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Wie berechenbar ist das Leben?

„Goethe steht bei uns hoch im Kurs“

Wie viel Unsicherheit, wie viel Unberechenbarkeit ertragen wir? Lässt sich das Leben berechenbar machen? Was passiert mit uns und der Welt, wenn wir alles zu berechnen versuchen? In welcher Gesellschaft wollen wir leben – vor allem, wenn es schwierig wird? Wie muss eine Gesellschaft aussehen, wie muss sie verfasst, strukturiert und organisiert sein, damit als Ganze und möglichst viele ihrer Einzelteile „gut“ durch Krisen kommt? Was bestimmt unser Leben, aus dem Blick der Wissenschaft? Der Wunsch, Antworten auf diese Fragen zu finden, treibt Harald Lesch und Thomas Schwartz während ihres Aufenthalts bei Goethe in Weimar, wohin sie Mitte März 2020 reisen, und den vielen Tagen danach an. Durch die Corona-Pandemie gewann sie Aktualität - drängend ist sie allerdings schon länger. In ihren Notizen findet sich die Bemerkung: „12. März 2020, Deutschland in Zeiten des Corona-Virus. Mein Name ist Harald Lesch, und meine Utopie wäre, dass ein Land genau dann ökonomisch, sozial, ökologisch und was man sich auch immer für Eigenschaften einfallen lassen könnte, richtig funktioniert, wenn alle von alleine das Richtige tun.“ Einige Zeilen weiter heißt es, dass die Haltung einer souveränen Gesellschaft, die mit sich im Reinen ist, diejenige wäre, „ruhig zu bleiben, sich anzuschauen, was der Fall ist, cool zu bleiben, auch dann, wenn die Krise länger dauert, und mutig zu werden, wenn es notwendig sein sollte, vielleicht ganz neue Schritte zu gehen.“

Eine Krise ist eine Phase, in der sich die Dinge scheiden und danach nichts mehr ist, wie es war. Das griechische Verb krinein bedeutet „trennen“ oder „unterscheiden“. Davon abgeleitet ist „Kritik“ (kritikē téchnē), die die Kunst der Beurteilung bezeichnet. Sie basiert auf der Fähigkeit, Unterschiede zu erkennen. Das Buch unterstützt uns darin, sie zu schulen. Das ist eine wichtige Grundlage für eine perfekte Gesellschaft, „weil sie offen wäre und Möglichkeiten hätte, sich weiterzuentwickeln, „Risiken berechnet und abschätzt – zum Wohle aller“ (Harald Lesch). Als die beiden Autoren in Weimar eintreffen, haben sie allerdings nur eine Ahnung von dem, was in der nächsten Zeit kommen wird: „Sie spaziert mit, diese Ahnung, durch die wunderbare Altstadt Weimars.“ Doch niemand hat mit dem, was dann auf uns zukam, „gerechnet“. Die Corona-Krise hat uns gezeigt, wie schwer es ist, Risiken einzuschätzen. Die Beschäftigung mit diesem Thema ist deshalb so wichtig, weil es heute darum geht, Stabilität zu wahren, auch wenn wir wissen, dass das meiste außerhalb unserer Kontrolle liegt. Es geht deshalb darum, mit Anpassungsfähigkeit und Flexibilität wieder zurück zur eigenen Mitte zu finden, Veränderung als Konstante zu akzeptieren und sich ohne Angst auf das Rad des Lebens zu schwingen.

Das Leben ist mehr als eine Gleichung.

Prof. Harald Lesch, Jahrgang, 1960, ist Astrophysiker, Naturphilosoph und Fernsehmoderator. Er studierte Physik und Philosophie in Gießen und Bonn. Bekannt ist er vor allem als Fernsehmoderator und Autor. Prof. Thomas Schwartz, Jahrgang, 1964, studierte Theologie und Philosophie in Münster, Augsburg und Rom. Er lehrt Wirtschafts- und Unternehmensethik und ist Pfarrer in Mering und ebenfalls bekannt aus mehreren TV-Sendungen. Beide sind Experten auf ihren jeweiligen Gebieten, betrachten in ihrem Buch „Unberechenbar. Das Leben ist mehr als eine Gleichung“ die derzeitigen Entwicklungen aber gemeinsam aus unterschiedlichen Perspektiven. Dabei begeben sich auf die Suche nach dem besten Modell für die Gesellschaft und jeden Einzelnen. Sie machen Mut, „Dinge, die wackeln, zu ertragen, mehr noch: sie zu nutzen, zu genießen und gegebenenfalls als Freiraum und Bereicherung, als Luft zu begreifen und zu leben.“

Unberechenbarkeit und Uneindeutigkeit hat für sie auch mit Freiheit und Vielfalt zu tun. (Interpretations-)Spielräume sind ihrer Meinung nach die einzige Chance für uns, „auf die Komplexität der Welt zu reagieren, ohne daran zu zerbrechen.“ Schließlich ist das Leben keine Gleichung, die präzise vorgibt, wie es aussehen muss, auch wenn heute vieles berechnet werden kann und viele der Meinung sind, dass die moderne Welt - die in hohem Maße auf Technologie aufbaut und sich im Technikwahn niederschlägt, der an Goethes „Zauberlehrling“ erinnert: „Die ich rief, die Geister, wird ich nun nicht los“ - berechenbar und beherrschbar ist. Auch in diesem Kontext wird auf Goethe verwiesen: „Was ihr nicht rechnet, glaubt ihr, sei nicht wahr!“ (Faust II).

Doch ohne Unberechenbarkeit und Überraschungen können wir nicht gelassen und souverän sein. Wir müssen auch zulassen, dass „Fehler passieren können und dass sie passieren werden, dass aber zugleich vorausschauend agiert wird, dass man mit der Unberechenbarkeit von Fehlern rechnet.“ Das Unerwartete gehört zum Leben dazu. „Wenn nie etwas Unerwartetes geschieht, geraten wir in eine Art Lähmungszustand“, sagt Claudia Silber, Leiterin Unternehmenskommunikation bei der memo AG. Unerwartete Situationen sind für sie auch mit Wachsamkeit, Spannung (ihre Abwesenheit führt nur selten zu Bestleistungen) und einem anhaltenden Interesse an der Welt verbunden. Zahlen und Zielvorgaben hält sie generell für sinnvoll - in manchen Arbeitsbereichen z.B. im Vertrieb mehr als in anderen wie Marketing. "Gefährlich" wird es dann, „wenn Entscheidungen nur noch ausschließlich danach getroffen werden. Womit wir wieder beim Unvorhergesehenen sind: Wer nur nach Zahlen und Zielvorgaben arbeitet, ist nicht offen für Neues und Unerwartetes und wagt keinen Blick über den Tellerrand." Leider stehen viele Menschen der Unberechenbarkeit und Uneindeutigkeit, die auch eine Bedingung für Kreativität und Improvisation sind, eher skeptisch gegenüber, weil sie davon ausgehen, dass ihr Leben komplett planbar ist. Planung macht in vielen Lebens- und Arbeitsbereichen durchaus Sinn - funktioniert in einer Komplexitätsgesellschaft aber nur bis zu einer gewissen Grenze.

Zu leben bedeutet, Grenzgänger zu sein.

Für Harald Lesch und Thomas Schwartz liefern eine Vielzahl von lebensnahen und alltagstauglichen Vorschlägen: von der Bedeutung von Grenzen, vom Dorf-Prinzip und von Quality-Time. Ein gutes Leben ist für sie mit einem Grenzgänger-Dasein verbunden. Der Grenzgänger ist ein Beobachter zwischen zwei Welten, der sich für keine von ihnen entscheiden kann – nur für die Grenze. Er möchte sie passieren, um zu erfahren, was auf der anderen Seite und bleibt doch in der Mitte zweier Welten. Das ist sein einziger Halt in einer haltlosen Welt. Das Fremde wird vom Grenzgänger nur „gekostet“ (der Grenzüberschreiter „konsumiert“ es). Der Grenzgänger hat den Drang, über das ihm gesetzte Maß hinauszugehen und seine „Grenze“ ständig zu erweitern. Doch kehrt er im Gegensatz zum Grenzüberschreiter, der dem Reiz der Grenze erliegt, immer wieder zurück.

Beide stoßen zwar an, sind anstößig und unduldsam, doch sind es eher die Grenzüberschreiter, die zuweilen typologisch verwandt sind mit Faust, der sich nach dem Grenzenlosen verzehrte (um ihn an seine Grenzen zu mahnen, bedurfte es psychisch der Sorge und physisch der Blindheit). Verwandt mit ihm ist auch Ikarus: Er missachtete die Ratschläge seines Vaters Dädalus und ließ sich durch sein Freiheitsgefühl dazu verleiten, der Sonne zu nahe zu kommen. Die Hitze ließ das Wachs schmelzen, das die Federn seiner Flügel zusammenhielt, und er stürzte in den Tod. Ständige Unruhe, Erschöpfung und Einsamkeit sind charakteristische Merkmale des Grenzüberschreiters, der überall zu finden ist. Er hastet durchs Leben, von dem er Unendlichkeit erwartet, und tötet es durch Geschäftigkeit, indem er atemlos der Zeit hinterherläuft. Sein ganzes Tun ist darauf gerichtet, die Zukunft zu erreichen. Ist er angekommen und der Moment vorüber, beginnt geht sein Lauf von vorn. Er ist ein ewig Reisender ohne Gepäck, der an sich selbst am meisten trägt und leidet. Indem er ständig versucht, nichts zu versäumen, versäumt er am Ende sich selbst.

Weiterführende Informationen:

Harald Lesch/Thomas Schwartz: Unberechenbar. Das Leben ist mehr als eine Gleichung. Unter Mitarbeit von Simon Biallowons. Herder Verlag. Freiburg, Basel, Wien 2020.

CSR und Digitalisierung. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Landhäußer. Springer-Verlag Berlin Heidelberg. 2. Auflage 2021.

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Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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