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Wer Volkskunde studiert, hat mehr vom Leben!

Interview mit der Volkskundlerin Dr. Constanze N. Pomp

Frau Dr. Pomp, in Ihrer Dissertation, die sich mit der Frühphase des Skilaufens im Hochschwarzwald beschäftigt, zitieren Sie die Aussage der Volkskundlerin Ingeborg Weber-Kellermann: „Wer Volkskunde studiert, hat mehr vom Leben!“ Können Sie das bestätigen?

Ja, ich persönlich kann aus heutiger Perspektive diese Aussage für mich völlig unterstreichen. Ich empfinde mein Volkskunde-Studium rückblickend als große Bereicherung. Meine Entscheidung, dieses Fach zu studieren, war eine bewusste, die ich jederzeit so wieder treffen würde. Das Fach ist – meiner persönlichen Auffassung nach – eine empathische Wissenschaft, die sehr nah beim Menschen ist. Das bedeutet, sie ist dem Menschen und seinem Handeln sehr zugewandt und dabei stets interessiert und offen. Eine Eigenschaft, die auch auf mich zutrifft. Das Studium der Kulturanthropologie/Volkskunde qualifiziert weniger für ein konkretes Berufsfeld, vielmehr schärft es den Panoramablick und qualifiziert für das eigene Leben. Ich kann mehr über mich selbst und über meine Welt, in der ich lebe erfahren. In Bezug auf Alltagsphänomene lernt man eine verstehend erklärende Perspektive, was ich selbst in meinem persönlichen Alltag als nützlich empfinde. Mich fasziniert immer noch die große thematische Vielfalt des Faches, die es mir während meines Studiums ermöglichte, jederzeit meinen eigenen Interessen und Themenschwerpunkten nachzugehen.

Wenn sich junge Menschen an der Universität für das Fach Kulturanthropologie/Volkskunde entscheiden – was erwartet sie?

Zunächst möchte ich veranschaulichen, dass es sich bei diesem Fach um ein „Vielnamenfach“ handelt. Dies bedeutet konkret, dass es an deutschsprachigen Universitäten auch unter den Namen Europäische Ethnologie, Kulturanthropologie oder Empirische Kulturwissenschaften geführt wird. Bei der Kulturanthropologie/Volkskunde handelt es sich um eine empirische Kulturwissenschaft, die sich als Wissenschaft mit den alltäglichen Selbstverständlichkeiten beschäftigt.

Die Analyse alltagskultureller Phänomene und Prozesse in ihren sozialen, geschlechtsspezifischen, räumlichen und zeitlichen Bezügen liegt im Zentrum ihres Wirkungsbereiches. Es wird sich mit dem alltäglichen Leben selbst sowie den Denkweisen, Erfahrungen und Lebensformen von Menschen beschäftigt. Kultur als dynamischer Prozess vollzieht sich im kleinen und großen Zusammenleben von Menschen. Beispielsweise lässt sich auf vielen Ebenen der Alltagskultur wie bei Kleidung, Wohnen, Freizeitverhalten beobachten, dass das, was wir heute als "eigen" betrachten, oft das Ergebnis vielfältiger Transformationen und kultureller Begegnungen ist.

Wodurch zeichnet sich die Qualität des Faches aus?

Sie zeichnet sich durch seine große Anzahl an Forschungsfeldern aus, die sämtliche Bereiche der Alltagskultur tangieren. Dazu zählen materielle Kultur (z. B. Geräte und Alltagsdinge, Bauten, Denkmäler, Wohnungen, Kleidung), Handlungsmuster (z. B. Ess- und Trinkgewohnheiten, handwerkliche Fertigkeiten, Arbeitsweisen und Freizeitverhalten, Bräuche), Dokumente der mündlichen und schriftlichen Überlieferung (z. B. lebensgeschichtliche Erinnerungen, Sagen, Gerüchte, Redensarten, Tagebücher); Bilder und Zeichen (z. B. populäre Druckgrafiken, Karikaturen); sowie soziale Institutionen, Normen und Lebensformen (z. B. Familie, Vereine, Freundschaften).

Diese Aufzählung reicht nicht aus, um die Spezifik volkskundlichen Arbeitens aufzuzeigen. Allein in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde gibt es aktuell 17 Kommissionen, die sich mit den unterschiedlichen Bereichen der Kulturphänomene beschäftigen.

Mit der Vielfalt der Forschungsfelder geht ein methodenpluralistischer Ansatz einher, der während des Studiums vermittelt wird. Als Wissenschaft mit primär empirischer Vorgehensweise, unterweist sie in qualitativ ethnographische Methoden, wie Feldforschung, teilnehmende Beobachtung und qualitative Interviews. Aber auch historisch-archivalische Methoden werden mit der Auswertung historischer Quellen und Medien eingeübt. In die Analyse materieller Kultur, die Bildforschung, die Foto- und Filmanalyse, die Erzählforschung sowie die Diskurs- und die Medienanalyse wird ebenso eingeführt.

Eine konstante Schärfung des Faches findet dadurch statt, dass das Fach im intensiven Austausch mit anderen Sozial- und Kulturwissenschaften steht und sich an interdisziplinären Debatten beteiligt. In Anlehnung an Ingeborg Weber-Kellermann könnte ich hier noch ergänzend Konrad Köstlin zitieren, der selbstbewusst sagt: „Sie kann eigentlich alles, die Volkskunde.“

Was antworten Sie angehenden Studierenden, wenn sie fragen, welche Eigenschaften sie mitbringen sollten?

Neugier am Menschen und seinen unterschiedlichen Lebensweisen. Interesse an den Alltagsphänomenen vergangener und gegenwärtiger Gesellschaften. Bereitschaft, sich den Geheimnissen des Alltags zuzuwenden und dabei mit dem eigenen scheinbar Vertrauten und dem Unbekannten auseinanderzusetzen. Sich einfach erfreuen, was der Alltag bereithält.

Was war für Sie der Auslöser, sich für diese Studienrichtung zu entscheiden?

Vor meiner Einschreibung nutzte ich die vielfältigen Informationsangebote der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Mich haben die dort beschriebenen Fachinhalte und die soziale Dimension volkskundlicher Forschungsfelder besonders angesprochen, so dass ich letztlich Kulturanthropologie/Volkskunde als Studienfach, sogar als Hauptfach, wählte.

Was reizt Sie an der Geschichte des Kleinen?

Es geht weniger um die Geschichte des Kleinen, als vielmehr um Geschichte im Kleinen. Eine Maxime volkskundlichen Forschens heißt, im Kleinen schauen. Hier wird innerhalb eines großen Feldes ein Ausschnitt samt den darin wirkenden gesellschaftlichen Prozessen und dem Zusammenspiel verschiedenster Faktoren analysiert. Es geht keinesfalls um Kleinigkeiten, sondern um das Erhalten einer Detailaufnahme mit hoher Tiefenschärfe, um Einblicke, sowohl in räumlicher als auch in zeitlicher und sozialer Hinsicht. Vor dem Hintergrund des großen Ganzen müssen diese Detailantworten ins Verhältnis gesetzt werden, d. h. es muss systematisch und methodisch kontextualisiert und betrachtet werden. Die Forschungsergebnisse erhalten über den konkreten Einzelfall hinaus eine größere Bedeutung. Kleine und konkrete Untersuchungs- und Beobachtungsfelder sind charakteristisch für exemplarische Studien im Fach.

Weshalb ist an Nebensächlichkeiten häufig das Wesentliche erkennbar?

Diese Frage ist im Zusammenhang mit Ihrer vorhergehenden Frage zu sehen. Das Fach Kulturanthropologie/Volkskunde untersucht scheinbare Selbstverständlichkeiten der alltagskulturellen Lebensäußerungen und erschließt – wie bereits erwähnt – ausgehend von kleinen, dichten Beobachtungen bedeutsame, größere Zusammenhänge. Martin Scharfe bezeichnet diesen Forschungsblick als eine Hinwendung auf vermeintliche „Bagatellen“, es wird auch das Sprachbild der „Andacht zum Unbedeutenden“ verwendet. Gerade in den Details der vermeintlichen Nebensächlichkeiten verbirgt sich häufig ein signifikanter Aussagegehalt. In diesem Kontext wird gerne der Historiker Sigfried Giedion zitiert: „Auch in einem Kaffeelöffel spiegelt sich die Sonne.“ Gemeint ist hier, dass in einem Kaffeelöffel mehr steckt, als man hinter diesem Teil des Essbestecks vermuten würde. Er verweist mit seinem berühmten Credo vom Kleinen auf das Große und somit vom scheinbar Trivialen und Marginalen auf das Wesentliche. Deutlich wird bei dieser Betrachtungsweise, dass alles mit etwas anderem zusammenhängt, und auf dieser Basis sich verallgemeinernde Aussagen treffen lassen.

Welche Voraussetzungen sind notwendig, damit dies gelingt?

Ich kann es kurz anhand meiner Dissertation skizzieren, in der ich mich mit verschiedenen historischen Quellenmaterialien und deren „dichten Informationen“ beschäftigte. Zunächst war das A und O die Fähigkeit, historische Handschriften, z. B. die Kurrentschrift, entziffern zu können. Gleichzeitig war es unabdingbar, Kenntnisse vom zeitgenössischen Sprachgebrauch zu besitzen, um bestimmte Begriffe und Sprachbilder korrekt einzuordnen zu können. Hintergrundwissen der soziokulturell-gesamtgesellschaftlichen Gegebenheiten, gepaart mit speziellen lokalen Bezügen war innerhalb des Untersuchungszeitraums gefragt.

Mit welchem Schwerpunkt haben Sie sich in Ihrer Dissertation beschäftigt?

Hier habe ich mich mit der Frühphase des Skilaufens im Hochschwarzwald unter sporthistorischen, tourismusgeschichtlichen und alltagskulturellen Gesichtspunkten beschäftigt. Bei meinem gewählten Untersuchungszeitraum orientierte ich mich an kulturhistorisch bedeutsamen Markierungen: Dem Erscheinen der deutschsprachigen Übersetzung von Fridtjof Nansens Expeditionsberichts „Auf Schneeschuhen durch Grönland“ im Jahr 1890 auf der einen Seite und den Olympischen Winterspielen 1928 in St. Moritz und die zeitgleich im Schwarzwald ausgetragenen Deutsche Skimeisterschaft auf der anderen Seite. Von Beginn an faszinierten sowohl Skilauf und Skisprung die Zeitgenossen.

In meiner Arbeit untersuchte ich dezidiert die Einführungs- und Etablierungsphase des auch als Schneeschuhlaufen bezeichneten Skisports. Ich zeichnete dabei die Skisportentwicklung nicht allein in ihrer historischen Genese nach, sondern analysierte diese als kulturelles Geschehen der Aneignung, des Kulturtransfers und der Innovation.

Für die Analyse bediente ich mich der Methode der historischen Ethnografie und bezog eine umfangreiche Quellensammlung ein, die neben Buchpublikationen, Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln, Bild- und Filmdokumenten umfasste. Ein besonderes Augenmerk erhielt das reichhaltige, bisher unbearbeitete Tagebuch- und Dokumentationsmaterial aus dem Familienbesitz Gruber.

Worauf lag der Fokus innerhalb der Dissertation?

Schwerpunkt waren die norwegischen Skilaufakteure, die der Skilaufentwicklung in der Untersuchungsregion wesentliche Impulse vermittelten. In diesem Zusammenhang zeigte ich auf, wie die neuartige Wintersportdisziplin in den Alltag deutscher Akteure gelangte, wie sie von ihnen aufgenommen und weitervermittelt wurde.

Gerade den Ski-Club-Gründungen kam für die organisierte Verbreitung und Popularisierung der Skipraxis eine exponierte Stellung zu. Skiwettrennen bildeten eine der Komponenten im Maßnahmenrepertoire der Ski-Clubs. Ein weiteres Augenmerk lag explizit auf der Etablierung des Militärskilaufs und der skisportlichen Nachwuchsförderung. Da die Vereine Wert auf die skisportliche Partizipation von Frauen legten, thematisierte ich, welches neue Aktionsfeld sich für Skiläuferinnen ergab.

Eng verknüpft mit der Austragung von Skiwettläufen waren die Ski-Feste. Sie entfalteten sich für Akteure und Zuschauer zu einem emotionalen Erlebnisraum in dem thrill, flow, Spannung und Ekstase gleichermaßen erfahren werden konnten.

Aufbauend auf diesen Ergebnissen stellte ich Bezüge zur neuen wirtschaftlichen Erwerbsquelle und Existenzgrundlage im Hochschwarzwald, dem Wintertourismus, her, d. h. zur „Winterfrische“. Schließlich zeigte ich auf, wie Veränderungen und soziokulturelle Auswirkungen, die in der Region in Folge der Skisporteinführung eintraten, ihren Widerhall in zeitgenössischen Kontroversen fanden.

Ihr Fazit?

Der norwegische Kulturtransfer des Skisports führte letztlich zur Bildung einer eigenen Skikultur im Hochschwarzwald. Schneeschuhlauf und Skisprung waren nicht nur eine Sportart, sondern der Ausdruck eines Lebensstilgefühls der sogenannten „Brettlehupfer“.

Was bedeutet für Sie Nachhaltigkeit im Kontext der Volkskunde?

Wir sollten uns in unserem Fach konkret die Frage stellen: Wie können wir uns Nachhaltigkeit als alltagskulturellem Forschungsgegenstand und Arbeitsfeld annähern, und welches Wissen können wir zur Realisierung dieses globalen Projektes beisteuern? Als eine zukunftsorientierte Wissenschaft widmet sich die Kulturanthropologie/Volkskunde den Konzepten der Nachhaltigkeit und ihren Begrenzungen.

Welche Fragen sind zu klären?

Sind ethische Bemühungen der Unternehmen nur ein Mittel für die Öffentlichkeit im Blick auf den „kritischen Konsumenten“? Wörter wie „Greenwashing“ zeigen, dass ein tatsächliches Umdenken nicht immer stattfindet. Täglich begleitet uns das Wissen drohender Gefahren eines ökologischen, ökonomischen oder sozialen Zusammenbruchs, Forderungen nach einem Umdenken werden lauter. Der Begriff der Nachhaltigkeit wird immer mehr in Verbindung mit der Idee von Selbstverwirklichung gesehen. Hofläden und Urban Gardening-Projekte, Kaffee-Manufakturen und Imkereien – zahlreiche Initiativen erproben Formen der Lebensmittelproduktion, die auf Verantwortung, Solidarität und Nachhaltigkeit setzen. Urban Gardening, Veganismus oder nachhaltiger Tourismus sind u.a. Phänomene unserer Zeit für eine Neuorientierung.

Mit dem Nachhaltigkeitsbegriff sind viele Definitionen verbunden. Können Sie seine Geschichte kurz nachzeichnen?

Die Geschichte des Begriffs geht bis ins 13. Jahrhundert zu Franz von Assisi zurück. Gedanken des heiligen Franziskus stehen für eine Lebensführung im Sinne einer Mäßigung im Verbrauch von Ressourcen, so dass die Bezeichnung „franziskanischer Minimalismus“ aufkommt. Im Zusammenhang einer nachhaltigen Forstwirtschaft gebrauchte Hans Carl von Carlowitz die Bezeichnung 1713 in seinem Werk „Silvicultura oeconomica“. Es gilt, sich der Nachhaltigkeit neu anzunähern und ihr ökologisches, soziales und ökonomisches Spektrum neu aufzustellen. Was verstehen wir unter nachhaltiger wirtschaften?

Weshalb erhält im Blick auf die aktuelle Corona-Pandemie das Konzept der Nachhaltigkeit eine neue Dimension?

Als Stichwort möchte ich die Müllproblematik nennen, die gerade enorme Dynamik durch die deutliche Steigerung der Müllproduktion privater Haushalte sowie durch den Corona-Müll erfährt. Ein weiteres Stichwort ist der Verzicht auf touristische Reisen, die manche Menschen verstärkt über den Sinn und den Zweck solcher Reisen nachdenken lässt. In diesem Kontext sind gleichfalls dienstliche Reisen zu sehen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Zur Person:

Dr. Constanze N. Pomp studierte an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz im Magisterstudiengang das Hauptfach Kulturanthropologie/Volkskunde sowie die Nebenfächer Buchwissenschaft und Christliche Archäologie & Byzantinische Kunstgeschichte. 2014 wurde sie dort promoviert und hatte Lehraufträge am Institut für Film-, Theater- und empirische Kulturwissenschaft. Von 2017 bis 2019 absolvierte sie am TECHNOSEUM Landesmuseum für Technik und Arbeit in Mannheim ihr wissenschaftliches Volontariat. In dieser Zeit arbeitete sie unter anderem bei der Konzeption der Großen Landesausstellung Baden-Württemberg „Fertig? Los! Die Geschichte von Sport und Technik“ mit. Von 2018 bis 2019 war sie im Arbeitskreis Volontariat des Deutschen Museumsbundes (DMB) aktiv. Seit März 2019 ist sie am TECHNOSEUM in der Stabsstelle Freundeskreise und Ehrenamt für die Koordinierung der Ehrenamtlichen zuständig.

Weiterführende Informationen

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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