder überlegt sich Namen für seine neuen Biersorten. An den Wochenenden ist dann Zeit zum Brauen. Denn das braucht gern mal zehn Stunden am Stück. So eine strikte Aufteilung empfiehlt auch die Beraterin Votteler. Nur so stelle man sicher, zwischen zwei Berufen nicht zerrissen und immer frustrierter zu werden.

Bei Christian Weilert kommt es dennoch öfter vor, dass er an dem Tisch in seinem Laden, an dem er seine Kunden zum richtigen Stoff und Schnitt ihres Hochzeitsanzugs berät, auch mal mit den Kunden seines Arbeitgebers PwC telefoniert – und denen die Tücken der Coronaüberbrückungshilfen erläutert. Bereits während seiner kaufmännischen Ausbildung entdeckte der heute 37-Jährige seine Liebe zur Mode. Dass der Dresscode in den vergangenen Jahren legerer geworden ist, hielt Weilert nicht davon ab, auch bei Kunden in der Fitness- oder Baumarktbranche mit Hemd und Krawatte aufzutauchen. „Und in meinem Büro war es dann oft so, dass ich besser gekleidet war als mein Vorgesetzter“, erinnert sich der Unternehmer, der auch jetzt in seinem Laden in Düsseldorf in dunkelblauem Zweireiher und polierten Schuhen sitzt. „Das sah der natürlich nicht so gerne.“

Christian Weilert schneidert, inzwischen in einem Laden, in dem er auch seine Arbeit bei PwC erledigt Foto: Privat

VOM ANZUG BIS ZUM NEGRONI

Sein Sinn für Ästhetik und diese mangelnde Chefkompatibilität brachten Weilert dann vor über sechs Jahren dazu, seine Dienste als Maßkonfektionär über eine Webseite anzubieten. Online funktioniert die Selbstständigkeit oft erst mal leichter: Ein Programmierer braucht nicht viel mehr als seinen Computer, und ein Onlineshop ist schneller und günstiger eröffnet als ein Laden in einer beliebten Einkaufsstraße. So nahm Weilert anfangs lediglich 1000 Euro in die Hand, um Muster für Garn, Knöpfe, Innenfutter und Stoffe einzukaufen. Die Homepage baute er sich selbst.

Oft war ich besser gekleidet als der Chef. Das sah der natürlich nicht so gern.
Christian Weilert, angestellt bei PwC und selbstständig als Maßkonfektionär

Heute führt Weilert ein Geschäft, das, wie er selbst sagt, in drei Jahren 250.000 Euro umgesetzt hat. Nur wenige Gehminuten von der Düsseldorfer Luxusmeile Königsallee entfernt, verkauft er nicht mehr nur Maßanzüge: An der Wand liegen Hemden und Pullover mit seinem Label, die Kunden direkt von der Stange kaufen können. Auf einem schwarzen Tisch in der Mitte des Ladens finden sich Einstecktücher, Bücher mit Titeln wie „Dressing the Man“ und Gläser für den Gincocktail Negroni, den man bei ihm ebenfalls direkt kaufen kann.

Dackel Erwin schwänzelt häufiger durch das Geschäft, das an fünf Tagen die Woche geöffnet hat. Für seine Kunden nimmt sich Weilert auch darüber hinaus mal Zeit, obwohl er als Angestellter noch eine 40-Stunden-Woche stemmt. Für PwC bearbeitet er aus dem Homeoffice Abrechnungen. Dass er nebenbei genauso viel Zeit in ein Bekleidungsgeschäft steckt, weiß sein Chef. Vertraglich haben die beiden lediglich die wöchentliche Arbeitszeit und eine Kernerreichbarkeit von 9 bis 16 Uhr wochentags übers Handy vereinbart. Wann und wo Weilert seinen Job erledigt, ist deshalb seine Sache.

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Wahrscheinlich könnte Weilert sogar vom Gewinn aus der Selbstständigkeit leben. Doch das Geld, das seine Firma abwirft, steckt er lieber ins Marketing und in neue Produkte. Aktuell sucht er außerdem einen Mitgesellschafter, der zusätzliche Summen nachschießen kann. Denn der Mann, der aus dem Stand einen mehrminütigen Vortrag über die feinen Unterschiede zwischen Kaschmir- und Vikunjawolle halten kann, verfolgt noch größere Ziele für sein Unternehmen: Deutschlandweit bekannt werden, vielleicht sogar in den acht größten Städten der Republik weitere Filialen eröffnen. Womöglich ein Franchise daraus machen.

Auch die Bierunternehmer aus Wuppertal denken größer: Gern würden sie andere Hobbybrauer dazuholen und deren Marken unter der Dachgesellschaft Körkchen’s BrewTal vereinen. So soll sich nach der Wuppertaler Regionalgröße Wicküler Brauerei wieder eine eigenständige Marke etablieren, die im ganzen Land bekannt ist. So wie der Name des Trinkspiels Körkchen. Das hat Güldner seit jenem Abend nämlich nicht mehr gespielt: keine Zeit.

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