„Wer nach vorne sehen will, muss von hinten nach vorne denken …“
Im Hinblick auf das Leben Ludwigs II. sind heute die meisten Menschen vom tragischen Ende des Königs gleichsam hypnotisiert, starren deshalb vor allem auf das Jahr 1886 und vernachlässigen die vorausgegangenen Ereignisse der Jahre 1845 nach 1886, also von des Königs Geburt bis zum Tod oder blenden sie sogar gänzlich aus. Da der Unterbau dieser Jahre fehlt, kommt man stets zu fehlerhaften oder gar falschen Schlüssen und dies auch hinsichtlich der Klärung der Schuldfrage, wer also die am Tod des Königs Verantwortlichen sind. Ludwigs Entmündigung ereignete sich zwar im Juni 1886, doch sie begann schon in der Kindheit - und deshalb gilt es, sein Leben von vorne nach hinten zu denken und die Personen und Ereignisse dingfest zu machen, die ihn von Kindheit an während der folgenden fast 41 Jahre seines Lebens zuerst als Kronprinz und dann als König nach und nach in die Einbahnstraße der Entmündigung lenkten. Auch bei den heute geführten Diskussionen über Nachhaltigkeit gilt: Wer nach vorne sehen will, muss von hinten nach vorne denken. Ohne Beachtung und Bewertung des in der Vergangenheit Geschehenen hängen die Planungen für die Zukunft in der Luft.
Diese Ansicht beruht auf der Tatsache, dass Ludwig II. auch hinsichtlich des ökologischen Bewusstseins sehr fortschrittlich war. Heute würde er sicher eine Vorreiterrolle in Sachen Naturschutz einnehmen und sich an vorderster Front für Nachhaltigkeit, für Reduktion von CO2-Emissionen, für erneuerbarer Energien und die Förderung entsprechender Projekte stark machen, da er sich zeit seines Lebens für den Erhalt von „Gottes freier, heiliger Natur" einsetzte und deren Zerstörung und Ausplünderung verurteilte. Gleich nach seiner Thronbesteigung 1864 erlaubte er nur die Entfernung morscher Bäume und forderte Nachpflanzungen, als im Englischen Garten in München eine Baumgruppe entfernt werden sollte. Als ein Stuttgarter Holzhändlerkonsortium 1873 begann, den Hochwald auf der von ihnen 1870/71 erworbenen Insel Herrenwörth im Chiemsee abzuholzen, kaufte Ludwig die Insel, um die Zerstörung der Landschaft zu stoppen. 1878 sprach er sich gegen die Einrichtung einer Fernbahn von Kempten über den Fernpass ins Inntal aus.
„Ich halte dafür“, betonte er, „dass das Glück der Völker nicht in der Menge der Eisenbahnen liegt. Auch nicht die Zukunft Bayerns und Tirols. Man soll mir die idyllische Einsamkeit und die romantische Natur, deren malerische Schönheit im Winter noch ungleich größer ist als im Sommer, nicht durch Eisenbahnen und Fabriken stören. Auch für zahllose andere Menschen, als ich einer bin, wird eine Zeit kommen, in der sie sich nach einem Lande sehen und zu einem Fleck Erde flüchten, wo die moderne Kultur, Technik, Habgier und Hetze noch eine friedliche Stätte weit von Lärm, Gewühl, Rauch und Staub der Städte übrig gelassen hat."
Schon als Kind nahm der Kronprinz nicht an kriegerischen Spielen teil, sondern widmete sich lieber dem Spiel mit Bauklötzen. Später machte er es seiner Armee schwer, Begeisterung für ihn zu empfinden, denn sein Desinteresse dem Militär gegenüber, das in so deutlichem Kontrast stand zur Aufmerksamkeit, die der Armee in Preußen vonseiten ihres Monarchen entgegengebracht wurde, verstimmte vor allem die Offiziere. Im Grunde war der König ein „Kriegsdienstverweigerer“. Sein Rückzug in den Kriegen 1866 und 1870 war eine Art „Fahnenflucht“ Die Teilnahme an diesen Kriegen, zu denen sich Bayern aufgrund von Bündnis Verpflichtungen gezwungen sah, empfand er als persönliche Niederlage und blieb ihnen demonstrativ fern. Kriege waren ihm ein Gräuel, wie er 1871 seiner ehemaligen Erzieherin Sibylle von Leonrod gestand. Die beiden Kriege, die er in seiner kurzen Regierungszeit habe führen müssen, seien „sehr hart für einen Fürsten, der den Frieden liebt! Das raue Kriegs-handwerk, lange geübt, verwildert die Sitten der Menschen, macht sie unfähig, große, erhabene Ideen zu fassen, stumpft sie ab für geistige Genüsse; denn diese allein sind im Stande dauernd zu fesseln, diese allein gewähren wahre Wonne und innere Befriedigung.“ Deshalb „hasse und verachte“ er den Militarismus, äußerte er während einer Audienz 1873 auch gegenüber dem Historiker Felix Dahn.
Schuld, Mitschuld und Verantwortung: Warum uns der Untergang Ludwigs II. noch heute angeht
Macht, Missgunst, Hass und Intrigen: Aus der Geschichte lernen
Alfons Schweiggert: Der Ludwig-II.-Prozess. Die Schuldigen an der Königskatastrophe. Volk Verlag, München 2022.