Premium

Was die Debatte über Vielfalt in der Werbung über unsere Gesellschaft verrät

Werbung spiegelt seit jeher gesellschaftliche Verhältnisse wider. Dass bereits die bloße Darstellung von Vielfalt Kontroversen auslöst, sagt weniger über Werbung aus als über die Polarisierung der Gesellschaft, schreibt Imran Ayata, Gründer von Ballhaus West und Sprecher des GWA Forums Public Campaigning, in seiner Talking-Heads-Kolumne.

Nach einer Reihe von Entscheidungen und Zufällen landete ich Ende der 1990er Jahre in der Kommunikationsbranche. Wenige Wochen nach Beginn meines Traineeships – das Konzept: "viel arbeiten, fast nichts verdienen" – begegnete mir ein Trend, der angesagt zu sein schien. Zumindest ließ mich das die Berichterstattung in den damals viel gelesenen und relevanten Fachmedien denken. Ethno-Marketing. Große deutsche Marken wie Mercedes-Benz und die Deutsche Telekom hatten den "Ausländer" für sich entdeckt, genauer gesagt den Türken. Sie schalteten türkischsprachige, ganzseitige Anzeigen in den Deutschlandausgaben türkischer Zeitungen wie Hürriyet.

Auch diese wurden damals viel gelesen und fanden in der Community Beachtung. Später folgten TV-Spots auf türkischen Sendern, die in Deutschland neu empfangen werden konnten. Während deutsche Marken das Lied des Multikulturalismus anstimmten, fühlten sich Einwanderer aus der Türkei wertgeschätzt. Das mag heute verrückt klingen, war damals aber so. Schnell gründeten sich sogar Agenturen, die Ethno-Marketing als ihren USP ausgaben. Mir war das alles suspekt, aber ich verfolgte neugierig diesen Trend, dem keine große Karriere beschieden war.

Warum schreibe ich das alles? Nun, das ist nur eines von unzähligen Beispielen dafür, dass Werbung und Campaigning Kinder ihrer Zeit sind – immer an ihrem Puls und manchmal ihr sogar voraus. Selbstredend waren die Begriffe und Diskurse früher andere. Mit dem Ansatz, Historisches mit den Formulierungen von heute zu kontextualisieren, könnte man das damalige Ethno-Marketing als "woke" bezeichnen, was jedoch niemand tat. Es wäre theoretisch möglich gewesen. Denn Blueslegende Lead Belly hatte bereits in den 1930er Jahren dazu aufgerufen, wachsam beziehungsweise aufmerksam gegenüber Rassismus zu bleiben: "Y'all better stay woke".


In letzter Zeit begegnet mir "Woke-Werbung" häufiger und ich frage mich, ob in diesen Fällen auch die Aufgeregtheit von Werbern, Campaignern und Marketingexperten mitschwingt, die als Hobbysoziologen ihr Aufmerksamkeitsökonomiekonto aufbessern wollen. Dass Werbung soziale, politische oder kulturelle Themen ihrer Zeit nutzt, um das Image von Marken zu polieren, dürfte heute niemanden überraschen. Manche Marken haben dies so erfolgreich getan, dass diese Art der Werbung zum Schlüssel ihres Markterfolgs wurde. Erinnern wir uns an Benetton, die ab den 1980er Jahren mit schockierenden und aufwühlenden Kampagnenmotiven zu Rassismus, Aids, Krieg, Religion und Tod ihren Umsatz und ihre Markenbekanntheit in neue Dimensionen trieben. Seit einer gefühlten Ewigkeit inszeniert sich Ben & Jerry's als konsequent aktivistische Marke. Da Woke-Werbung die Möglichkeit des Scheiterns innewohnt, können Fehltritte schnell nach hinten losgehen. So wie bei Pepsi und Kendall Jenner vor einigen Jahren. Hier wurde gesellschaftlicher Protest als Lifestyle inszeniert und Pepsi als Konfliktlösergetränk präsentiert. Wer sich anschauen möchte, wie Jenner einem Polizisten eine Pepsi reicht, kann sich den Spot gerne ansehen und den anschließenden Shitstorm rekonstruieren.

Exklusiv für Xing-Premiumnutzer: HORIZONT Digital zum Sonderpreis - jetzt sichern!



Dass sich Werbung gelegentlich gegen Diskriminierung, Rassismus, Sexismus und Homophobie stellt, sollte niemanden überraschen. Aber die Dinge sind in Bewegung, und auch wenn Werbung politischer wird, ist sie keine Politik beziehungsweise politisch relevant. Das scheinen manche Kommunikatoren dieser Tage durcheinanderzubringen. Woke-Werbung spiegelt bestenfalls gesellschaftliche Realitäten und Wirklichkeiten wider, weswegen sie immer kontroverser wahrgenommen und diskutiert wird. In Gesellschaften und Zeiten des Entweder-Oder, des Dafür oder Dagegen, des Ja oder Nein büßen wir immer mehr die Kunst der Differenzierung ein.

Zuletzt inszenierte American Eagle Sydney Sweeney mit der Punchline "Great Jeans / Great Genes" und zeigte die blonde Schauspielerin in Blue Jeans posierend. Alles daran ist wohldurchdacht und kalkuliert: die aufgeheizte Debatte, die Anspielung auf Eugenik, die "Great Genes"-Botschaft, die übersexualisierte Inszenierung und die "tone-deaf"-Attitüde. Es ist kaum überraschend, dass der schlecht alternde Ulf Poschardt in der "Welt" ins Schwärmen geriet und Sydney Sweeney als "extrem attraktive, kluge Schauspielerin" bezeichnete, "deren Körper erotische Fantasien produziert". Wie gut, dass der Javier-Milei-Fanboy nicht weiter ausführte, was Sweeney mit ihm ansonsten macht.

Es gibt kaum ein Stöckchen, über das unsere Kollegen nicht springen; zuletzt führen sie das besonders gern auf LinkedIn vor. Bei einigen frage ich mich, wann sie überhaupt ihrer eigentlichen Arbeit nachgehen, wenn sie ständig mit der Produktion von Inhalten für LinkedIn beschäftigt sind. Wie gerufen kam da die Marketing-Aktion von Milram, die Diversität ins Kühlregal holte. Was war geschehen? Nicht viel. Milram setzte auf visualisierte Vielfalt: Menschen unterschiedlicher Herkunft zierten die Milchprodukte, ohne dass Diversität explizit betont wurde. Prompt kamen Boykottaufrufe aus dem rechten Spektrum, die Kampagne wurde als "woke" etikettiert. Milram betonte, die Motive seien nicht politisch, sondern repräsentativ für die Vielfalt in Gesellschaft und Zielgruppe. Die Expertendiskussion kreist nun um die Frage, wer auf einem Joghurtbecher zu sehen sein darf.

Werbung muss stets wachsam gegenüber gesellschaftlichen Entwicklungen sein und aufspüren, was die Zukunft bringt. Dass heute gesellschaftliche Themen wie Demokratie oder Vielfalt für die Inszenierung von Marken genutzt werden, hat viele Gründe. Erstaunlich viele davon haben mit der Werbung oder der Werbebranche zu tun. Das Framing von "Woke-Werbung" sagt mehr über politische und gesellschaftliche Verhältnisse als über Werbung aus. Wenn beispielsweise die bloße Repräsentation gesellschaftlicher Vielfalt in der Werbung Empörung auslöst, spiegelt dies zuerst und vor allem die gesellschaftlichen Verhältnisse wider und zeigt, dass es in polarisierten Gesellschaften für Marken keine unpolitischen Räume gibt.

Was die Debatte über Vielfalt in der Werbung über unsere Gesellschaft verrät

Premium

Diese Inhalte sind für Premium-Mitglieder inklusive

Der Zugang zu diesem Artikel und zu vielen weiteren exklusiven Reportagen, ausführlichen Hintergrundberichten und E-Learning-Angeboten von ausgewählten Herausgebern ist Teil der Premium-Mitgliedschaft.

Premium freischalten

HORIZONT Online

Die aktuellsten News aus Marketing, Medien, Werbung und der Digital Economy.

Artikelsammlung ansehen