Warum wir Trost brauchen
Trost kann das Leiden nicht ändern oder beenden, doch was sich verändert, sind Denken und Leidempfinden. Doch was ist eigentlich „Trost“? Was bedeutet „Trost spenden“? Wie gelingt das Trösten? In welchen Situationen brauchen wir Trost? Jean-Pierre Wils, der Philosophie und Theologie in Leuven und Tübingen studierte und Philosophische Ethik und Kulturphilosophie an der Radboud Universität in Nijmegen in den Niederlanden lehrt, begibt sich in seinem Buch „Warum wir Trost brauchen“, das in Kooperation mit dem Museum für Sepulkralkultur Kassel entstand, auf die Spuren eines menschlichen Bedürfnisses. „Trost ist eines der mütterlichsten Wörter, die wir in unserer Sprache haben. Trost ist da, wo das Leben vereist und verbrennt. Sonst ist es kein Trost. Trost ist keine Belohnung der Trauer“, bemerkt der Theologe Fulbert Steffensky. Allerdings gehört Trost nicht zu den Lieblingsthemen der Philosophie. Das hängt für Wils vermutlich damit zusammen, dass er sich zu einem großen Teil dem Denken und unserer Sprache entzieht. Doch: „Ließen wir den Trost am Wegrand liegen, gewissermaßen als Relikt einer restlos vergangenen Vergangenheit, müssten wir mit einem empfindlichen Mangel weiterleben, mit einer Lücke, die sich nicht mehr schließen lässt. Das sollten wir uns nicht zumuten“, so Jean-Pierre Wils.
Es braucht andere Menschen, die einen auffangen. Manchmal sind es auch Gegenstände, die Trost geben: So steht in Japan eine Telefonzelle ohne Telefonanschluss. Das „Windtelefon“ ermöglicht, dass Angehörige mit ihren Verstorbenen sprechen. In der Ausstellung zum Buch war auch ein Teddy zu sehen, der nach der Bombardierung von Kassel im Zweiten Weltkrieg 1943 aus den Trümmern geborgen wurde und den Überlebenden vermutlich noch Trost gespendet hat. Der britische Ethnologe Daniel Miller verfasste eine Studie („Der Trost der Dinge“) über die Bewohner einer Londoner Straße, die zeigt, dass die Beziehung zu den Gegenständen in unserer Nähe „materielle und soziale Muster [bilden], die dem Leben des Einzelnen Ordnung [und] Sinn geben und ihm darüber hinaus ein Trost und eine Zuflucht sind.“ Wirklich nah sind uns nur jene Dinge, die direkt zu uns sprechen – vor allem in Bildern, aus denen sich ihre Geschichte(n) heraushören lassen.
In seinem Buch „Letzte Lieder - Sterbende erzählen von der Musik ihres Lebens“ befragt Stefan Weiller Menschen in der letzten Lebensphase zur Musik ihres Lebens - und erhält dabei Antworten zu großen Lebensfragen. Am Ende eines Interviews schenkte ihm eine Frau auf einem winzigen Notizzettel eine völlig unleserliche Komposition des Liedes ihres Lebens. Eine andere überließ ihm ein Rezept für einen hessischen „Handkäs' mit Musik". Außerdem erhielt er die Frucht einer Platane und ein Mini-Dromedar aus Kunstfell, das aus Ägypten stammt. Die Schenkerin war für Grabbeigaben: „Denn eigentlich bräuchte ich eine Gruft, ein Mausoleum, einen Schrein, am besten eine Pyramide. Dann könnte ich all das mitnehmen, was für andere nur kleine Scheußlichkeiten sind, für mich aber erlesene Lebensstationen markieren. Mit diesem Dromedar in der Hand kriegt die Erinnerung eine Körperlichkeit.“ Auf einige Dinge schrieb sie ihren Namen, beispielsweise auf die Rückseite eines alten Bauernschranks oder auf die Innenseite von Schallplattenhüllen. Für sie ist am Ende nicht so sehr die Frage entscheidend, wie wir sterben, sondern wie wir leben. Wenn ihre Besucher aus der Tür gingen, wurden sie mit einem alten Gruß verabschiedet: „Lebt wohl, ihr Lieben.“
Mit ihrer Autobiographie „Listen to my Heart“, die auf Gesprächen mit Helena von Zweigbergk basiert, wollte uns Marie Fredriksson (1958-2019), die Sängerin der schwedischen Band Roxette, ermuntern, aufmerksam zu sein und uns umeinander zu kümmern. Ein Wort erhält in ihrem Buch besonderes Gewicht: Stille. Ihr Leben war schon früh von Schmerz gezeichnet: Sie wuchs in einer schwedischen Provinz in ärmlichen Verhältnissen auf. Die Eltern arbeiteten viel, und es gab kaum genug zu essen für die fünf Kinder. Als eine der älteren Töchter bei einem Autounfall ums Leben kam, verfiel der Vater dem Alkohol. Marie flüchtete in die Musik. Per Gessle überzeugte sie, gemeinsam Pop-Musik zu machen – geboren war eines der erfolgreichsten Musik-Duos. Als er den Text zu „It Must Have Been Love“ schrieb, wollte er etwas vermitteln, das davon handelt, einen Partner zu finden, der einen zu einem besseren Menschen macht. Das traf auf beide zu: „Musikalisch haben wir es einander definitiv besser gemacht, als jeder von uns für sich wäre.“ Sie waren nie verliebt ineinander, konnten sich jedoch immer aufeinander verlassen. Roxette eroberte mit Hits wie „It must have been love“, „Joyride“, „Spending my time“ weltweit die Charts.
2002 der Schock, die Diagnose Gehirntumor. Durch die Bestrahlung verlor sie ihre Haare. Weihnachten lösten sich immer mehr Büschel von ihrem Kopf. Ihr Ehemann Micke fürchtete, dass es das letzte gemeinsame Weihnachtsfest ist, doch Marie kämpfte und galt als geheilt. Die Kraft, die ihr seit Kindheitstagen ihr Glaube schenkte, half ihr auch durch manch schwere Stunde ihrer Krankheit, deren Spätfolgen sie einschränkten: So konnte sie keine Bücher und Zeitungen mehr lesen, auch den PC konnte sie nicht mehr bedienen. Alles musste langsam gehen, es dufte nicht zu viel auf einmal passieren, dann machte ihr Kopf nicht mehr mit. Doch der Glaube war Trost und lebensnotwendige Verankerung in einer Welt, die immer mehr zu zerfallen drohte.
In all den Jahren ist Marie, die als Kind „kleine Schwätzerin“ genannt wurde und immer in Bewegung war, stiller geworden. Sie gibt im Buch zu, dass sie ohne die Krankheit vermutlich Alkoholikerin geworden wäre, denn sie wollte einfach nicht anhalten. „Volldampf“ und Erfolg haben sie ständig vorangetrieben. Sie wollte alles auf einmal sein, machte mehrere Dinge gleichzeitig und legte ein immenses Tempo vor. Die Unruhe war ein ständiges Sehnen und Drängen, ein permanenter Aufbruch, ein zielloses Treiben und Getriebensein, ein Wandel ohne Ziel, der keine Verbindung herstellen und keinen Übergang schaffen konnte. Das Leiden an der Ruhelosigkeit ist heute überall weit verbreitet: Kaum jemand setzt sich noch genüsslich ins Café. Stattdessen wird ein Coffee-to-go bestellt. Innere Unruhe ist heute so etwas wie ein permanenter Alarmzustand, aus dem es keine Befreiung, sondern nur Erlösung gibt.
Erst mit der Krankheit, die eine Tragödie für Marie war, fand sie Ruhe und lernte, sich wertzuschätzen, sich besser zu organisieren und mit sich selbst zufrieden zu sein. Aber es gab auch eine Phase, in der sie fast nur noch schwieg. Auf ihrem dritten Album „Den ständiga resan“ gibt es ein Lied, das „Tid för tystnad“ („Zeit für Stille“) heißt. Sie lernte wieder, das Wesentliche zu erkennen - und dass es im Leben Zeit für Stille geben muss: „Mein Gott, wie viel Stress da draußen herrscht. Alle rennen herum und ereifern sich. Manchmal ist es richtig befreiend, das nicht mehr zu müssen.“ Marie konnte mittlerweile auch Nein sagen zu Angeboten, die ihr wie pure Zeitverschwendung erschienen. Sie glaubte, dass der heutige Stress das Gehirn zerstört. Hinzu kommt, dass kaum mehr jemand richtig miteinander spricht, denn das gelingt nur, wenn auch Stille ihren Platz im Leben hat: „Setz dich hin und sprich mit mir, um einen ordentlichen Zugang zu finden, das möchte ich am liebsten allen Menschen sagen. Kann das niemand mehr? Einander das schenken? Richtig zuhören und miteinander sprechen?“ Zuhören, sagte der Theologe Paul Tillich, ist die erste Pflicht der Liebe. Doch wer nicht einmal mehr fähig ist, sein Ohr der Natur zu schenken, wird auch im zwischenmenschlichen Bereich nichts mehr hören können. Sie erzählte davon, dass Vögel schon immer eine Leidenschaft von ihr waren und sie es immer genossen hat, ihnen zu lauschen.
Schon als Kind fand Marie Trost in der Natur. Sich ihr zu widmen „birgt Schmerz und Freude. Es ist die Geschichte des Lebens selbst“. In ihrem Garten stand eine alte, kräftige Linde. Sie liebte es, ihre Nähe zu suchen, denn der Baum gab ihr Kraft: „Lieber eine Linde als Facebook“, sagte sie. Da Per Gessle häufig in der digitalen Welt unterwegs war, wurde der Kontakt zwischen beiden immer schlechter, da er in seiner eigenen Welt lebte: „Früher hatten wir einen viel besseren Draht, wir haben mehr gelacht, waren herzlicher. Dafür muss man sich aber Zeit nehmen. Und das macht heute kaum noch jemand. Alle sind völlig von ihren Computern in Beschlag genommen.“ Alle außer ihr, so empfand sie es. Marie fühlte sich zweitweise hoffnungslos außen vor, weil sie die digitale Welt nicht beherrschte und keinen Zugang zu ihr fand.
Sie versuchte, auch während der Krankheitsphase weiter kreativ zu sein. Kurz nach der ersten Operation machte sie mit ihrem Mann Micke das Album „The Change“. Nach der Fertigstellung wurde ein Bild für das Cover benötigt, doch sie wollte sich nicht aufgedunsen fotografieren lassen. Stattdessen malte sie ein Selbstporträt. Dadurch fand sie zurück zum Zeichnen und Skizzieren. Es war für sie das größte Glück, etwas zu Papier zu bringen und sich auf diese Weise auszudrücken zu können. Als alle Mitteilungswege wegfielen, gab es trotzdem noch die Musik. Sie schlug eine Brücke zu den Wörtern, und aus den Wörtern wurde Gesang, die für sie schon immer Kraftquelle und Trost waren. Musik und Trost sind für Jean-Pierre Wils Geschwister im Geiste. Denn Musik ist in der Lage, das Leiden für einen Moment vergessen zu lassen oder vom Leiden am Leiden für eine Weile abzulenken. Der Philosoph Peter Sloterdijk spricht in diesem Zusammenhang von einem Heimfahren ins Innerste. Manchmal schrieb Marie ein Wort auf einen Zettel, das ihr etwas bedeutet. „Stille“ war für sie das schönste Wort, das sie kannte, weil es mit Ruhe, Frieden und hellen Augenblicken zu tun hatte: „Man darf sich nicht in der Dunkelheit verfangen. Ich werde für jeden einzelnen hellen und schönen Augenblick kämpfen – für den Rest der Tage, die mir noch bleiben.“ Sie starb am 9. Dezember 2019 in Danderyd.
Viele fanden im Glauben, in Umarmungen und Ritualen Trost, wenngleich die Lücke, die die Verstorbenen hinterlassen haben, niemals gefüllt werden kann. Und so müssen wir unser Leben oft unreflektiert und gehetzt weiterführen. Hans Blumenberg nannte dies „Zeitfüllung“ oder auch „Musszeit“: Das Leben ist hier von der Diktion geprägt, „können zu müssen“. Wer dazu nicht in der Lage ist, verliert schnell den Anschluss - an andere und die eigene Existenz. Parallel existiert aber noch eine andere Zeit, in der sich unsere Wahrnehmung und das Leben verdichtet und sich die Dinge verlangsamen können: die „Erfüllungszeit“ oder „Kannzeit“, die von Momenten erfüllten Daseins und enthobenem Glück geprägt ist. Mit dem Tod wird die „Zeitfüllung“ und unser Leben endgültig beendet. Doch wie lässt er sich mit „Erfüllungszeit“ in Verbindung bringen? Sie ist die Zeit einer „qualitativen Dauer, der Ort, wo das „ununterbrochene Summen des tiefen Lebens“, wie es der Philosoph Henri Bergson nannte, zu vernehmen sei. Die Zeitfüllung gehört nicht zu den Aufgaben unserer Toten. „Aber trösten können sie.“ (Jean-Pierre Wils)
Jean-Pierre Wils: Warum wir Trost brauchen. Auf den Spuren eines menschlichen Bedürfnisses. Hirzel Verlag, Stuttgart 2023.
Marie Fredriksson und Helena von Zweigbergk: Listen to my Heart. Meine Liebe zum Leben. Edel Books Germany GmbH, Hamburg 2016.
Alexandra Hildebrandt & Alfons Schweiggert: Poesie und Magie der kleinen Dinge“. Lob der „Sächelchen“. Kindle Edition 2022.
Ralf Konersmann: Die Unruhe der Welt. S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2015.
Stefan Weiler: Letzte Lieder – Sterbende erzählen von der Musik ihres Lebens. Edel Books, Hamburg 2017.