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Wer gibt das Wertvollste? Zeit. Zuwendung. Aufmerksamkeit.

Am Freitag war ich in Belitz, Mecklenburg, südöstlich von Rostock. Dort traf ich über 30 engagierte Menschen Anfang 20, die das Kindercamp POWER ON veranstaltet haben. 83 Kinder und 33 junge Erwachsene aus Mecklenburg wohnten eine Woche lang in Zelten im Garten des Pfarrhauses. Sie tollten herum, sangen, spielten, kochten zusammen, Nachbarn brachten selbst gebackenen Kuchen. Sie bauten ein riesiges Baumhaus, feierten Andachten in der Belitzer Kirche, probten Tanz-Choreografien und das Musical vom 'Barmherzigen Samariter'. Die jungen Veranstalter waren eine Woche lang rund um die Uhr für die Kinder da. Erreichbar. Ansprechbar. Nahbar und umarmbar. Keine Ablenkung. Volle Aufmerksamkeit für die Kinder.

Zum Gala-Abend mit Tanz, Musical, Kinder-Moderatoren und Filmen kamen hunderte Erwachsene aus der ganzen Region um Belitz und Teterow. Die Liebe, die die jungen POWER ON-TeamerInnen verschenkt haben, und die heitere Reife, die sie ausstrahlen, haben mich tief berührt. Der Frieden auf der Obstwiese in Belitz war eine wunderbare Erfahrung. Meine höchste Anerkennung für das, was diese jungen Menschen für Kinder aus Mecklenburg auf die Beine stellen. Die Welt braucht mehr solche Oasen.

1.077.687 Schüler ohne Schulabschluss

Oft höre ich in Seminaren und Vorträgen von Arbeitgebern die alte Leier: „Der Werteverfall ist dramatisch. Azubis sind unzuverlässig. Keiner strengt sich mehr an. Hauptschüler haben das Niveau von Sonderschülern.“ Und noch dramatischer sind die 1.077.687 Schüler, die seit 1999 in Deutschland keinen Schulabschluss geschafft haben. Ich will faule, unmotivierte Schüler nicht in Schutz nehmen. Schüler, die bereits in der siebten Klasse abschalten: "Ich hänge hier noch drei Jahre ab, dann bin ich fertig." haben den schwerwiegenden Irrglauben, mit 16 oder 18 Jahren fertig zu sein. Allerdings suggeriert "Abschluss" dies. Wer hat das Wort "Schulabschluss" erfunden? Erwachsene! Kann man bei 1.077.687 Schülern ohne Schulabschluss den Fehler nur beim Einzelnen suchen? Bei 1.077.687 einzelnen Schülern? Hand aufs Herz: Ist das nicht eher ein systemischer Fehler und ein Versagen des Schulsystems? Ist das wirklich die Verantwortung der Schüler?

  • Wer hat das Schulsystem erfunden? Erwachsene!

  • Wer erhält das starre Schulsystem trotz besseren Wissens? Erwachsene!

  • Wer schreibt die Curricula? Erwachsene!

  • Wer legt fest, dass man im Sitzen lernen muss? Erwachsene!

  • Wer unterrichtet? ...

Ich sage nicht, dass Unterrichten einfach ist. Ganz im Gegenteil! Lehrer haben einen harten Job, wenn sie Schüler und ihre Aufgabe ernst nehmen. Gute, engagierte Lehrer sollten viel mehr gelobt und viel besser unterstützt werden. Lehrer können nicht die Probleme unserer Gesellschaft lösen. Sie sehen die 25 bis 30 Schüler pro Klasse nur zwei bis fünf Stunden pro Woche. Das ist zu wenig Zeit für individuelle Zuwendung. Lehrer können unterrichten, Interesse für Themen wecken und menschliche Vorbilder sein. Viele Lehrerinnen und Lehrer machen das mit viel Einsatz. Anderen, faule Lehrern sollte gekündigt werden – was bei Beamten leider nicht geht. Doch für mich steht fest, am Aufmerksamkeits- und Zuwendungsdefizit unserer Kinder können Lehrer wenig ändern, sie können Schülern nicht die individuelle Aufmerksamkeit bieten, die menschliches Reifen braucht.

Menschliches Reifen braucht persönliche Zuwendung

Junge Menschen brauchen individuelle und möglichst langfristige Beziehungen. Die Verantwortung für die Charakterbildung liegt zuerst bei den Eltern und dann bei uns allen, der Gesellschaft. Alle elf Millionen Schüler in Deutschland brauchen persönliche Zuwendung. Das geht nicht nebenbei. Schüler brauchen unser wertvollstes Gut: Zeit. Zuwendung. Ungeteilte Aufmerksamkeit!

Wer löst das Aufmerksamkeitsdefizit unserer Gesellschaft? Es liegt an uns Erwachsenen, den Nachwuchs zu begeistern, ihn herauszufordern und für ihn da zu sein. Wer das nicht schafft, kann die Schülerpaten, Chancenwerk, Rock Your Life, Teach First und Joblinge unterstützen. Ich bin ein Fan von Mentoring. Mentoring ist DAS Mittel für persönliche Zuwendung und Entwicklung. Rock Your Life organisiert Coaching-Beziehungen zwischen Schülern und Studierenden in vielen Städten deutschlandweit. Schüler aus sozial oder familiär benachteiligten Verhältnissen werden in einem zweijährigen Coaching-Prozesses begleitet. Diejenigen, die diese gewaltige Aufgabe in Angriff nehmen, sind keine Zauberkünstler. Sondern Studenten mit sozialem Interesse und der Bereitschaft zum Engagement. Ein Student – ein Schüler. Der Verteilungsschlüssel könnte nicht besser sein. Dass sich überhaupt jemand intensiv um einen Jugendlichen kümmert, setzt beim Mentee eigene Motivation frei. Und genau um diese Eigenmotivation geht es.

Anerkennung erfahren

Ein Mentor kann und will nicht erzwingen, dass der Schüler seine Talente entwickelt. Aber er kann erreichen, dass der Jugendliche einen Sinn darin sieht, sich anzustrengen. Weil jemand da ist, der an ihn glaubt und ihn ernst nimmt. Anerkennung erfahren und sich so endlich nicht mehr als der letzte Dreck fühlen müssen – das ist der Königsweg zu positiven Gefühlen und Eigenmotivation. Die jungen Erwachsenen unterstützten die Schüler dabei, ihre Perspektive zu erweitern und ihr individuelles Potential zu entfalten. So wie auch im Kindercamp POWER ON. Die Schüler werden in ihren Fähigkeiten, Talenten und Zielen gestärkt, damit sie ihre Zukunft eigeninitiativ, motiviert und selbstbewusst gestalten können. Aus „Null Bock“ wird „Hey, ich kann das!“ und „Auf mich kommt es an!“

Mentoring-Beziehungen sind kein Garant für Bildungserfolg, aber Zuwendung hat immer einen Effekt. Bei Rock Your Life traf ich 2010 eine Schülerin aus Friedrichshafen mit ihrem Mentor. Zwei Jahre zuvor wollte sie die Hauptschule abbrechen. Sie kam nicht mehr mit, alles schien irrelevant für ihr Leben zu sein. Nun war sie Klassenbeste auf der Realschule. Die Zauberformel: Persönliche Zuwendung! Und ehrliches Interesse. Im Mentoring gilt: Mund halten und zuhören! Das geht nicht nebenbei. Gerade auch in dem wichtigen Übergang von der Schule in eine Ausbildung.

Die Klage über ausbildungsunreife Azubis fällt direkt auf unsere Gesellschaft und uns Erwachsene zurück. Es ist unsere Verantwortung. Verschenken wir Zeit und echtes Interesse, Aufmerksamkeit und Wertschätzung? Großzügig oder knauserig? Wer gewinnt Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit? Fördern Sie Mentoring? Sind Sie und Ihre Mitarbeiter Mentoren?

Vorreiter Handwerk?

Nutzt das Handwerk, dem angeblich der Nachwuchs fehlt, mit einer Million Betriebe und fünf Millionen Beschäftigten die Erkenntnisse über persönliche Zuwendung und Mentoring? Das Handwerk investiert von 2010 bis 2020 rund 100 Million Euro in Imagewerbung. Soweit so gut. Aber warum fließt der größte Teil des Geldes in Plakate - ein Werbemittel des letzten Jahrtausends? Warum baut das Handwerk nicht auf neuste Erkenntnisse und schafft Mentoring-Programme für den Nachwuchs? Mentoring-Beziehungen sind kein Garant für Bildungserfolg, aber Zuwendung hat messbare Effekte. Anerkennung, Zuverlässigkeit, Lernbereitschaft und Leistung. Die Zauberformel: Persönliche Zuwendung! Ehrliches Interesse.

Verschenken wir Zeit und echtes Interesse, Aufmerksamkeit und Wertschätzung? Großzügig oder knauserig? Fördern Sie Mentoring? Sind Sie und Ihre Mitarbeiter Mentoren? Alle Unternehmen, die Schülern Mentoring, Praktikums- und Ausbildungsplätze anbieten, gehen nicht leer aus. Sie stärken ihr Unternehmen und leisten einen Beitrag für mehr Bildungsgerechtigkeit. Das heißt nicht, dass es mit jedem Schüler klappt. Aber sich als Firma zu engagieren, kann eine ganze Belegschaft zusammenschweißen und das Gefühl geben, gemeinsam Sinnvolles zu tun.

Zeit

Nicht nur Zuwendung, menschliches Reifen braucht auch freie Zeit. "Kinder bräuchten viel unstrukturierte Zeit, um Selbstständigkeit, Kreativität und den Kontakt zu den eigenen Bedürfnissen zu lernen. Das schütze auch vor der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)." Ich bin fest davon überzeugt, dass jeder Jugendliche mit Zuwendung, Anerkennung und freuer Zeit zur Entfaltung seinen Weg finden kann zum eigenen Nutzen und dem der Gesellschaft. Bin ich mit dieser Meinung automatisch ein blauäugiger Weltverbesserer? Einer, der nur das Gute im Menschen sieht und die Augen davor verschließt, dass manche Jugendliche alle ausgestreckten Hände ausschlagen? Ich weiß, dass es diese Typen gibt - 20 Jahre ehrenamtliche Jugendarbeit und 10 Jahre als freiwilliger Vollzugshelfer öffnen alle Augen – ich weiß aber auch, dass jeder Mensch nach Lob und Anerkennung strebt. Jeder Mensch, der echte Aufmerksamkeit und Vertrauen geschenkt bekommt, wird auch respektvoll darauf antworten. Das kann dauern, Vertrauen und Selbstvertrauen brauchen Zeit, überstürzt passiert gar nichts. Es lohnt sich.

Wille

Die Lehrer von Younes Ouaqasse sahen in ihm nur einen Jungen mit Sprachdefiziten. 1988 in Mannheim als Sohn marokkanischer Einwanderer geboren, lebte er mit vier bis acht Jahren bei seiner Großmutter in Marrakesch. Zurück in Deutschland bekam er eine Hauptschulempfehlung. Ouaqasse wäre fast in der Hauptschule hängen geblieben, wie er mir 2009 sagte. Eines Tages sah er die Chancen, die jedem im deutschen Bildungssystem offen stehen, und ergriff sie. Er biss sich bis zum Fachabitur durch. Mit 16 Jahren trat Ouaqasse in die CDU ein. 2008 wurde er zum Bundesvorsitzenden der Schüler Union gewählt. Younes Ouaqasse, ein gläubiger Muslim, war der erste Vorsitzende einer CDU-Vereinigung mit Migrationshintergrund. 2012 wurde er sogar in den CDU-Bundesvorstands gewählt. Heute ist er Geschäftsbereichsleiter Politik der Quadriga Media Berlin GmbH. Ouaqasse ist der Meinung: „Jedem Menschen stehen grundsätzlich alle Möglichkeiten offen – wenn er nur will. Ich kann in Deutschland alles schaffen.“

Impulse verpuffen

Um 9 Uhr kommt der Mitarbeiter der Agentur für Arbeit in die Klasse. Er legt Informationsmaterial auf den Tischen aus und beantwortet Fragen. Im Anschluss fragt der Lehrer seine Schüler: „Na? Habt ihr euch entschieden?“ Einmalige Events werden total überschätzt. Denn eine Berufswahl ist immer ein längerer Entwicklungsprozess. Die Erkenntnis: „Ich will Mechatroniker werden!“ schlägt nicht wie ein Blitz ein. Eine gute Berufsorientierung zieht sich über Monate und Jahre hin. Sie braucht praktische Erfahrungen, persönliche Ermutigung und fachkundiges Feedback. Dabei wird häufig der erste, zweite und dritte Berufswunsch verworfen. Es sind langfristige Kennenlern-, Erfahrungs- und Entscheidungsprozesse, die über die Zukunft eines Schülers entscheiden. Dazu empfehle ich die Blogparade mit 45 Beiträgen zum Prozess der Berufswahl.

Der Klassenausflug in die nächstgelegene Produktionshalle oder zum BiZ sind wichtig, aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Genauso wie der „Girls‘ Day“, ein Aktionstag, an dem über 9.000 Unternehmen und Universitäten ihre Türen öffnen, um Mädchen für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik, kurz MINT-Berufe, zu begeistern und als Fachkräfte zu gewinnen. Die Grundidee ist lobenswert, aber um Wirkung zu entfalten, braucht so ein Erlebnis im Anschluss den Dialog mit einer Vertrauensperson - wie einem Mentor. Sonst verpufft der Impuls. Hier fehlt meistens eine Nachbetreuung, damit sich der angestoßene Prozess überhaupt weiter entwickeln kann! Würde jede Schülerin, die zum Girls‘ Day kommt, eine Mentorin zum Austausch haben und in der Folge an Jugend forscht teilnehmen, würde sich der große Aufwand vom Girls' Day lohnen.

410.000 potenzielle Fachkräfte

Wir brauchen viel mehr langfristige persönliche Begleitung. Die Gesellschaft ist hier gefragt. Warum sollten nicht auch Unternehmen ihren Mitarbeitern die Möglichkeit anbieten, sich um Schüler zu kümmern? 410.000 Mitarbeiter könnten fast nebenbei 410.000 Schüler = potenzielle Fachkräfte persönlich begleiten. Das ist weniger als ein Prozent aller Deutschen in Festanstellung. Zum Beispiel indem jeder, der sich wöchentlich zwei Stunden für einen Schüler oder eine Person ohne Schulabschluss einsetzt, dafür eine Stunde vom Unternehmen geschenkt bekommt. Bliebe eine Stunde ehrenamtliche Arbeit bei wöchentlichen Treffen. Wenn nur ein Prozent der deutschen Angestellten einem Schüler oder Abbrecher diese Zeit schenken würden, hätten wir in ein bis zwei Jahren 410.000 ausbildungsreife Azubis und in vier bis fünf Jahren 410.000 Fachkräfte. Was für ein Effekt! Ein weiterer Effekt: Ausbildungs-Abbruch würde drastisch sinken, denn Mentor und Mentee pflegen ihre Beziehung häufig weiter. Gerade zum Start der Ausbildung fehlt vielen Azubis eine Vertrauensperson.

100 Millionen Euro in Plakate und Filme... Bitte überdenken, liebes Handwerk. Neben Mentoring und Praktika können Unternehmen zudem Nachhilfe anbieten. Eltern zahlen in Deutschland 879 Millionen Euro für private Nachhilfestunden ihrer Kinder. Eine Studie von 2010 kam sogar auf 1,5 Milliarden Euro private Gelder für Nachhilfe der Schüler. In der Top 10 der größten Franchise-Konzerne ist auch die Schülerhilfe für Nachhilfe, knapp hinter McDonald‘s und Fressnapf. Da fließt viel privates Geld. Und wer es sich nicht leisten kann? Eine gute Nachhilfe im Unternehmen zu organisieren, öffnet Zugang zu Schülern, Eltern und Lehrern. Betriebe bekommen frühzeitig Kontakt zu Schülern, sie sehen, wer lernen will und Fortschritte macht.

Die Lernfähigkeit ist auf Dauer viel entscheidender als gute Noten. Beim Mentoring wie auch bei der Nachhilfe lernen sich Unternehmen und Schüler sehr genau kennen. Wer ein Talent wachsen sieht, kennt die Person – und nicht nur das Zeugnis. Unternehmen müssen ganz besonders die Schüler, denen ein schwieriger Start ins Berufsleben bevorsteht, gezielt und langfristig fördern, um sie als Fachkraft zu gewinnen. Eine Begleitung ermöglicht es Unternehmen, neue Quellen für potentiellpotenzielle Fachkräfte zu erschließen. Zu wenig Unternehmen erkennen die Möglichkeiten, die in diesen Initiativen schlummern. Und zu viele Unternehmen kommen erst gar nicht auf die Idee, dass es an ihnen selbst liegt, etwas zu ändern. Hunderte Schülerwettbewerbe pro Jahr. Hunderte Schülerfirmen. Gruppenleiter bei Kindercamps und den Pfadfindern. Trainer im Sportverein. Nachhilfe im Unternehmen. Chancen über Chancen. Potenziale ohne Ende. Wen kennen Sie? Wen fragen Sie? Was machen Sie?

Weite Herzen

Laden Sie junge Menschen Woche für Woche zu sich ein. Starten Sie einen Jugendtreff in Ihrer Firma oder in Ihrem Wohnzimmer. WAS? ICH? Ein Berliner Ehepaar hat im Wohnzimmer einen Jugendtreff gestartet. Sie sorgten für spannende Gäste, heiße Debatten, Singen vor und nach der Debatte, initiierten Freundschaften, starteten Schüleraustausch und boten Raum für neue Ideen. Das war der Auslöser für mein jahrzehntelanges Engagement im Mentoring, Schüleraustausch, Jugendbegegnungen, Camps und Schüler-Wettbewerben. Ja, es war eine außergewöhnliche Familie, die Mitte der 80er Jahre ihr Privathaus für junge, fragende, singende Menschen öffnete. Ihr Wohnzimmer wurde ein Jahrzehnt lang ein zweites Zuhause für Tausende Jugendliche. Dieses Ehepaar sprengte die Grenzen der Hausmauern. In Berlin stehen 161.000 Einfamilienhäuser. Alle Nachbarn hatten dieselbe Möglichkeit, ihr Haus zu öffnen. Was hielt 160.999 Berliner davon ab, fremde Gäste in ihr Wohnzimmer einzuladen? Wer mehr besitzt – Talent, Kontakte, ein Haus – kann mehr Mehrwert stiften. Hat der mehr Besitzende auch die innere Freiheit, mehr zu teilen?

Diese Familie hatte die innere Freiheit, ihren Besitz und ihre Zeit in rauen Mengen zu verschenken. Es ist etwas Besonderes, wenn Menschen mehr geben als offiziell vorgeschrieben ist. Der Botswana Innovation Hub tweetet: „Auf der extra Meile gibt es keinen Verkehrsstau.” Im Römischen Reich konnten Soldaten per Gesetz jeden Menschen auffordern, sein Gepäck eine Meile zu tragen. Bei der biblischen Aufforderung, zwei Meilen zu gehen, geht es darum, mehr zu geben als gesetzlich vorgeschrieben ist. Die Soldaten waren davon überrascht. Auch heute gibt es viele Möglichkeiten, zwei Meilen zu gehen und mehr zu geben. Mehr Willkommenskultur. Mehr Achtsamkeit. Mehr Vielfalt. Mehr Risiko. Mehr Überraschung. Mehr Austausch. Mehr Beziehung. Mehr Zeit. Mehr Zuwendung. Mehr Aufmerksamkeit. Mehr Dankbarkeit. Dankbare Menschen laufen die extra Meile. Sie wissen, wie viel sie selbst geschenkt bekommen.

Dankbarkeit

Manche Unternehmen sehen hingegen nur das, was sie nicht haben. Sie jammern: „Es gibt keine ausbildungsreifen Jugendlichen mehr! Warum tut keiner was? Wo sind unsere Fachkräfte?“ Sie verlangen von Gesellschaft und Politik, dass endlich das Nötige in die Wege geleitet wird und warten darauf, dass ihnen die Fachkräfte auf dem Silbertablett präsentiert werden. Weil sie nur „Mangel, Mangel, Mangel!“ schreien, sehen sie nicht die Fülle, die da ist und entdeckt werden kann! Wer nur auf das sprichwörtliche halb leere Glas starrt und den Mangel anprangert, verharrt in Selbstmitleid, sieht immer dümmere Schüler und bildet schließlich nicht mehr aus. Problem gelöst? Wer das halb volle Glas sieht, der sieht Möglichkeiten. Wieso bekommt der Werbefilm #heimkommen von Edeka in zehn Tagen über 40 Millionen Klicks auf Youtube? Er ist anders. Völlig anders. Wer das macht, was alle machen, bekommt, was alle bekommen. Wer geht neue Wege? Wer startet Mentoring und betreut Schüler?

Ein wichtiges Schlüsselwort ist Dankbarkeit. Jammernde Undankbarkeit macht blind. Dankbarkeit öffnet den Blick. Wie ein Nachtsichtgerät ermöglicht sie, Potenziale und Möglichkeiten zu erkennen, die vorher im Dunklen lagen. Die US-amerikanischen Psychologen Robert A. Emmons und Michael E. McCullough haben nachgewiesen, dass Dankbarkeit erfolgreich macht. In ihrer im Juli 2003 in der Zeitschrift „Psychologie heute“ vorgestellten Studie zeigen sie, dass dankbare Menschen optimistischer, gesünder und erfolgreicher sind als Undankbare und mehr Kontakte pflegen. Dankbarkeit als nützliche Investition in die Zukunft - auch für Unternehmen.

Wertschätzung

In einer Folgestudie stellten sie fest, dass dankbare Menschen sich hilfsbereiter um andere kümmern. Sie bringen anderen Menschen mehr Wertschätzung entgegen und pflegen langlebigere Freundschaften. Wenn diese Menschen in schwierige Phasen geraten, ist ihr soziales Netzwerk tragfähiger und hilfsbereiter. Wer klagt, wie schlimm alles ist, wie wenig Respekt die Jugend hat, wie schwer es ist, an Fachkräfte heranzukommen, der wird keine Fachkräfte finden, auch weil das Arbeitsklima dort unerträglich ist. Am Ende geht es immer um Wertschätzung! Wertschätzung öffnet und macht dankbar.

Wertschätzung der Ausbildungs- und Arbeitsplätze - geschaffen durch mutige, tatkräftige Unternehmer. Wertschätzung aller Menschen für deren individuelle Talente. Wertschätzung von Zeitschenkern in Kindercamps, Mentorenprogrammen, Sportclubs und Jugendwettbewerben.

Geben wir unser wertvollstes Gut: Zeit. Zuwendung. Ungeteilte Aufmerksamkeit. Und Wertschätzung.

Martin Gaedt schreibt über Provotainment, Leben und Arbeit, cleveres Recruiting, Wirtschaft & Management

Martin Gaedt ist Autor von "4 TAGE WOCHE", "Rock Your Work", "Rock Your Idea" und "Mythos Fachkräftemangel". Er ist Provotainer und hat seit 2014 in 650 Keynotes mehr als 100.000 Gäste begeistert, provoziert und entertaint. Seit 1999 gründet er Unternehmen und stellt 44 Fragen, der Anfang des Neuen.

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