Werte der Menschlichkeit: Was Ost und West verbinden sollte
Vom Sinn unseres Lebens
Als das Internet 30 Jahre alt wurde, saß Michael Nast an seinem Schreibtisch und blätterte im Buch „Vom Sinn unseres Lebens“, das ihm im April 1989 zur Jugendweihe in der DDR überreicht wurde. Der Untertitel „Und andere Missverständnisse zwischen Ost und West“ seines gleichnamigen Buches suggeriert auf den ersten Blick, dass es um Trennendes und Vorurteile geht. Aber es ist auch ein bemerkenswertes Buch über Nachhaltigkeit und das, was uns in Zeiten des Umbruchs alle miteinander verbindet. Beispielsweise die Erkenntnis, „dass unsere Wegwerfgesellschaft kein Zukunftskonzept zu bieten hat und ein Umdenken dringend nötig ist.“ Die junge Generation hat dies weitgehend verstanden. Relevant ist für sie eher das, was sie jetzt verändern kann. „Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut“, skandieren sie. Die Slogans von den Klimastreiks in München und Zürich zeigen, dass Schrankwänden (cabinets) mehr Verstand zugetraut wird als Regierungen, aus null Kalorien (= Cola Zero) null Emissionen (= Zero Carbon) werden. So macht die Young Generation derzeit der Politik und der Wirtschaft Beine geht dafür auch auf die Straße. Michael Nast, dessen Buch „Generation Beziehungsunfähig" Bestseller des Jahres 2016 war und der 2018 seinen ersten Roman „#EGOLAND" veröffentlichte, ist davon überzeugt, dass wir etwas bewirken und Dinge verändern können.
„Mangel gibt den Dingen eine Bedeutung, Überfluss nimmt sie ihnen“
In seinem Buch beschreibt er das in der DDR weitverbreitete Phänomen, nichts wegzuwerfen zu wollen, denn es hätte später noch Verwendung finden können. Auch wenn dies ein Resultat der Mangelwirtschaft war, so ist das Thema heute hochaktuell, weil es um den Wert der Dinge geht in einer kaputten Gesellschaft, in der in immer kürzeren Abständen Maschinen versagen und Alltagsprodukte ihren Geist aufgeben, weil sie ein eingebautes Verfallsdatum haben und Konsumenten zwingt, sofort neue zu kaufen. Zugleich wird mit ständig wechselnden materiellen Gütern das Vakuum an Sinn gefüllt. „Verschrottet wurde ja nüscht“, fasste ein Freund der Eltern von Michael Nast seine DDR-Autokarriere zusammen. „Man reparierte selber.“ Sinn entsteht mit der Erfahrung von Sinnlichkeit: Wir be-greifen von außen Dinge nur, die wir auch von innen verstehen. Die Kultur der Reparatur trägt dazu bei, dass sich Menschen wieder mehr zutrauen, selbst aktiv werden und Verantwortung übernehmen.
Mangel ist gewiss nicht erstrebenswert, doch führt er nach Nast zu einem gesünderen Konsumverhalten. „Die Menschen in der DDR konsumierten gesünder.“ Sich mit Mangelwirtschaft auseinanderzusetzen bedeutet auch, vor dem Einkauf nachzudenken und bestimmte Produkte nicht mehr zu kaufen. Der Textildiscounter Primark steht beispielsweise immer wieder in der Kritik. Er gilt als das schwarze Schaf der Branche. Ein einziger Besuch spiegelt die Verkaufsstrategie des irischen Textildiscounters wider. In bester Innenstadtlage findet sich ein großes Sortiment an Textilien: Damen- und Herrenkleidung, Accessoires, Kindersachen, Schuhe - alles zu niedrigsten Preisen und in mäßiger Qualität. Gekauft wird nach dem Wegwerfprinzip („Fast Fashion“). Nast hat noch nie in seinem Leben eine Primark-Filiale betreten. Er besitzt auch Apple-Produkte, obwohl er weiß, dass hier Teile der Wertschöpfungskette wie die Arbeitsbedingungen „ethisch nicht vertretbar“ sind: „Das Problem, das wir so gern ausblenden, ist ja, dass ihr Leid das Fundament der Vorzüge unserer Welt ist, dass unser Wohlstand und unser Luxus nur durch ihr Leiden möglich sind.“ Er verweist in diesem Zusammenhang auch darauf, dass sich gerade die Ostdeutschen in die Situation der Ausgebeuteten hineinversetzen können, denn gerade sie „waren früher für den Westen das, was die Dritte Welt heute für uns ist“: billige Arbeitskräfte, die Produkte herstellten, die ausschließlich für den Export bestimmt waren und dann im Quelle-Katalog oder bei IKEA günstig verkauft wurden.
Heute sind wir in der Übergangszeit des Nicht-mehr und Noch-nicht alle von der Neuen Zeit betroffen, denn „wir erleben, wie durch die digitale Revolution etwas vollkommen Neues entsteht, das nur schwer einzuschätzen ist.“ Die Zeit scheint zuweilen aus den Fugen zu sein, und der Boden, auf dem wir heute stehen, „rumort und schwankt.“ Doch wenn man erkennt, welche Werte heute und gepflegt und kultiviert werden sollten, „kann die Zeit, in der wir uns gerade bewegen, eine große Chance sein.“ Das Wort „kultivieren“ benutzt Michael Nass nicht nur zufällig. Es verweist darauf, unsere Aufgabe und unser Leben zu meistern, und „Land“ urbar zu machen. Für ihn ist es auch mit dem Gedanken von Entwicklung verbunden und nicht des simplen Erwerbs: Diese Ressourcen sollten früh entwickelt werden, damit sie einem dienen können, und nicht erst dann, wenn man sie braucht. „Es sind Werte der Menschlichkeit, die in der DDR mehr kultiviert wurde als heute – nicht durch das System, sondern bedingt durch das System.“ Sein Buch bietet Orientierung und informiert in Zeiten des Wandels auf unterhaltsame Weise über das, was richtig und gerecht ist. Und es stellt Sinnfragen: „Was für ein Mensch möchte ich sein und wofür möchte ich die kurze Zeit, in der ich lebe, nutzen?“
Was bleibt
In der Vergangenheit suchten Politiker immer wieder die Nähe zu Schriftstellern, die heute weitgehend aus dem Bild der Öffentlichkeit verschwunden sind. Arm in Arm sieht man Politiker heute höchstens mit Schauspielern, Fußballstars oder Rocksängern. Ein wirkungsloser Schein-Ersatz, der jedoch nicht davor schützt, im Chaos der Welt zu versinken. Die Sprache dieser Politiker ist der Ausdruck ihrer Welt. Wie banal sie ist, beschrieb Roger Willemsen in seinem Bestseller „Das Hohe Haus“. Um zu jenen vorzudringen, die uns heute Orientierung bieten und auch jungen Menschen ein Vorbild sein können, müssen wir das Hohe Haus verlassen und hinabsteigen in den kulturellen Nährboden des wahren Denkens. Die ihn pflegen, zeigen uns nicht nur die Fülle und den Sinn des Lebens, sondern auch die Fülle der Möglichkeiten unseres Handelns in schwierigen Zeiten. Zu ihnen gehört auch Michael Nast, für den Schreiben schon immer seine Art war, sich selbst und die Welt besser zu begreifen. Beim ersten Umbruch seines Lebens war er 14 Jahre alt. Die Aufbruchstimmung, die sich durch den Sommer 1989 zog und die Herbst-Demonstration beschreibt er im Buch als „aufregende Monate voller Energie“, denn täglich passierte etwas Neues. Schon damals hat er begriffen, dass es eine große Chance war. Aufgewachsen in Ost-Berlin, wurde Nast in der DDR „sozialisiert“, war aber noch jung genug, um sich im neuen westlichen System zurechtzufinden. In Köln, wo er viele Jahre als Artdirektor in der Werbebranche arbeitete, hörte er zum ersten Mal den Begriff „Zone“ für die DDR. Die Wende war damals mittlerweile zehn Jahre her, doch von den 150 Mitarbeitern gab es nur einen, der aus Ostdeutschland kam. Nast war der „Quotenossi“. Er kennt einige Ostdeutsche, denen es peinlich war, als solche erkannt zu werden. Diese Ostler wollten für Westler gehalten werden. Bei Nast war es umgekehrt: „Erst die Umstände in dieser Stadt haben mich zu einem sehr selbstbewussten Ost-Berliner gemacht.“
Wie sich Michael Nast, Jahrgang 1975, den Westen als Jugendlicher dachte, fügte sich aus Fernsehwerbung und Serien wie „Ich heirate eine Familie“, „Die Wicherts von nebenan“ oder „Schwarzwaldklinik“ zusammen. Die Bilder wurden vom Geruch ergänzt, „der aus Westpaketen strömte, die unsere bayrische Verwandtschaft gelegentlich geschickt hatte.“ Von ihrem „frischen, wertvollen Duft“ wurde Michael Nast „fast schwindelig“. Der Geruch von damals „war eine Mischung aus verschiedenen Bestandteilen“ (Kaffee und Kakao, Seife und Schokolade), bemerkt die Kulturwissenschaftlerin Dr. Konstanze Soch, Jahrgang 1988, in ihrem Buch „Eine große Freude? Der innerdeutsche Paketverkehr im Kalten Krieg (1949-1989)“. Auch heute sind die Geschenksendungen zwischen Ost- und Westdeutschland im Fokus der Erinnerungskultur („Päckchengedächtnis“) jeder deutschen Familie. Soch betrachtet beide Paketarten nicht getrennt voneinander, sondern fokussiert den beziehungsgeschichtlichen Aspekt. Doch wie wirkte sich die Wiedervereinigung auf die Versender und Empfänger der Päckchen und Pakete aus? „Einem Teil gelang es, die verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Beziehungen aufrechtzuerhalten und teilweise sogar zu intensivieren, wohingegen bei manchen mit dem Mauerfall und dem Ende des Versands auch ein Ende des Kontakts einherging.“
Zudem waren viele Empfänger aus dem Osten darüber empört, dass der Inhalt der Pakete nicht so teuer war wie erwartet, da man nun „bei Aldi kucken konnte, was es kostet“, zitiert sie eine Gesprächspartnerin. Einige empfanden dies als „eine Art Herabwürdigung ihrer Person“. Der Westen wurde von ihnen mit Wertigkeit in Verbindung gebracht, unbewusst gingen sie davon aus, „dass auch der Inhalt der Pakete entsprechend hochpreisig war.“ Auch Michael Nast hat das „westdeutsche Konzept“ durchschaut und beherrscht die Spielregeln. Dazu gehört heute auch, sich „verkaufen“ können, mehr zu scheinen als zu sein und sich darzustellen: bei Instagram, in Bewerbungsgesprächen oder im Privatleben. „Man ist nicht der, der man ist – man ist der, für den einen die anderen halten wollen. Und man nimmt an, dass man die Person darstellt, für die man selbst gehalten werden will.“ Das reflektierte er auch schon in einem Bestseller "Generation Beziehungsunfähig": „Wir müssen uns verkaufen, inszenieren und vermarkten. Wir müssen attraktiv, dynamisch und optimistisch sein. Wir sind gewissermaßen unsere eigene Marke. Wir müssen uns verstellen. Wenn wir eine Rolle spielen, geht es nicht um uns selbst, es geht um ein Image, das wir darstellen wollen.“ Das ist für ihn auf beiden Seiten das große Missverständnis. Der richtige, wahrhaftige Weg wäre es für ihn, alles zu entfernen und auf das zu sehen, was bleibt, wenn der äußere Schein zerfällt: „Welcher Mensch kommt dann zum Vorschein?“
Weiterführende Informationen:
Michael Nast: Vom Sinn unseres Lebens. Und andere Missverständnisse zwischen Ost und West. Edel Germany GmbH. Hamburg 2019.
Michael Nast: Generation Beziehungsunfähig. Verlag Edel Germany GmbH, Hamburg 2016.
Konstanze Soch: Eine große Freude? Der innerdeutsche Paketverkehr im Kalten Krieg (1949-1989). Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2018.