WEF-Gründer Klaus Schwab: «Die Welt wird danach eine andere sein»
Von Biden bis Xi: Klaus Schwab trifft sie alle. Der WEF-Patron über die Zeitenwende – und die Unabhängigkeit von Davos.
Ein Herbstmorgen am Sitz des World Economic Forum in Cologny vor den Toren Genfs. Der Chairman ist gerade von einer zweiwöchigen Asienreise zurückgekehrt, er war am G-20-Gipfel in Bali dabei und hat dort auch die Präsidenten Biden und Xi getroffen. Sein Informationsfluss ist einzigartig – und das macht seine geopolitische Einschätzung am Ende des Schreckensjahres 2022 umso gewichtiger.
Dirk Ruschmann (DR): Sie haben viele Umwälzungen verfolgt. Haben Sie jemals eine derartige Parallelität an grossen Krisen erlebt wie in diesem Jahr?
Klaus Schwab (KS): Es ist zum ersten Mal eine Multikrise, bei der wir politische, soziale, wirtschaftliche und technologische Herausforderungen gleichzeitig erleben. Sie beeinflussen sich alle gegenseitig. Aber für mich ist es sogar mehr als eine Megakrise.
DR: Warum?
KS: Wir befinden uns in einer Transformation, politisch und wirtschaftlich. Sie wird etwa drei bis fünf Jahre dauern. Sie wird schmerzvoll sein, und die Welt wird danach eine andere sein. Es ist keine normale Rezession, nach der wir zum Status quo zurückkehren.
Sichern Sie sich jetzt das Digital-Abo für die Handelszeitung zum exklusiven Vorteilspreis!
DR: Was macht diese Transformation so aussergewöhnlich?
KS: Es kommen mehrere gravierende Faktoren zusammen. Der erste ist die Notwendigkeit der Energietransformation. Langfristig sehe ich grosse Chancen. Solar- und Windtechnologie sind billiger als die fossilen Brennstoffe. Aber kurzfristig bedeutet die Umstellung Investitionen und Abschreibungen. Dann sehen wir die Umgestaltung der Lieferketten. Unternehmen und Staaten setzen auf Resilienz statt auf Kostenoptimierung. Der dritte Faktor sind weiterhin Covid und die Folgekosten. Laut der Weltgesundheitsorganisation ist die Zahl der mentalen Erkrankungen weltweit um mehr als ein Drittel gestiegen. In den USA etwa sehen wir eine starke Verlangsamung der Produktivität. Das erklärt, warum dort trotz der drohenden Rezession der Arbeitsmarkt noch so gut läuft. Dann gibt es die steigenden Militärausgaben. Wenn etwa ein Land wie Deutschland sein Militärbudget von einem auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts hochfährt, kostet das 40 Milliarden Euro. Und es kommen die Adaptationskosten hinzu. Um uns gegen die Auswirkungen des Klimawandels zu schützen, könnten die Kosten dieser Umstrukturierungen laut Schätzungen je nach Land zwischen drei und fünf Prozent der Wirtschaftskraft liegen.
DR: Wie gefährlich ist diese Umwälzung?
KS: Wenn Sie eine Transformation in einem Unternehmen haben, schreiben Sie die Kosten ab, und die Leidtragenden sind die Aktionäre und oft leider auch entlassene Mitarbeiter. Wenn es sich aber um die Transformation einer Volkswirtschaft handelt, dann äussert sich das in einer Reduktion der Kaufkraft. Die Inflation ist die Fieberkurve dieser Transformation.
DR: Und das heisst: Die Spannungen steigen?
KS: Es folgen Verteilungskämpfe und eine Polarisierung im sozialen Bereich. Das sehen wir bereits. Dass die Transformation auch einen politischen Teil hat, verschärft die Lage.
DR: Die Komplexität steigt.
KS: Zweifellos. Wir bewegen uns von einer unipolaren Machtstruktur, der Dominanz der USA, zu einer multipolaren Struktur. Es gibt nicht nur die USA und China und in Zukunft Indien, wir sehen auch die zunehmende Bedeutung von Mittelmächten wie der Türkei oder Saudi-Arabien. Dann gibt es die regionalen Gruppierungen wie die EU, die in den letzten zwei Jahren zusammengewachsen ist. Wir sehen die «schnellen Fische», wie ich sie nenne, die die langsamen grossen attackieren: Israel, Singapur, auch die Schweiz könnte dazugehören. Auch die globalen Tech-Powerplayer wie Google oder Microsoft sind extrem mächtig. Kommt hinzu, dass das Regulierungssystem, das wir nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut haben, nicht mehr funktioniert. Wenn Russland als Mitglied des UN-Sicherheitsrats die UN-Charta bricht, zerfällt diese auf gemeinsamen Regeln aufgebaute Struktur. Macht wird zudem in dieser neuen Welt nicht mehr nur durch Hard Power ausgeübt, sondern zusätzlich über Sanktionen, Währungen, Handelshemmnisse oder Cyberattacken.
DR: Welche Rolle sehen Sie langfristig für die Autokraten? War 2022 der Höhepunkt ihrer Bedeutung – und gleichzeitig der Beginn ihres Abstiegs? Putin offenbart der Welt die Unfähigkeit seiner Armee, Xi hebelt zwar die Amtszeitbeschränkung aus, kämpft aber mit heftigen Protesten und schwachen Wirtschaftsdaten.
KS: Wir haben einen Wettkampf der Systeme. Der verbindende Wertekanon, auf den wir nach 1989 gesetzt haben, aufbauend auf neoliberalen Prinzipien, ist kollabiert. Das zukünftige System wird so aufgebaut sein, dass Vertrauen der entscheidende Faktor ist. Die Unternehmen suchen für ihre Lieferketten Partner, denen sie vertrauen können, und so wird es auch auf nationaler Basis sein. Ich nenne das «Blockisation statt Globalisation». Es entstehen Blöcke, die zusammenhalten, aufgrund gemeinsamer Werte, aber eben auch aufgrund einer Vertrauensbasis.
DR: Das heisst: Es kommt zu einem Block der Autokraten gegen die westlichen Demokratien?
KS: Es ist ein Wettbewerb der Systeme, der uns sicher in den nächsten Jahren beschäftigen wird.
DR: Dass man Autokraten nicht trauen kann, hat Putin eindrucksvoll bewiesen.
KS: Autokratische Systeme bestechen dadurch, dass sie langfristiger planen und agieren können. Ich ziehe jedoch ein System von «Checks and Balances» vor. Es verhindert, dass falsche Entscheide getroffen oder nicht rechtzeitig korrigiert werden.
DR: Sie haben Putin über alle die Jahre eng verfolgt. Wie hat er sich verändert?
KS: Statt Europa näher zu rücken, hat er über die Jahre seine Vorstellungen eines eigenständigen Russlands mit überlegenen Wertvorstellungen ausgebaut.
DR: Das World Economic Forum setzt traditionell auf Dialog, aber bei Russland zeigte es Härte mit dem Ausschluss. Das hat es in dieser Form noch nie gegeben.
KS: Wir spiegeln nur wider, was auch die Schweiz praktiziert. Wir sind eine neutrale Plattform, die langfristig nur vertrauenswürdig ist, wenn sie Spielregeln befolgt. Wenn jemand diese Spielregeln so eklatant mit Füssen tritt, ist der Ausschluss die Konsequenz.
DR: Hatten Sie Kontakt mit Putin seit dem Kriegsbeginn?
KS: Nein.
DR: Könnte das WEF die Kriegsparteien zusammenbringen, wie zeitweilig im Israel-Palästina-Konflikt?
KS: Hier sind wir nicht involviert. Die drei Verhandlungsparteien sind Russland, die Ukraine und die NATO. Wenn nicht alle drei engagiert sind, gibt es keine Lösung.
DR: Wer führt sie denn zusammen, wenn nicht das WEF?
KS: Es muss ein politischer Prozess sein. Wir müssen uns aber schon jetzt um den Wiederaufbau bemühen. Wir waren im Mai in Davos die Ersten, die von einem Marshallplan für die Ukraine gesprochen haben. Das wurde dann von der Lugano-Konferenz aufgenommen.
DR: Im Mai waren aus der Ukraine der Aussenminister und der Bürgermeister von Kiew vor Ort. Wird es im Januar wieder eine starke ukrainische Delegation am WEF geben?
KS: Wir haben die Ukrainer selbstverständlich eingeladen.
DR: Dafür fehlten fast alle Asiaten, besonders die Chinesen. Kommen sie wieder in grosser Zahl?
KS: Wir haben grosse Delegationen aus Japan, Indien und dem südostasiatischen Bereich. Was China betrifft, machen die zurzeit geltenden Covid-19-Regeln eine Teilnahme schwierig. Wir rechnen dennoch mit einer Delegation und einer Regierungsteilnahme, wie es schon im Mai der Fall war.
DR: Wird es wieder ein normales WEF wie vor Corona?
KS: Ja, aber wir haben eine Verantwortung für die Gesundheit unserer Teilnehmer und der Davoser Bevölkerung. Daher empfehlen wir, dass jeder Teilnehmer geimpft ist, und wir machen einen Test bei Ankunft.
DR: Wie stark ist China geschwächt durch Covid-Massnahmen und Lieferkettenprobleme?
KS: Covid ist ansteckender geworden mit Omikron und den jetzigen Varianten. Die dadurch bedingten hohen Ansteckungszahlen haben trotz aller Eindämmungsmassnahmen zu grossen Lieferkettenproblemen geführt.
DR: Und dann kommt die Zutat Nationalismus. Wie gefährlich ist die Taiwan-Frage?
KS: Das Gespräch in Bali zwischen den Präsidenten Xi und Biden hat gezeigt, dass man dieses Problem nicht mit Waffengewalt lösen will. Das ist ein gutes Zeichen.
DR: Hat die Klimafrage an Bedeutung verloren? Die Konferenz in Sharm el-Sheikh gilt als Enttäuschung.
KS: Wenn ich sehe, was in der Wirtschaft passiert, bleibe ich optimistisch. Die grosse Mehrheit der Unternehmen hat wirklich begriffen, dass sie bis 2050 klimaneutral sein müssen. Sie können Top-Talente und grosse Kunden nur gewinnen, wenn sie zeigen, dass sie dem Klima nicht schaden. Dieser Trend ist unumkehrbar.
DR: Was tut das WEF?
KS: Wir waren Partner in Sharm el-Sheikh. In Bereichen, in denen die Wirtschaft beitragen kann, wurden Fortschritte erzielt. 150 Mitarbeiter beschäftigen sich bei uns mit dem Klimathema. Unter unseren über 20 verschiedenen Initiativen möchte ich zum Beispiel das «One Trillion Trees»-Projekt erwähnen, bei dem wir mit zahlreichen Regierungen und Unternehmen zusammenarbeiten. Die chinesische Regierung hat sich verpflichtet, 70 Milliarden Bäume zu pflanzen, aber unser Ziel sind 1000 Milliarden. Ich bin dafür, pragmatisch in vielen Punkten Fortschritte zu erzielen, statt grosse programmatische Erklärungen zu verfassen, die vor allem falsche Hoffnungen wecken.
DR: Wie gesund ist das WEF? Ist Davos überhaupt noch wichtig?
KS: Wir haben 21 Plattformen mit über 100 Initiativen und haben uns in der Corona-Zeit als zentrale globale Drehscheibe für Regierungen und unsere Unternehmenspartner voll etabliert. Am 1. Januar 2020 hatten wir 630 Partnerunternehmen, heute liegen wir bei 825, obwohl wir 30 russische Firmen verloren haben. Wir haben die Umwandlung von einer Event-bezogenen zu einer Impact-bezogenen Organisation bewältigt.
DR: Das heisst: Eigentlich brauchen Sie Davos nicht mehr.
KS: Wir könnten ohne Davos gut überleben. Aber als Jahrestreffen bleibt es unser Flaggschiff. Wir erwarten im Januar wieder eine Rekordteilnahme.
DR: Als Ihre Nachfolgerin wird immer mal wieder Christine Lagarde gehandelt, aber sie ist noch fünf Jahre bei der Europäischen Zentralbank gebunden.
KS: Dann muss ich wohl noch mindestens fünf Jahre bleiben (lacht). Im Ernst: Diese Frage stellt sich derzeit nicht. Ich habe ein tolles Team und bin aktiver denn je. 50 Prozent meiner Zeit widme ich überdies dem Aufbau des Global Collaboration Village – wir wollen das Forum zusätzlich im Metaverse etablieren.
DR: Der Name Metaverse hat gerade kein gutes Image.
KS: Deswegen benutzen wir ihn auch ganz bewusst nicht. Wir wollen die erste grosse Applikation im virtuellen Raum für einen guten Zweck erschaffen.
DR: Sie hatten schon einen Avatar, jetzt sehen wir Sie als virtuellen Davos-Bürgermeister?
KS: Wir bauen ein globales Dorf mit virtuellem Kongresshaus und virtueller Promenade. Ich hatte diese Idee vor einem Jahr, wir entwickeln sie in enger Kooperation mit unserem Partner Accenture und Microsoft, die die Technologie liefert. Sie heisst Mesh und wird im nächsten Jahr lanciert, wir bringen am WEF schon einen Appetizer. Wir wollen dieses virtuelle Dorf aber nicht für kommerzielle Zwecke nutzen. Für uns geht es vor allem darum, bei unseren mehr als 100 Initiativen schnellere Fortschritte zu erzielen durch die Kombination der personellen und virtuellen Interaktion. Wir können uns noch mehr öffnen und noch mehr Partner integrieren.
DR: Gibt es da Konkurrenz?
KS: Das kann nur das World Economic Forum, als neutrale, unabhängige Organisation.
___________________________________________
Unsere Abos finden Sie hier: https://fal.cn/Xing_HZ_Abo
Mit dem Digital-Abo von Handelszeitung und BILANZ werden Sie umfassend und kompetent über alle relevanten Aspekte der Schweizer Wirtschaft informiert
Weitere News aus Wirtschaft, Politik und Finanzen finden Sie hier: https://fal.cn/Xing_HZ_Home
