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Was hat unser Selbstwert mit unserem inneren Kind zu tun?

Eine ganze Menge!

Unser inneres Kind gehört als psychischer Anteil zu uns und fungiert wie eine Brille, durch die wir die Wirklichkeit wahrnehmen. Wenn ich durch die „Ich genüge nicht“-Brille auf die Welt schaue, kann ich schnell ein freundliches Lächeln eines Kollegen als „dummes Grinsen“ falsch interpretieren und diese Person als selbstwertbedrohlich wahrnehmen. Wie wir unseren Blick schärfen und an innerer Stärke gewinnen können.

Als Alexa das erste Mal zu mir in die Praxis kommt, fällt mir sofort ihre positive Ausstrahlung auf. Die 43-Jährige versteht es, ihr Gegenüber mit ihrem Lächeln und ihrem offenen Blick für sich einzunehmen. Alexa arbeitet seit vielen Jahren erfolgreich als selbstständige Ökotrophologin und Ernährungsberaterin, erfreut sich an einen großen Freundeskreis, hadert aber damit, keinen Partner zu finden. „Sobald ich mich wirklich verliebe, bekomme ich große, irrationale Verlustangst. Meine Gedanken kreisen dann ständig um die Angst, den Betreffenden nicht für mich zu gewinnen oder wieder zu verlieren, was mich daran hindert, mich wirklich zu öffnen.“

Unsere Grundbedürfnisse nach Bindung und Autonomie sind unzertrennlich mit unserem Selbstwert verwoben. Wenn wir uns minderwertig fühlen, rechnen wir im Hinblick auf unser Bindungsbedürfnis mit Ablehnung und bezüglich unseres Autonomiewunsches mit einer Niederlage. Im umgekehrten Fall gibt mir ein guter Selbstwert das Gefühl, bindungswürdig und gleichzeitig stark und wehrhaft zu sein.

Wie ich an dieser Stelle Alexa gegenüber immer wieder betone, gibt es so gut wie keinen Zusammenhang zwischen unserem subjektiv empfundenen Selbstwert und unseren objektiven Fähigkeiten. Unser Selbstwerterleben wird wesentlich durch die Qualität unserer Elternbeziehungen bestimmt und ist somit hochgradig willkürlich. Das ist umso gemeiner, als unser Selbstwert einen erheblichen Einfluss auf unsere Lebensgestaltung und somit auch unsere Lebensqualität hat. Schließlich ist der Selbstwert die Quintessenz unserer mentalen Landkarte beziehungsweise unseres inneren Kindes.

Im Kern bestimmt der Selbstwert unser Lebensgefühl: Genüge ich? Oder genüge ich nicht? Bin ich okay? Oder nicht okay? Bin ich etwas wert? Oder nichts wert? Aufgrund solch einfacher Glaubenssätze schätze ich ab, was ich von anderen Menschen erwarte. Wenn Alexa jemand Neues kennenlernt, tauchen bei ihr ganz schnell die Gedanken auf, wie sie sich verhalten soll, damit derjenige sie mag. Denn sie erwartet nicht, dass man sie einfach mögen könnte, so wie sie ist.

Drei Wege zu mehr Ich-Stärke

„Die meisten Schatten in unserem Leben rühren daher, dass wir uns selbst in der Sonne stehen“, schrieb der amerikanische Naturphilosoph Ralph Waldo Emerson und hatte recht mit diesem Gedanken. Und zwar sind es unsere negativen Glaubenssätze, die uns die Sonne nehmen.

Glaubenssätze sind eine tiefe und unbewusste Überzeugung über sich selbst, das Miteinander und die Welt. Die meisten entstehen in den ersten Lebensjahren, sie spuren sich tief in unser Gehirn ein und bleiben meist unbewusst. Die meisten Menschen tragen sowohl positive als auch negative Glaubessätze in sich, wir sprechen auch vom Sonnen- und Schattenkind. Wie: „Ich bin gut“, „Ich schaff das schon“. Oder eben negative wie zum Beispiel: „Ich bin nichs wert“, „Das kann ich gar nicht schaffen“.

Eigentlich also eine ausgewogene Sache. Problematisch wird es, wenn wir die Welt zu häufig durch die Augen unseres Schattenkindes sehen, wodurch die Unterlegenheitsgefühle überhandnehmen. Dann nämlich haben wir eine Wahrnehmungsverzerrung mit oft fatalen psychischen Folgen. Schließlich ist der Selbstwert das Epizentrum unserer Psyche.

Die Liste der Psychologen, die das Selbstwertgefühl als den Dreh- und Angelpunkt unseres psychischen Geschehens ansehen, ist unendlich lang. Der erste war Alfred Adler (1870–1937), ein österreichischer Arzt und Psychotherapeut, der die Überwindung des menschlichen Unterlegenheitsgefühls als die wichtigste Motivationsquelle ansah, im Berufs- wie auch im Privatleben.

Und diese Überwindung kann jedem von uns gelingen. Zunächst sollten wir uns gedanklich und emotional auf unsere Kindheit einschwingen und reflektieren, wie wir unsere Eltern als Kind erlebt haben. Dabei geht es nicht darum, unsere Eltern die Schuld an unseren heutigen Problemen zu geben, sondern allein darum, zu verstehen, was uns geprägt hat.

Alexa etwa war sich als Kind und Teenager oft unsicher, wie ihre Mutter zu ihr steht, und hat das Verhältnis als schwierig empfunden: „Meine Mutter war sehr bewertend, es gab immer Wettbewerb und Vergleiche, immer nur Aufwertung oder Abwertung. Ich war generell irgendwie falsch. Wenn ich heute eine neue Bindung eingehe, taucht automatisch die Angst auf, wieder so bewertet zu werden. Da brauche ich wahnsinnig viel positives Feedback und Bestätigung.“

Beim Finden unserer negativen Glaubenssätze müssen wir zudem tief in uns hineinspüren, um unguter Gefühle gewahr zu werden, die uns vielleicht schon ein Leben lang begleiten. Die Glaubenssätze an sich würden nämlich wenig ausrichten, wenn sie nicht mit belastenden Gefühlen verbunden wären. Wenn ich denke „Ich genüge nicht“, dann hat dieser Gedanke nur insofern Kraft, als er mit einem Gefühl von Minderwertigkeit und Unterlegenheit einhergeht. Gefühle von Angst, Scham, Trauer oder Hilflosigkeit können sich einstellen.

Es ist wichtig, dass wir die Gefühle identifizieren, die zu unserem Schattenkind gehören, damit wir uns in Zukunft schnell dabei ertappen können, wenn wir im Schattenkind-Modus gefangen sind. Dieses bewusste Ertappen ist nämlich die Voraussetzung, um schnell und effektiv gegenregulieren zu können. Und der dritte Schritt zu mehr Ich-Stärke lautet: Entdecke dein Sonnenkind.

Ich entscheide mich für meinen Selbstwert

Dem Schattenkind gegenüber steht nämlich das Sonnenkind, mit all seinen positiven Kindheitsprägungen als auch mit all den Möglichkeiten, über die wir als Erwachsene verfügen, um unser Leben glücklich und erfolgreich gestalten zu können. Und eben mit all seinen positiven Glaubenssätzen, die uns sagen, dass wir okay sind, dass wir sogar wertvoll sind und wichtig.

Wenn wir aber neue Wege gehen und uns von unseren alten Mustern befreien wollen, benötigen wir etwas, das wir an die Stelle des Alten setzen können. Deshalb sollten wir an dieser Stelle Glaubenssätze finden, die unsere Stärken unterstützen. Am besten wir kehren unsere Kernglaubenssätze einfach um und machen aus „Ich bin wertlos“ oder „Ich genüge nicht“ „Ich bin wertvoll“ oder „Ich genüge“.

Die Umkehrung macht es unserem Gehirn einfacher, neue Glaubenssätze abzuspeichern und in unserem Unterbewusstsein als abrufbare Erfahrungswerte zu lagern. Dafür ist es wichtig, dass wir uns unserer Stärken und Ressourcen, wie Humor, Mut oder soziale Kompetenz, bewusst werden und uns auch für sie entscheiden.

Manchmal machen wir uns nämlich auch der Harmonie zuliebe klein und richten uns im Unterlegenheitsgefühl ein, um Zugehörigkeit zu erfahren. So ist Alexa im Verlauf unserer Gespräche klar geworden, dass sie sich vor allem in ihrem Freundeskreis oft zurücknimmt. „Wenn ich im Sonnenkind-Gefühl bin und einfach selbstbewusst agiere, dann bekomme ich von einigen Personen aus meinem Privatleben schnell einen Schuss vor den Bug. Das verletzt mich sehr. Geschäftlich habe ich da ein dickes Fell. Aber privat bin ich leicht kränkbar und verletzlich. Da begebe ich mich ganz oft, beinahe ständig, in das Schattenkind-Gefühl. Wenn ich so bin, erfahre ich von allen Freunden Zuwendung.“

Bei unserer letzten Sitzung erzählt mir Alexa, dass sie überlege, einige Freundschaften zu beenden. Denn sie frage sich, ob es nicht sinnvoller sei, nach neuen Freunden zu suchen, die mit ihren Stärken entspannt umgehen und ihr Bindungssicherheit vermitteln können? Wir sehen einander an, ich nicke ihr lächelnd zu und denke, Alexa, du bist auf dem richtigen Weg.

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Stefanie Stahl schreibt über Gesundheit & Soziales, Job & Karriere

Stefanie Stahl ist Deutschlands bekannteste Psychotherapeutin. Ihr Ratgeber „Das Kind in dir muss Heimat finden“ steht seit 2016 auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste. Stahl ist eine gefragte Keynote Speakerin. Sie gilt als DIE Expertin, wenn es um Liebe, Bindungsangst und Selbstwertgefühl geht.

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