Wenn das ICE-Büro zur Falle wird
Mobiles Arbeiten verleitet dazu, berufliche Gespräche in aller Öffentlichkeit zu führen – über eine bizarre Begegnung im ICE und mögliche Folgen.
Der Zug von Düsseldorf nach München war voll an diesem Tag Ende März. Als Jürgen Homeyer in Köln-Deutz einstieg, war an dem Vierertisch nur noch sein reservierter Platz frei – direkt neben einem Mann, der laut auf Englisch in seinen aufgeklappten Laptop sprach. Videocall. Und das nicht zehn Minuten, schnell was klären. Nein, knapp zwei Stunden, bis kurz vor Mannheim, diskutierte der Unternehmensberater das Projekt seines Kunden, einer großen Versicherung, mit den Zugeschalteten.
„Ich war fassungslos über die Art und Weise, wie dieser Mann mit vertraulichen Informationen seines Kunden umging“, sagt Homeyer, der selbst seit mehr als 15 Jahren eine Agentur für strategische Kommunikation führt.
Seitdem die Coronapandemie mobiles Arbeiten nicht nur möglich, sondern auch alltäglich gemacht hat und nahezu jeder Büroarbeiter einen Laptop besitzt, sind auch berufliche Gespräche im ICE, im Café oder der Flughafenlounge noch häufiger geworden. Und damit auch die Probleme, die bei Arbeitsrechtler Jan Tibor Lelley anlanden: „Viele Beschäftigte erledigen dienstliche Telefonate oder Videocalls unterwegs, oft ohne sich der Umgebungsrisiken bewusst zu sein“, sagt der Partner von der Kanzlei Buse. „Dadurch steigt die Gefahr von unbeabsichtigten Vertraulichkeits- und Datenschutzverstößen.“
Auch das Projekt, das der mitteilsame Berater im ICE nach Süddeutschland vorstellte, schien Homeyer sensibel zu sein. Es ging darum, dass der Kunde des Beraters, die Versicherung, all seine IT-Verträge in einer Holding bündeln wolle. „Sensible Themen wie Geschäftsgeheimnisse, interne Strategien oder laufende Vertragsverhandlungen und natürlich auch personenbezogene Daten sollten niemals in der Öffentlichkeit laut besprochen werden“, sagt Anwalt Lelley. „Solche Gespräche unterliegen in der Regel dem arbeitsvertraglichen Vertraulichkeitspflicht und dem Datenschutzrecht.“ Wer dagegen verstößt, kann schnell ein Problem mit seinem Arbeitgeber bekommen. Abmahnungen und sogar Kündigungen können die Folge sein, wenn Mitarbeiter gegen „arbeitsvertragliche Verschwiegenheitspflicht verstoßen“, erläutert der Jurist.
Kommunikationsexperte Homeyer ist schon zu Beginn seiner Zugfahrt irritiert über das Verhalten seines Sitznachbarn, aber dann irgendwann auch genervt: „Ich habe den Herrn gefragt, ob das wirklich sein Ernst sei.“ Keine Reaktion. Homeyer entscheidet, Arbeitgeber und Kunde des Beraters sollen Bescheid wissen.
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Er habe gewollt, dass „rückverfolgbar ist“, wer unvorsichtig mit vertraulichen Daten umgehe. Schnell füllt sich die Kommentarspalte unter seinem Posting. Nur die beteiligten Unternehmen melden sich nicht zu Wort. Diese Entscheidung wundert Homeyer. Wäre einer seiner Mandanten betroffen gewesen, hätte er ein anderes Vorgehen empfohlen. Ein knapper Kommentar unter dem Post, dass dieses Verhalten selbstverständlich gegen Firmenregeln verstoße und man dem nachgehe, hätte Homeyers Ansicht nach schon gereicht. „Damit hätten die betroffenen Unternehmen zumindest ihren Standpunkt klargemacht“, sagt er.
Damit solche Peinlichkeiten nicht passieren, empfiehlt Anwalt Lelley „klare Richtlinien und Schulungen zum mobilen Arbeiten“. Das sei heutzutage unverzichtbar. „Arbeitgeber sollten festlegen, welche Inhalte nicht außerhalb geschützter Räume besprochen werden dürfen und welche Kommunikationsmittel verwendet werden sollen“, sagt der Experte. Dies schütze nicht nur sensible Informationen, sondern auch das Unternehmen selbst vor rechtlichen Problemen und Reputationsrisiken.
Nicht ohne meine Schutzfolie
Das alles gilt übrigens nicht nur für vertrauliche Gespräche, die gut hörbar an öffentlichen Orten abgehalten werden, sondern auch für Informationen, die auf dem Laptop einsehbar sind. Wenn also etwa Sitznachbarn oder Fahrgäste aus der dahinterliegenden Reihe vertrauliche E-Mails mitlesen können. Der Unternehmensberater hatte auch dies nicht bedacht und ließ während seines Calls die Präsentation auf seinem Laptop mitlaufen. Homeyer sagt, er konnte diese problemlos einsehen. Um das zu verhindern, gibt es Sichtschutzfolien für Bildschirme, die den Betrachtungswinkel so einschränken, dass nur derjenige, der unmittelbar vor dem Laptop sitzt, sieht, was auf dem Bildschirm steht.
Auch für den Arbeitgeber des Beraters kann der Fall Konsequenzen haben. Die Versicherung könne nun prüfen, ob eine Verletzung der Vertraulichkeit oder ein Datenschutzverstoß vorliege, und gegebenenfalls rechtlich dagegen vorgehen – etwa durch eine Beschwerde bei der Datenschutzaufsicht oder durch zivilrechtliche Schritte, erklärt Lelley. Vor allem aber wirke sich ein solcher Vorfall häufig auf das Vertrauensverhältnis zum Dienstleister aus und könne auch vertragliche Konsequenzen nach sich ziehen. In der Praxis sei es sinnvoll, solche Vorfälle zu dokumentieren und zunächst das Gespräch mit dem Unternehmen zu suchen.
Anwalt Lelley hat schon mal einen ähnlichen Fall wie Homeyer auf seinem Weg nach Süddeutschland erlebt. Damals war die Geschäftsführerin seiner Mandantin mit dem Zug aus München angereist, um die Prozessstrategie zu besprechen. Als er gerade die Runde eröffnen wollte, ergriff sie das Wort und meinte, dass sie bestimmte Teile ihrer Strategie überdenken sollten. Es stellte sich heraus: Auf ihrer Fahrt von München hatte sie in unmittelbarer Nähe zum Verhandlungsteam der Gegenseite gesessen und mitanhören können, was die Beteiligten planten. Zu Beginn der Verhandlung sei der Schock für die gegnerischen Anwälte dann groß gewesen. Denn da erkannten sie die unfreiwillige Zuhörerin.
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