Was wirklich hilft, die Arbeitslast zu senken
Unternehmen bieten inzwischen einiges, damit ihre Belegschaft gesund bleibt. Aber was tun sie eigentlich, wenn das nicht reicht – und immer mehr Mitarbeiter über zu viel Arbeit klagen?
Es ist eine niederschmetternde Nachricht für Christopher Nigischer an jenem trüben Aprilmorgen im Führungskräftemeeting seiner Beratung Consider It: Ausgerechnet einer seiner wichtigsten Mitarbeiter hat am Morgen die Kündigung eingereicht. Einer, den viele für sein breit gefächertes Wissen schätzten. Einer, der anpackte. Einer also, mit dem Projekte standen oder fielen. Vor allem eine Sache geht Nigischer lange durch den Kopf. Vielleicht, weil er ahnt, dass er sie noch häufiger hören wird – nun, da eine der wichtigsten Stützen wegbricht: Begründet hatte der Kollege seine Kündigung mit der hohen Arbeitsbelastung.
Immer mehr Angestellte klagen hierzulande über eine steigende Arbeitslast. In einer Befragung der Unternehmensberatung EY sagten im vergangenen Jahr zwei Drittel der Beschäftigten, dass diese in den vergangenen fünf Jahren zugenommen hat. Nur sieben Prozent verspüren weniger Stress. Frauen erleben eine etwas größere Belastung als Männer, am häufigsten geben 36- bis 50-Jährige an, dass der Druck im Arbeitsalltag stark gestiegen ist.
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Prios immer wieder neu setzen
Dass Stress krank macht, zunächst die Motivation und dann die Produktivität drückt, bezweifelt niemand. Auch deshalb bemühen sich Arbeitgeber um Angebote, die einen Ausgleich schaffen und einer Überlastung vorbeugen: Sie empfehlen Mental-Health-Apps, organisieren Yogakurse, bezuschussen Rückengymnastik. Und doch steigen die Krankenstände – laut aktuellem AOK-Fehlzeitenreport wurde gerade ein neuer Rekordwert erreicht. Viele Chefs nehmen die Signale erst ernst, wenn es zu spät ist. Wenn jemand einfach hinwirft, zum Beispiel. Wie bei Consider It. Und damit stellt sich für Führungskräfte die Frage, ob es nicht besser geht: Wie sollen sie reagieren, wenn Atemtraining nicht mehr reicht– und immer mehr im Team darüber klagen, dass sie ihre Aufgaben nicht mehr stemmen können?
Nigischer hat nach der Kündigung einiges im Unternehmen geändert: Es gibt jetzt einen monatlichen Bericht zu Überstunden und Resturlaub, den Führungskräfte mit in den Jour fixe mit ihren Teams nehmen, 40 Überstunden gelten als kritisch. Die Teams priorisieren Aufgaben laufend neu, um die Belastung besser zu steuern. Nigischer hat drei Leute eingestellt, um die Arbeit besser zu verteilen.
Die Möglichkeit, mehr Leute einzustellen und die Arbeit so auf mehr Schultern zu verteilen, haben Führungskräfte in der mittleren Ebene selten. Jutta Rump, die zu Personalmanagement und Organisationsentwicklung an der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen forscht, hält dies ohnehin nicht für den richtigen Weg. Für sie ist Arbeitsbelastung vor allem eine Frage der Wahrnehmung – und damit auch der Firmenkultur sowie der Einstellung jedes Einzelnen.
Signale richtig deuten
Rump ist nicht nur Wissenschaftlerin, sondern selbst Chefin eines 16-köpfigen Teams. „Wenn ich schon das Wort Kapazitätsplanung höre, dreht sich mir der Magen um“, sagt sie. Dabei, so erzählt sie, falle es mindestens einmal im Monat bei ihren Teambesprechungen. „Ich geh als Chefin immer mit dem Gedanken rein: Guckt mal, was für tolle Projekte wir haben, und da ist noch diese Ausschreibung, und hier ist ein Auftrag reingekommen.
Und dann holt mich mein Team schnell auf den Boden der Tatsachen zurück.“ Als Organisationsexpertin weiß Rump, wie wichtig es ist, dass ihre Kolleginnen und Kollegen die Belastung ansprechen. „Das ist in den meisten Unternehmen alles andere als selbstverständlich. Die meisten reden erst, wenn es zu spät ist“, sagt sie. Nämlich dann, wenn wie bei Nigischer schon die Kündigung auf dem Tisch liegt. „In der Rückschau wirkte alles so klar“, erinnert sich der Manager. „Der Kollege hatte immer mehr Überstunden aufgebaut, es hatten sich Flüchtigkeitsfehler eingeschlichen – und es hatte emotionale Ausbrüche gegeben, was total untypisch für ihn war.“ Doch im Arbeitsalltag waren all diese Dinge immer schnell wieder vergessen.
Dass Führungskräfte aufmerksam für die ersten Anzeichen sind, sei wichtig, betont Rump. Doch selbst ansprechen würde sie die Arbeitsbelastung eher nicht. „Wenn ich das ohne Anlass mache, öffne ich damit Tür und Tor dafür, dass auch weniger Leistung genug wäre“, betont sie. Wenn Führungskräfte ständig von Überlastung sprechen, setzen sie damit einen Ton – und die Belegschaft nimmt das Pensum als eines wahr, das kaum zu schaffen ist. Auf lange Sicht sinkt dann die Leistung. Per se ist Arbeitsbelastung ohnehin nichts Negatives. Ganz im Gegenteil: Wer sich richtig reinhängt, Spaß am Job hat und erfolgreich aus intensiven Phasen geht, erfährt Selbstwirksamkeit. Und das ist ein enorm wichtiger Faktor für die Motivation. Es gilt also für Führungskräfte, eine Balance zu finden: Sie müssen das Team fordern, ohne es zu überfordern.
„Chefs“, sagt Rump, „sind eher erfolgsgetrieben, jagen immer dem nächsten Hoch hinterher und denken: Das schaffen wir doch noch. Für das Team ist die Arbeit aber nicht immer die persönliche Prio Nummer eins, auch wenn es sehr engagiert ist.“ Führungskräfte müssen das berücksichtigen. Und sich dazu auch mal in die Lage von Kollegen hineinzuversetzen: Vor ein paar Monaten wollte Rump einen spontanen Auftrag annehmen, aber das Team signalisierte ihr: nicht zu schaffen. Also ist sie selbst eingesprungen. „Und da habe ich gemerkt: Mein Team hatte recht. Ich bin ganz schön ins Wanken geraten mit dem Workload.“
Sich ins Team hineinzuversetzen, bedeutet auch anzuerkennen: Nicht nur die Arbeit kann belasten. Sondern auch private Sorgen. Menschen schalten nicht in dem Moment, in dem sie sich an den Schreibtisch setzen, in den Arbeitsmodus – und blenden alles andere aus. Wem der Ausgleich im Sportverein oder beim Kochen mit der Familie fehlt, wer gar um einen kranken Freund bangt, der empfindet all die Unwägbarkeiten im Arbeitsalltag eher als eine Belastung – selbst wenn sie die gleichen sind wie beim Kollegen im Büro nebenan.
Privates ist nicht nur Privat
Beim Versicherungskonzern Axa haben sie dies verstanden. Und deshalb nicht nur die Arbeitsbelastung im Blick, **sondern auch die Belastung nach Feierabend.**Seit fast zehn Jahren helfen externe Berater, Psychologen und Juristen bei Sorgen, erklären, was es zu beachten gilt, wenn die eigene Mutter ins Pflegeheim muss, helfen bei der Suche nach einem Kita-Platz. Wer vom Betriebsarzt eine Psychotherapie verschrieben bekommt, dem vermittelt das Unternehmen zügig Therapeutengespräche, die eine Brücke bilden, bis man selbst einen Platz gefunden hat, was mitunter Monate dauert. „Wir wollen, dass unsere Mitarbeiter sich voll und ganz auf ihren Job konzentrieren können und nehmen ihnen deshalb Sorgen aus dem Privaten ab“, sagt Sirka Laudon, Personalvorständin bei der Axa Deutschland.
Bei Consider It notieren nun alle 54 Mitarbeiter der Beratung fünf Dinge, die sie im Leben unbedingt erreichen wollen – und stellen sie im Kollegenkreis vor. „Wir wollen versuchen, die persönlichen Ziele unserer Mitarbeiter mit den Unternehmenszielen in Einklang zu bringen“, sagt Nigischer. „Damit erhöhen wir die Motivation und senken die empfundene Arbeitslast.“ Eine Mitarbeiterin will etwa so viel wie möglich von der Welt sehen: Vor einigen Monaten hat sie sich einen Campervan zugelegt und ausgebaut. Drei Monate lang kann sie nun auch darin arbeiten. Von unterwegs.
Jeder und jede Einzelne, das zeigt dieses Beispiel, ist auch für sich selbst verantwortlich. Dafür, die eigenen Akkus immer wieder rechtzeitig aufzuladen. Und dafür, dass sie nicht zu schnell leer sind. Doch diese Verantwortung können Menschen nur dort übernehmen, wo es den Freiraum dazu gibt. „Wenn sich Menschen sicher in ihrem Tun und in ihrem Team fühlen, schlägt Belastung auch nicht so schnell ins Negative um“, betont Axa-Managerin Laudon.
Mit solch einer Kultur, ebenso wie mit all den Angeboten zur mentalen Gesundheit, müssen Unternehmen es ernst meinen. Das mag banal klingen, ist aber in vielen Unternehmen alles andere als selbstverständlich. „Viele bekämpfen nur die Symptome“, sagt Ulf Marhenke. „Wie ein Pflaster auf einer blutenden Wunde.“ Ein Vortrag zu Atemtechnik in der Mittagspause aber „wird als Lippenbekenntnis für einen Kulturwandel durchschaut und bringt nichts.“ Marhenke weiß, wovon er spricht: Fast acht Jahre arbeitete er in einer Großkanzlei. 60 Wochenstunden waren die Regel. Bis zu jenem Tag vor zweieinhalb Jahren, der alles veränderte: Marhenke hat gerade einen Videocall mit seinen Kollegen beendet, wenig später liegt er in seinem Arbeitszimmer auf dem Boden – und weint. Als seine Frau ihn findet, bringt er nur vier Worte über die Lippen: „Ich kann nicht mehr.“
Seiner damaligen Kanzlei will Marhenke nicht die Schuld an seinem Burn-out geben, der Branche zumindest zum Teil. „In Kanzleien kommt es am Ende immer darauf an, wie viele Arbeitsstunden sie ihren Mandanten in Rechnung stellen können“, sagt er. Das allein dürfe kein Gradmesser für die individuelle Belastung sein. „Es gibt Menschen, für die sind 140 abrechenbare Stunden im Monat herausfordernd, andere kommen mit 200 klar.“ Diese unterschiedliche Wahrnehmung müsse erlaubt sein. „Nur wenn ich offen sagen kann, dass ich an der Belastungsgrenze bin und keinen Gesichtsverlust fürchten muss, ist das ein gesundes Arbeitsklima“, betont Marhenke. Mit seinem Unternehmen Trustwork Consulting hilft er heute Kanzleien, ein gesünderes Mindset zu etablieren. Einfach ist das nicht.
Auch in anderen Branchen wie etwa der Unternehmensberatung gehört eine hohe Arbeitsbelastung nach wie vor zum Geschäftsmodell. Neue Ansätze, wie bei Consider It, sind eher die Ausnahme. Nigischer hat sich Zeit genommen für seinen Kollegen, der die Kündigung bereits eingereicht hat. Und er hat Lösungen gefunden, um den Druck rauszunehmen. Der Kollege hat einen Dienstwagen bekommen und darf Calls aus dem Auto machen, damit die Pendelzeit erträglicher wird und nicht von seiner Freizeit abgeht. Letztlich hat der Mann seine Kündigung zurückgezogen – und ist geblieben. „Das zeigt für mich: Wir haben als Chefs und Belegschaft wirklich unsere Lektion gelernt“, sagt Nigischer.
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