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Dr. Alexandra Hildebrandt

Warum wir lernen sollten, unsere Ängste in Sorge zu verwandeln

In der aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung „Kompetenzwandel in Krisenzeiten“ stehen die Dauerkrisen im Fokus der Analyse. Der „Dauerkrisenmodus“ speist sich aus vier Quellen:

  • Digitalisierung/Automatisierung

  • Dekarbonisierung

  • demografischer Wandel

  • Deglobalisierung (COVID-19-Pandemie, Krieg in der Ukraine).

Um dieser Entwicklung konstruktiv zu begegnen, kommt es weniger auf Wissen, Technik und fachkompetente Hard Skills an. Wichtiger werden stattdessen Empathie, Frustrationstoleranz, Vertrauenswürdigkeit, Empathie, Resilienz und Lernbereitschaft. All das verbindet der Publizist und Buchautor Ulrich Grober mit Zuversicht. In seinem aktuellen Buch, das den gleichlautenden Titel trägt, verbindet er das ethische Prinzip Nachhaltigkeit mit den Grundbedürfnissen des Menschen, um aus dem Dauerkrisen- und Panik-Modus herauskommen, und der Zukunftsangst Hoffnung und Optimismus entgegenzusetzen.

Dabei klopft Grober die deutsche Sprache nach Worten ab, die für viele Menschen zu Leerworten geworden sind durch Abnutzung. Indem er sich ihren etymologischen Wurzeln nähert, erscheinen sie in ganzheitlichen Zusammenhängen. Dazu gehört neben dem Begriff Nachhaltigkeit auch „Sorge“. Einerseits bedeutet er „Kummer, Trauer, seelischer Schmerz“, auch auf „Schutz, Erhaltung und Förderung gerichtetes Streben“ (engl. care). Alles Vorausgesehene, das dem Gewollten entspricht, bedarf seiner Meinung nach der Sorge, „dass es auch eintritt, also der Vorsorge.“ Diese wiederum bedingt ein dem angestrebten Ziel angemessenes Denken und „lebensbejahendes Handeln (actio) in jedem gegebenen Moment.“ Dabei spielt die Balance von Selbstsorge, Vorsorge und Fürsorge eine wichtige Rolle.

Für jemanden sorgen heißt im gängigen Sprachgebrauch nämlich auch, sich um dessen Leib zu kümmern, ihm elementaren Lebensvollzügen wie essen, trinken oder der Körperpflege zu helfen. Sogar Freundschaft hat für Janosch Schobin mit dem Leib zu tun. So soll Aristoteles auf die Frage: „Was ist ein Freund?“ geantwortet haben: „Eine Seele in zwei Leibern wohnend.“ Dieses Zitat gehört heute zu den populärsten zu Freundschaft, Leib und Fürsorge. Schobin geht es schließlich auch um die Frage, ob die Freundschaft zu einer tragfähigen Sozialform wird. Hier trifft er inhaltlich auf Ulrich Grober, dessen Favorit im Dickicht der Nachhaltigkeit-Definitionen sich in Johann Heinrich Campes „Deutschem Wörterbuch“ von 1809 findet: „Nachhalt“ ist das, „woran man sich hält, wenn alles andere nicht mehr hält“. Es geht um das, was tragfähig ist und uns auch dann hält, wenn uns Krisen in unseren Grundfesten erschüttern.

Die Verbindung des Leibes mit der Sorge zeigt auch der russisch-deutsche Philosoph, Kunstkritiker und Medientheoretiker Boris Groys in seinem neuen Buch „Philosophie der Sorge“: So sei unser Leib einer staatlichen Biopolitik unterworfen, die wiederum eine „Urenkelin der sorgenden Religion“ ist. in zwölf Essays widmet er sich großen Denker:innen wie Platon, Hegel, Kojève, Nietzsche, Heidegger, Arendt, Bataille und Fjodorow sowie dem Begriff und der Kultur- und Philosophiegeschichte der Sorge (von der Selbstsorge, Fürsorge über die Sorge um den guten Ruf bis hin zur staatlichen Gesundheitsvorsorge).

Was die Balance von Fürsorge, Selbstsorge und Vorsorge konkret bedeutet, zeigt Ulrich Grober immer wieder am Beispiel von Goethe, der in seinem Bildungsroman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ im „Lehrbrief“, der vom Leben handelt, schreibt: „... gebackenes Brot ist schmackhaft und sättigend für Einen Tag; aber Mehl kann man nicht säen, und die Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden“. Die Selbstsorge (Sattwerden, Wohlgeschmack) ist durchaus wichtig, aber es braucht auch die Vorsorge für die nächste/n Ernte/n, weil Brot nur für einen Tag reicht. Saatfrüchte wachsen und gedeihen nur unter nachhaltigen Bedingungen. Das Wissen darüber und der Respekt vor den langfristigen Prozessen in der Natur werden für Grober damit zur entscheidenden geistigen Ressource. Nachhaltigkeit ist vor diesem Hintergrund eine Überlebensstrategie, die auch von Verantwortung und Pflichten handelt. Das Leitbild der Nachhaltigkeit verweist auf das, was langfristig tragfähig ist.

Die Quelle für Zuversicht ist unsere Sprache

Ulrich Grober: Die Sprache der Zuversicht. Inspirationen und Impulse für eine bessere Welt. oekom Verlag. München 2022.

Ulrich Grober: Die Entdeckung der Nachhaltigkeit – Kulturgeschichte eines Begriffs. Kunstmann Verlag München 2010.

Boris Groys: Philosophie der Sorge. Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Stauder. Claudius Verlag, München 2022.

Klimawandel in der Wirtschaft. Warum wir ein Bewusstsein für Dringlichkeit brauchen. Hg. von Alexandra Hildebrandt. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2020.

Janosch Schobin: Freundschaft und Fürsorge. Bericht über eine Sozialform im Wandel. Hamburger Edition HIS, Hamburg 2013.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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