Wettlauf zur Klimaneutralität: Warum Unternehmen einen langen Atem brauchen, um zu gewinnen
Umwelt- und Klimaschutz sind für Unternehmen immer wichtiger geworden. Zu den Gründen gehören nicht nur der steigende Druck der Stakeholder, sondern auch neue Regularien wie die Taxonomie, CSRD, MaRisk, Lieferkettengesetz, Offenlegungsverordnung, ESG-Risiken, Transformationsfinanzierung, Greenwashing, Impact Messung, Biodiversität, Net Zero oder Corporate Sustainability Due Diligance (CSDD). Um den Klimawandel beherrschbar zu halten, müssen Unternehmen deutlich weniger Treibhausgase ausstoßen - allerdings ist CO2-neutrale Produktion in vielen Fällen nicht möglich. Energieintensive Unternehmen sind dazu verpflichtet, CO2-Zertifikate zur Kompensation zu erwerben. Doch auch CO2-Kompensation wird die Klimabilanz der deutschen Wirtschaft nicht retten. Deshalb werden Investitionen in klimafreundlichere Technologien benötigt, die dazu geeignet sind, bereits freigesetzte Treibhausgase wieder aus der Luft und der Atmosphäre zu holen.
Es gibt bereits funktionierende Technologien, bei denen CO₂ aus der Luft gefiltert und im Untergrund gespeichert wird. Doch die Industrie für die Entnahme befindet sich noch am Anfang. Wie schnell die CO₂-Entnahme-Zertifikate für Unternehmen eine Alternative sein können, hängt davon ab, wie viel in diese Industrie investiert wird und wie gut sich der entstehende Markt für CO₂-Entnahme-Zertifikate behauptet. Damit die Industrie in „Bewegung“ kommt, müssen mehr Unternehmen in diesen Sektor hineingehen, auch vonseiten der Regierungen muss es mehr Klarheit geben, schreiben der Umweltökonom Benedict Probst und Marian Krüger, Experte für Dekarbonisierung, in ihrem Buch „Race to Zero. Wie Unternehmen den Wettlauf zur Klimaneutralität gewinnen“.
Dr. Benedict Probst ist Umweltökonom an der ETH Zürich und Universität Cambridge, Berater und Autor. Zuletzt ist von ihm das Buch „Save For the Planet. Wie du nachhaltig investierst“ im Rowohlt Verlag erschienen (mit Nina Martin). Marian Krüger ist Gründer und Leiter von remove, einer Organisation zur Unterstützung europäischer Carbon Removal Start-ups. Zuvor leitete der studierte Verhaltensökonom das Sustainability in Business Lab an der ETH Zürich, beriet Industrieunternehmen und öffentliche Institutionen zur Dekarbonisierung und gründete ein erfolgreiches Solar-Start-up. Die Autoren zeigen in ihrem aktuellen Buch Möglichkeiten der Kohlendioxid-Entfernung auf, geben praktische Tipps, wie Unternehmen die neuen Technologien selbst nutzen können, um ihre CO2-Bilanz zu verbessern und geben wichtige Handlungsempfehlungen, wie Unternehmen Restemissionen wirksam ausgleichen können.
Etliche der aktuellen Kompensationsarten sind ineffektiv und weisen Qualitätsmängel auf, die darauf hindeuten, dass das Problem systemisch ist: „Weder Projektentwickler noch Zertifizierer, noch der Käufer haben einen Anreiz, nur in begrenztem Maße Zertifikate auf den Markt zu bringen oder zu kaufen. Das führt dazu, dass zu viele davon ausgeschüttet werden“, so Benedict Probst. Auch sind CO₂-Zertifikate häufig nicht ausreichend geprüft, um wissenschaftlichen Standards zu entsprechen. Eine Vielzahl von Unternehmen finanziert zum Beispiel die Aufforstung von Regenwäldern oder die Anschaffung von Solarkochern in ärmeren Ländern. Dabei sind etliche dieser Projekte für den Klimaschutz unwirksam: „Auch bei effizienten Brennöfen mehren sich Zweifel. […] Auch hier gilt dieselbe Logik wie beim Waldschutz oder erneuerbaren Energien: Wenn ein effizienterer Ofen zum Einsatz kommt, können die vermiedenen Emissionen weiterverkauft werden. Jedoch schätzt eine Studie der Berkeley Universität, dass diese Projekte ein Vielfaches an Zertifikaten zum Verkauf angeboten haben, wie sie tatsächlich CO2 eingespart haben.“
Würden die Wälder abbrennen (was in Zeiten des Klimawandels keine Seltenheit ist), wird das von den Bäumen gespeicherte CO2 wieder freigesetzt – die Klimaschutzwirkung geht dann verloren. Mehrere Studien verweisen darauf, dass viele der Waldschutzprojekte gar keinen Wald geschützt haben, aber dennoch CO₂-Zertifikate verkauft wurden. Diese Projekte wären „nicht dafür geeignet, eine CO₂-Kompensation auszuweisen, weil sie die zeitliche Dimension nicht berücksichtigen.“ Waldschutz und erneuerbare Energien sind zwar weiterhin wichtig, aber nicht als Projekte zur Kompensation von CO₂-Emissionen, so die Autoren. Aus ihrer Sicht müssen Unternehmen deshalb in andere Kompensationsarten investieren: Wir müssen von einem System wegkommen, das primär auf Vermeidung von Emissionen durch Waldschutzprojekte und Projekte zur CO2-Entfernung mit kurzfristigem Speicher wie Aufforstung gesetzt hat. Da CO₂ ein sehr langlebiges Klimagas ist, kann es auch nur durch langfristige Projekte ausgeglichen werden: „Für Nettonull muss die Tonne genauso lange aus der Luft entfernt werden, wie die emittierte Tonne CO2 in der Luft verweilt.“ Das bedeutet für mindestens 1000 Jahre. Auch der Leitfaden für Carbon-Offsetting der University of Oxford verweist darauf, dass langfristig mehr auf die Entnahme gesetzt werden muss, weil nur diese Zertifikate wirklich dafür geeignet sind, effektiv zu kompensieren. Andere Projekttypen werden vermutlich langfristig verschwinden oder bei der Kompensation keine große Rolle mehr spielen (nur noch als Beitrag zum Klimaschutz, nicht zur CO₂-Kompensation).
In der ersten Gruppe finden sich rein naturbasierte Lösungen wie die Ausweitung der regenerativen Landwirtschaft. Auch die kann helfen, CO2 dauerhaft aus der Atmosphäre zu entfernen.
In der zweiten Gruppe werden rein technische Lösungen beschrieben wie das Direct Air Capture, bei dem CO2 mit speziellen Anlagen aus der Luft gefiltert wird.
Die dritte Gruppe umfasst hybride Lösungen, die natürliche, CO2-bindende Prozesse wie die Verwitterung von Gestein technisch beschleunigen.
Einer guten CO2-Kompensation liegt eine zusätzliche CO2-Entfernung zugrunde, „die permanent ist, klar gemessen und überwacht werden kann und ohne die Finanzierung durch CO2-Zertifikate nicht geschehen wäre. Diese Lösungen sollten ohne substanzielle negative Nebeneffekte skaliert werden können.“ Zudem wird auch an die Politik appeliert, die junge Branche der CO2-Entfernung stärker zu fördern: „Hier könnte die Integration in bestehende Emissionshandelssysteme wie das europäische Emissionshandelssystem einen großen Unterschied machen. […] Aber nicht nur auf der Nachfrageseite ist staatliche Unterstützung wichtig. Mit einer Förderung der Angebotsseite durch Unterstützung wissenschaftlicher Forschung und dem Bau von Demonstrationsanlagen und großskaligen Prototypen können Regierungen hier der jungen Industrie der CO2-Entfernung unter die Arme greifen.“ Auch die Wissenschaft ist für die Autoren ein wichtiges Korrektiv. Viele Studien waren der Anstoß für Recherchen, Berichte und politische Maßnahmen. Sie können maßgeblich dazu beitragen, den aktuellen Markt „ehrlich zu machen“. Die Wissenschaft sollte die Spielregeln mitgestalten – vor allem, wenn es um die Berichterstattung der tatsächlich entnommenen Emissionen geht. Um sicherzustellen, dass die zertifizierte Tonne CO₂, die laut Zertifikat entfernt wurde, auch tatsächlich entfernt wurde und nur dann angerechnet werden kann, muss es klare wissenschaftliche Standards geben. Der gesetzliche Rahmen muss die Einhaltung sicherstellen.
Der Titel des Buches „Race to Zero“ enthält eine großartige Symbolik: Wer das Thema Klimaneutralität als Wettlauf sieht, agiert anders - nämlich so pragmatisch wie möglich, immer an den nächsten Schritt denkend und Chancen nutzend. Entscheidend ist auch der Blick auf wesentliche Dinge. Damit verbunden ist die Gabe, sich konzentrieren zu können, aber dennoch wahrzunehmen, was in Umwelt und Gesellschaft geschieht. Unternehmen sollten ständig und „sportlich“ daran arbeiten, ihre Grenze zu verschieben und ans Limit zu gehen. Wer es nicht tut, ist langsamer, weil er etwa in den Kurven rutscht. Sie sollten ihre Leistungsfähigkeit komplett ausschöpfen und genau den Punkt treffen. Damit verbunden ist auch die Anpassungsfähigkeit an sich ständig verändernden Herausforderungen und Rahmenbedingungen (Klimawandel, Kriege, Inflation). Mitarbeitende eines Ressorts oder einer Abteilung können sich wie Rennfahrer mit dem Team aneinander reiben und gegenseitig abschleifen, bis sich eine Einheit (ein System sich ergänzender Stärken) entwickelt, bis alle mit Vehemenz das gleiche Ziel verfolgen. Erst die Kombination und die gemeinsame Suche nach Schwachstellen ermöglicht nachhaltigen Erfolg. All das braucht es auch, um die Wirtschaft treibhausgasneutral umzubauen.
Das spiegelt sich nach Ansicht der Autoren auch in den Klimazielen wider: „Über 4000 Unternehmen hatten im Dezember 2023 bereits mithilfe der Science Based Target Initiative ambitionierte Ziele entwickelt.“ Ziel der von den Vereinten Nationen (UN) unterstützten gemeinnützigen Initiative Science Based Targets (SBTi) von CDP, UN Global Compact, World Resources Institute und dem WWF ist es, unternehmerische Klimaziele in Einklang mit den Erkenntnissen der Klimawissenschaft zu bringen. Es geht um die Festlegung wissenschaftlich fundierter Ziele zur Einsparung von Emissionen, die mit den Szenarien, Kriterien und Empfehlungen zur Begrenzung der globalen Erwärmung auf 1,5 ° C vereinbar sind. Die Initiative schreibt vor, dass Unternehmen 90 Prozent ihrer Emissionen vermeiden sollen. Für viele Unternehmen ist diese Art der CO₂-Kompensation allerdings noch neu. Die langfristige CO₂-Entnahme ist besser zur Kompensation geeignet, weil dabei in der Regel präziser berechnet werden kann, wie viele Tonnen aus der Atmosphäre entnommen werden. Das steht im Gegensatz zu den meisten Kompensationsprojekten, deren Berechnungen häufig Szenarien und Hypothesen zu Grunde liegen. Es werden allerdings nur Unternehmen akkreditiert, die ernsthafte Pläne zur Kohlenstoffreduzierung haben, um Greenwashing auszuschließen.
„Klimafreundlicher zu wirtschaften, ist selbstredend nicht unbedingt billig. Aber noch teurer ist es, nichts zu tun.“ Benedict Probst und Marian Krüger
Benedict Probst, Marian Krüger: Race to Zero. Wie Unternehmen den Wettlauf zur Klimaneutralität gewinnen. Mit Illustrationen von Lorna Schütte. Campus Verlag, Frankfurt, New York 2024.
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Klimaneutralität in der Industrie. Aktuelle Entwicklungen – Praxisberichte – Handlungsempfehlungen. Hg. von Ulrike Böhm, Alexandra Hildebrandt, Stefanie Kästle. Springer Gabler Verlag, Heidelberg, Berlin 2023.