Wie Amazon Aldi und Lidl mit Eigenmarken attackiert
Amazon hat sein Angebot mit günstigen Lebensmitteln und Drogerieartikeln deutlich ausgeweitet. Was das für Verbraucher und Produzenten bedeutet.
New York, Düsseldorf. Amazon bietet in Deutschland immer mehr Waren des täglichen Bedarfs unter seiner Eigenmarke an – und baut sich damit zum Konkurrenten von Aldi und Lidl auf. Das Angebot der Marke „Our Essentials by Amazon“ reicht von Pfeffer über Dosenmais, Kaffee und Konfitüre bis hin zu Duschgel, Toilettenpapier und Rasierklingen, entspricht also dem Sortimentskern von Supermärkten und Discountern. Branchenkenner werten den heimlichen Ausbau als Angriff des Internetgiganten auf den Handel.
Mittlerweile gibt es hierzulande 150 Produkte allein von dieser Preiseinstiegsmarke – fast sechs Mal so viele wie zum Start des Angebots im Januar 2022. Jüngst hat Amazon die Zahl stark erhöht, wie eine Auswertung der Preisvergleichs-App Smhaggle für das Handelsblatt zeigt. Insgesamt bietet Amazon schon 500 Alltagsprodukte unter verschiedenen Eigenmarken an.
Amazon wollte die Zahlen auf Anfrage nicht kommentieren. In Konzernkreisen heißt es aber, dass man weiter in das Eigenmarkengeschäft investieren wolle.
Der Internetkonzern springt damit auf den Trend zu günstigen Handelsmarken auf, die in Zeiten der Inflation Marktanteile gewinnen. „Viele Verbraucher können durchaus auf die Idee kommen, Alltagsprodukte bei Amazon mitzubestellen“, sagt Kai Hudetz, Geschäftsführer des Handelsforschungsinstituts IFH Köln. Amazon genieße ein hohes Vertrauen.
Ein Selbstläufer werde das zwar nicht, Verbraucher seien noch stark darauf konditioniert, Konsumgüter im stationären Handel zu kaufen. Doch dieses Verhalten ändere sich langsam, so Hudetz. Der Internetriese sei sehr lernfähig, „deshalb sollte der Handel Amazon bei dem Thema nicht unterschätzen“.
Amazon bietet zwar keine frischen Lebensmittel unter seiner Eigenmarke an, dennoch dringt der Konzern in das Kerngeschäft der Discounter vor. Aldi und Lidl erzielen laut Branchenkennern rund 80 Prozent ihres Umsatzes damit. Auch für Vollsortimenter wie Rewe und Edeka und Drogerien wie dm und Rossmann werden Marken wie „Ja“, „Gut & Günstig“ oder „Balea“ bedeutsamer.
Jetzt Handelsblatt Premium zum Vorteilspreis sichern - Zum Angebot
Das neue Amazon-Angebot wurde „zur Kenntnis genommen“
Bis auf die Drogerien wollten sich die Händler auf Anfrage nicht zum Vorstoß von Amazon äußern. Man habe „das erweiterte Sortimentsangebot von Amazon zur Kenntnis genommen“, teilte dm mit – dm-Kunden profitierten von einem vielfältigen Sortiment, bekannten Marken und könnten etwa Express-Lieferungen in Anspruch nehmen.
Für Rossmann spielt das neue Angebot von Amazon „keine nennenswerte Rolle“. „Amazon versucht in einem Segment erfolgreich zu sein, wo es anderen bisher noch nicht gelungen ist.“ Onlineumsätze mit Drogerieartikeln seien in Deutschland nach wie vor klein. Es gebe so viele Drogeriefilialen, „dass der stationäre Einkauf ungebrochen sehr gefragt“ sei.
Handelsmarken, auf die Amazon setzt, liegen im Trend. „Kunden weltweit entscheiden sich häufiger für Eigenmarken“, heißt es in Konzernkreisen. Vor allem in Deutschland kaufen Verbraucher bei Alltagsprodukten seltener Marken ein, weil sie angesichts steigender Lebenshaltungskosten sparen müssen.
Im ersten Halbjahr 2023 steigerten Handelsmarken ihre Umsätze im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 19,1 Prozent, bei Marken lag das Plus nur bei 3,8 Prozent, wie Daten des Marktforschers GfK zeigen. Eigenmarken haben innerhalb eines Jahres fünf Milliarden Euro an Umsatz zugelegt, ihr Marktanteil liegt bei 45,9 Prozent.
Noch ist das Angebot von Amazon allerdings kleiner als das der Konkurrenz: Gibt es dort 500 Eigenmarkenprodukte, sind es bei Discountern rund 2000, in Supermärkten und Warenhäusern gar über 5000. Gegenüber den etablierten Anbietern hat Amazon aber einen gewichtigen Vorteil: die Logistik.
„Prime“-Kunden, die jährlich 90 Euro etwa für eine bevorzugte Lieferung bezahlen, bekommen auch die neuen Eigenmarken bundesweit, ohne Mindestbestellwert und oft bereits einen Tag nach der Bestellung ohne Gebühr zugestellt. Branchenkenner schätzen, dass gut die Hälfte der rund 41 Millionen Haushalte in Deutschland Prime nutzen. Andere Amazon-Kunden werden erst ab einem Bestellwert von 39 Euro kostenfrei beliefert.
Zum Vergleich: Aldi Süd liefert bei seinem Angebot, das der Discounter in drei Städten im Ruhrgebiet testet, erst ab einem Bestellwert von 50 Euro umsonst. Rewe verlangt bis zu einem Warenkorb von 120 Euro fast fünf Euro – bietet seinen Service aber in immer mehr Regionen an. Auch der zur Oetker-Gruppe gehörende Getränkedienst Flaschenpost nimmt mittlerweile Gebühren von bis zu 3,90 Euro. Auf Liefergebühren verzichtet nur der Anbieter Picnic, der im Ruhrgebiet, in Berlin, Hamburg und neuerdings im Frankfurter Raum ausliefert.
Gebühren schrecken Verbraucher ab. In einer nennenswerten Zahl würden sich Konsumenten Lebensmittel nur liefern lassen, wenn der Transport gratis sei oder die Kosten etwa durch Jahresbeiträge nicht direkt sichtbar seien, so Handelskenner Hudetz.
Neue Partner für Handelsmarkenhersteller
Der Onlinehandel mit Lebensmitteln könnte 2030 laut IFH Köln über 22 Milliarden Euro betragen – er wäre dann fast fünf Mal so groß wie 2020. „Spätestens seit der Pandemie haben Kundinnen und Kunden ein größeres Vertrauen in Lebensmittellieferdienste.“
Für Hersteller kommt mit Amazon ein neuer und potenter Vertriebspartner hinzu. Bisher sind Handelsmarkenproduzenten stark abhängig von den vier dominierenden Händlern Edeka, Rewe, Aldi und Lidl. Diese spielen ihre Marktmacht bei Preisverhandlungen oft gnadenlos aus, klagen die Hersteller. Sie haben das Nachsehen, weil sie oft austauschbarer sind als Markenartikler.
„Grundsätzlich ist es sehr zu begrüßen, mit Amazon einen weiteren Händler am Markt zu haben, der auch entsprechende Reichweiten mitbringt und neue Kanäle bespielt“, sagt ein Amazon-Lieferant, der ungenannt bleiben möchte. Vom Auftreten und bei den Konditionen unterscheide sich der Internetkonzern kaum von stationären Händlern. Man merke allerdings, dass Amazon noch im „Lernprozess“ sei – etwa was Absprachen über Logistik und Handling angehe, berichtet der Hersteller.
Amazon bekommt seine Produkte auch von Produzenten, die die etablierten Anbieter beliefern – teilweise Tochterfirmen bekannter Markenhersteller. Explizit nennt Amazon die Produzenten auf der Verpackung nicht. Bei Nahrungsmitteln sind sie aber anhand der Herstellernummer identifizierbar. So produziert Feinkost Appel aus Cuxhaven Heringsfilet in Tomatencreme von Amazon Essentials. Die Firma äußerte sich auf Anfrage nicht.
Jetzt Handelsblatt Premium zum Vorteilspreis sichern - Zum Angebot
Amazon: Milliardenumsätze mit Eigenmarken – und Ärger mit den Behörden
Amazon setzt schon länger auf Eigenmarken. Unter dem Namen „Amazon Basics“ brachte der Konzern in den USA bereits 2009 erste Elektronikgeräte heraus. Auch für Kleidung oder Möbel hat Amazon Dutzende Eigenmarken entwickelt. Bei Konsumgütern heißen die Einstiegsmarken „Our Essentials“, die Dachmarke „by Amazon“ steht für das mittelpreisige Segment, Premiumwaren nennen sich „Our Selection“.
In seinem Geschäftsbericht weist Amazon die Umsätze seiner Eigenmarken nicht gesondert aus. Sie sollen mit steigender Tendenz im einstelligen Prozentbereich liegen, heißt es in Konzernkreisen – das wäre ein Betrag in niedriger einstelliger Milliardenhöhe. Amazon erwirtschaftete 2022 einen Umsatz von 514 Milliarden US-Dollar (479 Milliarden Euro).
Die Hausmarken haben Amazon schon den Ärger der Wettbewerbshüter eingebracht. Diese werfen der Firma vor, ihr Wissen über das Geschäft von externen Anbietern auf der Plattform zu nutzen, um deren Produkte zu kopieren und unter der eigenen Marke zu günstigeren Preisen auf den Markt zu bringen. Zudem zeige Amazon seine Marken oft prominenter als Konkurrenzangebote, so der Vorwurf.
Vor einem US-Untersuchungsausschuss hatte der damalige CEO und Firmengründer Jeff Bezos 2020 ein Fehlverhalten nicht ausgeschlossen. Es gebe Vorschriften, „aber ich kann nicht garantieren, dass dagegen nie verstoßen wurde“. Auf Handelsblatt-Anfrage versicherte ein Sprecher nun, dass man nur „öffentlich verfügbare Daten“ nutze. Man ziehe „eine klare Grenze“ gegen die Verwendung interner Daten von Herstellern und Händlern, die auf der Plattform sind.
Das Geschäft mit Eigenmarken ist selbst für Amazon nicht automatisch gewinnträchtig. So hat der Konzern etwa im Modebereich zuletzt einige Eigenmarken wieder eingestellt. Auch das Vorhaben, hierzulande frische Lebensmittel zu liefern, stockt. Das Angebot gibt es weiter nur in den Metropolen Berlin, Hamburg und München. Logistik und Kühlung sind bei frischen Lebensmitteln aufwendig und kostspielig. Bislang wirtschaftet hierzulande kein Lebensmittellieferdienst profitabel.
Die Lieferung von abgepackten Lebensmitteln und Kosmetik ist nicht so komplex. Dass Amazon dieses Sortiment auch in anderen europäischen Ländern ausbaut, werten Experten als Zeichen für ein lohnendes Geschäft.
Erste Artikel der Niedrigpreismarke „Our Essentials“ finden sich auch in Großbritannien, Frankreich, Spanien und Italien. Sie sollen dort sukzessive andere Eigenmarken ablösen. In Italien etwa gibt es 73 Produkte, von Kaffeekapseln bis zum Dosenthunfisch. In Lettland hingegen ist das Angebot durch lange Lieferzeiten und höhere Versandkosten weniger attraktiv.
Amazon experimentiert mit Preisen
In Deutschland deuten überwiegend positive Rezensionen darauf hin, dass Kunden mit den Produkten zufrieden sind. Das dürfte auch daran liegen, dass die Produkte der Amazon-Eigenmarken wegen vergleichbarer Lieferanten dem Angebot des stationären Handels ähneln. Das Design ist vergleichbar und die Packungsgrößen sind oft identisch.
Auch die Preise entsprachen denen von Aldi und Co., zeitweise auf den Cent genau. So kosteten Paprika-Stapelchips von Amazon über Monate 1,49 Euro – und waren damit exakt so teuer wie die Eigenmarken im Handel, zeigen Smhaggle-Auswertungen. Seit Ende August bietet Amazon die Chips aber für 1,64 Euro an.
„Amazon experimentiert bei seinen Eigenmarken seit ein paar Wochen sehr intensiv mit den Preisen und diversen Rabattcoupons“, sagt Sven Reuter, Chef des Smhaggle-Betreibers My-Valueshopping. Unter dem Strich seien die meisten Produkte von Amazon günstiger als die Pendants im Handel. Denn Amazon gewährt ab einem Bestellwert von 50 Euro Rabatte von zehn oder 15 Prozent. Zudem bekommen Erstbesteller und Kunden, die regelmäßig kaufen, weitere Vergünstigungen.
Die Anhebung des Grundpreises zeugt von einer weiterentwickelten Strategie. Amazon scheine sich weniger nur als Preisführer, sondern zunehmend als Preis-Leistungs-Führer positionieren zu wollen, beobachtet Jens von Wedel, Partner bei der Beratung Oliver Wyman. „Das Unternehmen stellt die Wirtschaftlichkeit in seinen reifen Märkten mittlerweile deutlich konsequenter in den Fokus.“ Viele Kunden würden das Gesamtangebot von Amazon aber weiter als preiswert wahrnehmen.
Eigenmarken sind eine der wenigen Möglichkeiten für Händler wie Amazon, im Preiseinstiegssegment Geld zu verdienen. Zudem können die Anbieter mit eigenen Marken ihr Sortiment schneller anpassen – so, wie es nun der Internetgigant versucht.
Jetzt Handelsblatt Premium zum Vorteilspreis sichern - Zum Angebot
Jetzt Handelsblatt Premium zum Vorteilspreis sichern - Zum Angebot
