Werden Schulen zu Baracken der Bildung?
„Ich denke darüber nach, den Job an den Nagel zu hängen“, sagte der Direktor einer Schule vor Kurzem zu mir. „Stattdessen möchte ich eine neue Karriere starten und ins Beratungsgeschäft einsteigen.“ Ich war baff. Schließlich weiß ich, dass er die Arbeit mit den Kindern sehr schätzt und seinen Beruf bis dato gern ausübte.
In den Schulen tut sich was. Leider nicht zum Positiven. Denn der mir bekannte Direktor ist nicht der Einzige, der sich mit diesem Gedanken rumschlägt. War unser Bildungssystem schon vor der Corona-Krise marode, sind die Defizite jetzt ganz klar ersichtlich. Die Unterrichtsversorgung stockt, Lehrkräfte werfen das Handtuch oder sorgen sich zumindest massiv um das Bildungsniveau ihrer Schüler:innen. Gleichzeitig verzweifeln Direktor:innen an der Bürokratie.
Eigenständigkeit? Bitte nicht!
Schon in den vergangenen Jahren fiel mir in Gesprächen mit Lehrer:innen und weiteren Schulleiter:innen der resignierte Unterton in ihren Erzählungen auf. Ob es eine Grundschullehrerin war, die sagte, sie sei froh, in Rente zu gehen, denn sie hätte keine Chance mehr, ihre Ideen gegen die Behörden durchzusetzen – oder die eigene Schwiegermutter, die ihre Gestaltungsmöglichkeiten durch die unflexiblen Vorgaben im Keim erstickt sah. Die Folge: In vielen Gemeinden Österreichs und Deutschlands mangelt es an Schulleiter:innen und Lehrkräften. Das System bringt also mehr und mehr Menschen dazu, am Apparat der Schule nicht mehr teilnehmen zu wollen. Es macht keinen Spaß mehr.
Noch dazu haben die Verantwortlichen in den Schulen aktuell ein weiteres Problem: Den Unterricht pandemietauglich machen – jedenfalls so, wie es ihnen unter Berücksichtigung der etablierten Schutzmaßnahmen möglich ist. So sagte der Direktor mir im Gespräch, dass ihm der Umgang mit den Corona-Maßnahmen eines extrem deutlich gemacht habe: Er sei als Schulleiter nicht mehr gefragt. Vielmehr fühle er sich als ein Gehilfe der Bürokratie und damit bestenfalls noch als ein Niederlassungsleiter. Kurz: Die Liebe zum Beruf ist ihm und vielen anderen abhandengekommen. Mal dahingestellt, dass wir seit „Drive“ von Daniel H. Pink wissen, dass Motivation ganz viel mit Autonomiegefühl zu tun hat: Seine Beobachtung ist alarmierend.
Bürokratie lähmt das System
Ist das nicht paradox? Schließlich lässt das Schulgesetz ausdrücklich die Freiheit von Lehre und Forschung zu. Woran liegt es also, dass ein kreativ gestalteter Unterricht nicht umzusetzen ist oder nur mit enormen Barrieren? Dass neue Ideen kein Gehör finden? Die Essenz aus den Gesprächen: Letztendlich sitzen die Bürokrat:innen in den Schulämtern am längeren Hebel. Ein völlig standardisiertes System verhindert Innovation, Schüler:innen werden instrumentalisiert und zu Objekten degradiert (siehe auch mein Podcast-Gespräch mit Prof. Dr. Lembke).
Zudem: Die Politik gibt zwar Regeln vor – was tatsächlich in den Schulen passiere, liege aber de facto bei denen, die nicht täglich mit den Kindern vor Ort arbeiten. Bei den Menschen, die in den Ämtern Richtlinien erstellen, die dann in den Schulen und im Unterricht umzusetzen sind. Sie verlangen zum Beispiel Dokumentationen und Nachweise oder stellen eine andere Regel auf, die das Arbeiten mit den Kindern erschwert. Und am Ende geht es auch immer um das Thema Geld. Was nützen die besten Ideen, wenn die Bürokrat:innen zum Beispiel Bildungsschlüssel für Lehrkräfte haben, sodass die Schulen ihre Lehrkräfte nicht in neuen Methoden ausbilden können? Oder wenn eine Schule gar nicht selbst entscheiden kann, ob sie jetzt etwas renovieren lässt, sondern dazu erst die Stadt oder das Schulamt fragen muss?
Daraus folgt zumindest für mich, dass das System Schule so desolat ist, dass man auch keine Kinder in dieses System stecken sollte. Wenn mehr und mehr Menschen, die mit unseren Kindern in der Schule arbeiten, selbst keine Erfüllung mehr sehen, stelle ich mir unweigerlich die Frage: Wirkt sich das nicht direkt auf die Qualität ihrer Arbeit und des Unterrichts aus, aber auch auf das System selbst? Leidet nicht langfristig unter der Resignation auch die Psyche der Lehrpersonen und damit auch die der Kids? Warum also Kindern etwas zumuten, das toxisch wirken kann?
Wenn Schule kein Ort mehr ist, an dem die Lehrer:innen und Direktor:innen sein wollen, also die Menschen, die diese Schule gestalten, wie kann sie dann ein Ort für unsere Kinder sein?