Nicole Simon

Was können wir im 21. Jahrhundert von Goethe lernen?

Interview mit dem Kunsthistoriker Christian Hecht

Herr Hecht, Sie sind Autor des Buches „Goethes Haus am Weimarer Frauenplan“. Was hat Sie veranlasst, sich mit einem der wichtigsten Baudenkmale Europas intensiv zu befassen?

Das Goethehaus gehört zu meinen Kindheitserinnerungen. Meine Eltern sind kurz nach dem 13. August 1961, nach dem Bau der Berliner Mauer, nach Weimar gezogen. Mein Vater – Germanist und Kunsthistoriker – hatte aus persönlichen Gründen lange gezögert, eine Anstellung in der Bundesrepublik anzunehmen, und ließ sich der bereits geplante Umzug nach Frankfurt am Main nicht mehr verwirklichen. Gleichzeitig blieb ihm in der „Deutschen Demokratischen Republik“ eine universitäre Laufbahn aus politischen Gründen versagt, nachdem er in Publikationen der „Sozialistischen Einheitspartei Deutschlandes, der damaligen Staatspartei, namentlich angegriffen worden war. Immerhin erlangte er in Weimar eine kleine Stelle an den „Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur“, der Vorgängereinrichtung der heutigen „Klassik Stiftung“.

Obwohl er der höchstqualifizierte und renommierteste Wissenschaftler war, der an dieser Einrichtung jemals tätig war, arbeitete er immer in untergeordneten Positionen, da er sich nie bereitfand, der SED beizutreten. Natürlich verdanke ich ihm viele, bis heute lebendige Eindrücke von „Goethes Haus“. Leider ist er schon lange nicht mehr am Leben, denn er starb bereits 1984 und erreichte nicht einmal das sechzigste Lebensjahr. Zuletzt war er verantwortlich für die Kunstsammlungen Goethes, die natürlich für das Goethehaus eine zentrale Rolle spielen. Ich habe also schon lange eine starke biographische Beziehung zu diesem Haus, und diese Beziehung verbindet sich mit meinem wissenschaftlichen Interesse.

Können Sie dies etwas genauer ausführen?

Ich durfte unter den Bedingungen der DDR mein Wunschfach Kunstgeschichte nicht studieren, weshalb ich – was mir allerdings außerordentlich gutgetan hat – katholische Theologie studiert habe, da dieses Studium nicht unter staatlicher Kontrolle stand. Erst nach dem Untergang der DDR konnte ich an der Universität Passau im Fach Kunstgeschichte promoviert werden, später habe ich mich an der Universität Erlangen für Mittlere und Neuere Kunstgeschichte habilitiert. In meinen kunstgeschichtlichen Arbeiten geht es oft um die Einheit von inhaltlichen und gestalterischen Aspekten. Diese Einheit ist auch für Goethes Haus von zentraler Bedeutung. Goethes Bildprogramme lagen mir also schon lange am Herzen, und ich habe oft mit Gedanken gespielt, sie genauer zu untersuchen. Es bedurfte aber der Anregung durch den Vorsitzenden des Freundeskreises des Goethe-Nationalmuseums, um diesen Gedanken in die Tat umzusetzen.

Inwiefern ist dieses Haus für Sie der Kontext zum Werk des Dichters?

Ich würde sogar noch schärfer formulieren, als ich es in der Einleitung meines Buches getan habe: die Umgestaltung des Hauses am Frauenplan ist ein künstlerisches Werk Goethes und gehört als solches zum Kontext seiner literarischen Werke. Und das zeigt sich sehr konkret, wenn man die von Goethe gewünschten Bildprogramme der Repräsentationsräume anschaut. Hier erscheinen Themen, die Goethe immer wieder behandelt hat. Beispielsweise geht es im größten Raum, dem Junozimmer, das allerdings erst spät diesen Namen erhielt, um die Bändigung der Naturgewalten, die durch die Naturgottheit Pan verbildlicht werden. Goethe macht sich dabei ein altes lateinisch-griechisches Wortspiel zunutze: „omnia vincit amor“ – „alles besiegt die Liebe“, denn „Pan“ bedeutet auf Griechisch „alles“. Man wird für jedes Bildwerk und für jedes Architekturmotiv Entsprechungen in Goethes Schriften finden. Doch man kann noch grundsätzlicher auf den Bezug zur Antike verweisen und natürlich auf Goethes Italienerfahrung. Schon die zeitgenössischen Besucher haben daher die Räume des Goetheschen Hauses speziell mit Goethes italienischer Reise in Verbindung gebracht. Das ist zweifellos richtig.

Weshalb fanden die Bildprogramme und Goethes Projekt einer neuen Hausfassade bislang so wenig Aufmerksamkeit?

Goethes Bildprogramme erschließen sich nicht auf den ersten Blick, und die meisten zeitgenössischen Besucher hatten offensichtlich nicht die Möglichkeit, sich in aller Ruhe mit den Bildwerken zu befassen, die sie im Haus am Frauenplan sahen. Das gilt selbst für eine hochgebildete Malerin wie Louise Seidler, die die wenig bekannte Büste des Achill bzw. des „Ares Borghese“ für eine Darstellung der Minerva hielt. Hätte sie bei ihrem Besuch mehr Zeit gehabt, wäre ihr das sicher nicht passiert. Sie konnte aber bei der Niederschrift ihrer Erinnerungen auch nicht auf entsprechende Abbildungen zurückgreifen, denn erst nach der Einrichtung des Goethenationalmuseums, also erst nach 1885 wurden Innenaufnahmen des Goethehauses publiziert.

Sind noch weitere Aspekte zu bedenken?

Goethes Bildprogramme verlangen zu ihrem Verständnis nicht nur eine gewisse Vertrautheit mit antiker Kunst, sondern sie setzen voraus, „daß man dabei was denken sollt´“. Goethe gestaltete dabei seine Bildprogramme auf eine Weise, die man heute eher mit den Epochen von Renaissance und Barock verbindet. Das hat man im Falle Goethes einfach nicht vermutet – und deshalb übersehen. Offensichtlich hat selbst die bedeutende Kunsthistorikerin Marie Schuette, die vor über hundert Jahren den ersten wissenschaftlichen Führer durch das Goethehaus schrieb, nicht nach einem „geistigen Band“ gesucht, das die Bildwerke des Goetheschen Hauses zusammenhält, denn natürlich hat auch sie Goethe nicht in der Tradition des Barock gesehen. Doch das ist noch nicht alles:

Wichtige Bestandteile der Bildprogramme sind Werke Heinrich Meyers. Bis heute hat dieser langjährige Freund Goethes eine „schlechte Presse“. Wer sich nicht traut, etwas gegen Goethe zu sagen, kann mit Leichtigkeit den Künstler Heinrich Meyer kritisieren. Er ist selbstverständlich keine epochale Gestalt, wie der von ihm bewunderte Raffael, aber er hat sich auch nicht als eine solche gesehen. Auch Goethe tat das nicht. Trotzdem waren die künstlerischen Fähigkeiten des „Klassizisten“ Meyer keineswegs geringer als etwa diejenigen des „Romantikers“ Philipp Otto Runges. Meyer gehörte jedoch einer künstlerischen Richtung an, die um 1800 eigentlich veraltet gewesen wäre, wie jedenfalls die spätere Kunstgeschichtsschreibung meinte. Er hat jedoch noch in anderer Hinsicht, sagen wir, Pech gehabt. Sein Deckenbild des Treppenhauses und ebenso die Wandbilder, die er für das Juno- und das Urbinozimmer malte, wurden leider durch den amerikanischen Bombenangriff vom 9. Februar 1945 beschädigt bzw. zerstört und bei der späteren Restaurierung des Hauses durch unzureichende Repliken ersetzt oder entstellend übermalte. Das ist der schwerste Schaden, den das Goethehaus im Laufe seiner Geschichte erlitten hat. Immerhin sind historische Farbaufnahmen erhalten, die den Zustand vor 1945 dokumentieren.

Man sieht, schon die objektiven Voraussetzungen waren für die Würdigung der Goetheschen Bildprogramme nicht günstig ...

Noch ungünstiger waren aber wohl inhaltliche Aspekte: Die Bildprogramme, die ja in der Epoche der französischen Revolution entstanden, besitzen eine ausgesprochen antirevolutionäre Komponente und zeigen Goethe eindeutig als Freund „seines“ Herzogs Carl August. Wer Goethe also in den üblichen Fortschrittskategorien deuten will, kann hier Probleme mit dem „Fürstenknecht“ bekommen. Daher wäre es also in der DDR-Zeit, selbst wenn man die Bildprogramme überhaupt also solche erkannt hätte, kaum möglich gewesen, sie angemessen zu publizieren. Und wie ich aus einigen aktuellen Reaktionen auf mein Buch weiß, wirken diese zentralen antirevolutionären Inhalte auf einige Menschen bis heute durchaus verstörend.

Warum wurde Goethes Architektursprache nicht verstanden?

In den wenigen Publikationen, in denen der Entwurf überhaupt erwähnt wurde, galt er als Arbeit eines wenig fähigen Weimarer Baumeisters, dem man eine inhaltlich bedeutende Architektur von vornherein nicht zutraute. Deshalb wurde die entscheidende Besonderheit übersehen: Hier wird eine an der Antike orientierte Architektursprache verwendet, aber Goethe verzichtet auf Säulen, die bis dahin nicht nur das entscheidende Zeichen für die Orientierung an der Antike waren, sondern die ganz grundsätzlich die architektonischen Proportionssysteme bestimmten. An Goethes Haus – einem Privathaus, keinem Herrschaftsbau – wären Säulen nur Applikationen gewesen, die sich außerdem nur mühsam hätten anbringen lassen.

Was ist für Sie das Besondere an Goethes Treppenhaus?

Goethe hat sein Treppenhaus ausgesprochen großzügig angelegt. Es spiegelt seine Italienerfahrung wider. Aber das ist nicht alles: Die Bildwerke des Treppenhauses fügen sich zu einem Herrscherprogramm, das auf Herzog Carl August bezogen ist. Das Treppenhaus dokumentiert also sowohl in künstlerischer als auch in inhaltlicher Hinsicht den – alle üblichen Kategorien sprengenden – Konservatismus Goethes. Zentrum ist die Kopie eines antiken Reliefs, das Goethe mit großem Aufwand hatte anfertigen lassen und das den Ehrenthron Jupiters zeigt. Und wie es schon im traditionellen barocken Herrscherlob üblich war, wird Carl August als bewährt in Krieg und Frieden gezeigt, das symbolisieren auf traditionelle Weise die Büsten von Apoll und Achill. Selbst die Iris, die antike Verbildlichung der Regenbogens, die Heinrich Meyers Deckenbild zeigt, ist nur in zweiter Linie auf Goethes Farbenlehre zu beziehen, denn zuallererst verkündet Iris den Frieden, der nach dem Sieg eines Herrscher über Aufrührer anbricht. Vorbild ist der Sieg Jupiters über die rebellischen Giganten.

Weil Goethe tatsächlich seinen Herzog Carl August gern mit dem Göttervater Jupiter verglich und ihn dementsprechend über viele Jahre in seinem Tagebuch mit dem astrologischen Kürzel „Jupiter“ bezeichnete, darf man das Jupiterprogramm des Treppenhauses ohne Zweifel auf Carl August beziehen. Selbstverständlich wird auch im Treppenhaus die Goethesche Abneigung gegen die französische Revolution spürbar. Sie war und blieb für ihn das „schrecklichste aller Ereignisse“, wie er in seinem Aufsatz Bedeutende Förderniß durch ein einziges geistreiches Wort schrieb.

Sie arbeiten im Stadtmuseum Weimar. Welche Aufgaben haben Sie hier, und welche Rolle spielt Goethe in Ihrer täglichen Arbeit?

Das Stadtmuseum Weimar befindet sich im Wohn- und Geschäftshaus Friedrich Justin Bertuchs, der in erster Linie der bedeutendste Geschäftsmann des klassischen Weimar war, der aber auch als Literat hervorgetreten ist. Das Museum will einen Gesamtüberblick zur Geschichte Weimars bieten, setzt aber verschiedene Schwerpunkte, von denen ich beispielsweise die Weimarer Nationalversammlung von 1919 nenne. Hinzu kommen zahlreiche Sonderausstellung, denn die Vielfalt der Stadt kann in einer Dauerausstellung nicht hinreichend abgebildet werden. Der Schwerpunkt meiner Tätigkeit liegt in der Betreuung und weiteren Inventarisierung der ausgesprochen umfangreichen und vielgestaltigen Sammlungen. Im Moment bereite ich gerade eine Sonderausstellung zu einem Maler der Weimarer Malerschule vor und bin an der grundlegenden Neukonzeption des Hauses beteiligt.

Goethe ist im Stadtmuseum auf eine gerade unheimliche Weise präsent, nicht nur weil seine Frau Christiane Vulpius einige Zeit für Bertuch Kunstblumen hergestellt hat, sondern weil Goethe die Stadt Weimar ganz entscheidend geprägt hat. Schon wer zu Goethes Lebzeiten am gesellschaftlichen Leben der Stadt teilnehmen wollte, konnte das nicht, ohne sich irgendwie zu Goethe zu verhalten. Und das war später nicht anders, denn den wesentlichen Leistungen der Weimarer Kultur wird man nur gerecht, wenn man sie als Reaktion auf Goethe versteht.

Was können wir im 21. Jahrhundert von Goethe lernen?

Das ist eine sehr große Frage, auf die es eine Vielzahl von Antworten gibt. An dieser Stelle möchte ich nur seine Bevorzugung evolutionärer Prozesse nennen, der seine Ablehnung revolutionärer Zerstörung entspricht, resultierend aus seinem realistischen Blick auf die Wirklichkeit. Wenn ich an dieser Stelle eher zurückhaltend bin, dann deshalb, weil es mir nicht leicht scheint, Goethe „eins zu eins“ für aktuelle Probleme in Anspruch zu nehmen. Es besteht dabei wohl immer die Gefahr, ihn für die jeweils eigene Auffassung in Anspruch zu nehmen – was natürlich, das darf man nicht vergessen, nur darum geschieht, weil Goethe für viele immer noch bedeutsam ist.

Lassen Sie mich abschließend einen anderen Aspekt betonen: Man kann von Goethe lernen, sich treffend auszudrücken. Natürlich verwendet er das eine oder andere heute ungebräuchliche Wort, aber man kann ihn immer noch problemlos verstehen. Vor allem aber hat er eine unübertroffene Art, seine Themen zu entwickeln. Er verliert nie den roten Faden, weshalb es auch so leichtfällt, seine Gedichte auswendig zu lernen.

Zur Person:

Christian Hecht stammt aus Weimar. Nachdem er aus politischen Gründen in der damaligen DDR nicht zum Kunstgeschichtsstudium zugelassen wurde, studierte er Katholische Theologie am Philosophisch-Theologischen Studium in Erfurt. 1995 wurde er an der Universität Passau im Fach Kunstgeschichte promoviert. 2002 habilitierte er sich an der Universität Erlangen-Nürnberg, wo er bis heute außerplanmäßiger Professor ist. Außerdem ist er seit 2014 externer beratender Professor an der Yunnan Arts University in Kunming. Er arbeitet am Stadtmuseum Weimar im Bertuchhaus und ist Autor des Buches "Goethes Haus am Weimarer Frauenplan" (Hirmer Verlag , München 2020).

Ich danke der Fotokünstlerin Nicole Simon für die kostenlose Verwendung ihres Fotos, das Teil des internationalen Goethe-Projekts mit dem Klotz Verlagshaus ist.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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