Wie der Rückschaufehler Dich davon abhält, im Job und im Leben voranzukommen!

Der Satz „Ich hätte es wissen müssen“ ist so nützlich wie Blumengießen bei Regen. Welche simple Tatsache wir akzeptieren müssen, um die Vergangenheit richtig einzuordnen.

Vor einiger Zeit unterhielt ich mich mit einem Freund über ein gescheitertes Projekt. „Ich hätte es von Anfang an wissen müssen“, sagte er kopfschüttelnd. „Die Anzeichen waren doch alle da.“ Vielleicht kennen Sie dieses Gefühl – diese absolute Gewissheit, dass die Vergangenheit kristallklar war und nur unsere Blindheit uns davon abhielt, das Unvermeidliche zu sehen.

Psychologen nennen dieses Phänomen den „Rückschaufehler“ oder „Hindsight Bias“. Es ist die menschliche Tendenz, vergangene Ereignisse als vorhersehbarer wahrzunehmen, als sie tatsächlich waren. Wir vergessen die Unsicherheit des Moments und konstruieren rückblickend eine Erzählung, die uns Sicherheit verspricht: „Natürlich musste es so kommen.“

Diese Selbsttäuschung ist nicht nur eine harmlose kognitive Falte. Sie prägt fundamental, wie wir unsere Fehler und Erfolge verstehen, wie wir lernen (oder nicht lernen) und letztendlich, wie wir uns selbst und andere behandeln.

Warum Kontrolle ein Illusion ist

Warum sind wir so anfällig für diesen Denkfehler? Die Antwort liegt in unserer tiefen Sehnsucht nach Kontrolle. In einer Welt voller Ungewissheit bietet der Rückschaufehler eine tröstliche Illusion: Wenn wir die Vergangenheit als vorhersehbar betrachten können, dann können wir uns einreden, dass auch die Zukunft kontrollierbar ist.

Der griechische Philosoph Epiktet schrieb einst: „Es sind nicht die Dinge selbst, die uns beunruhigen, sondern unsere Meinungen über diese Dinge.“ Der Rückschaufehler ist genau das – eine nachträgliche Meinung, die uns glauben lässt, wir hätten es besser wissen können.

Die bittere Wahrheit ist: Das Leben ist ein chaotisch-komplexes System. Selbst mit perfekter Information können wir die Zukunft nicht mit Sicherheit vorhersagen. Diese Einsicht ist unbequem, aber befreiend. Wenn wir akzeptieren, dass Unsicherheit unvermeidlich ist, können wir aufhören, uns für vergangene „Fehler“ zu geißeln, die in Wirklichkeit nur Entscheidungen unter Unsicherheit waren.

Besonders problematisch wird der Rückschaufehler in Unternehmen und Teams. Wenn ein Projekt scheitert, ist die natürliche Reaktion: „Wer ist schuld? Wer hat es nicht kommen sehen?“ Diese Schuldzuweisung vergiftet nicht nur das Arbeitsklima, sondern verhindert auch echtes Lernen.

Unsicherheit mit anderer Haltung begegnen

Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem CEO, dessen Unternehmen gerade ein katastrophales Quartal hinter sich hatte. „Wir haben alle Zeichen ignoriert“, sagte er verbittert. Als ich ihn fragte, welche Zeichen genau, wurde deutlich: Was im Nachhinein als offensichtlich erschien, war in der damaligen Informationslandschaft nur eines von vielen möglichen Signalen.

Die moralische Dimension ist hier entscheidend. Wenn wir glauben, dass jemand „es hätte wissen müssen“, verwandeln wir einen epistemischen Fehler (mangelndes Wissen) in einen moralischen Fehler (Nachlässigkeit oder Inkompetenz). Diese Umwandlung ist nicht nur ungerecht – sie ist auch kontraproduktiv für persönliches und organisatorisches Wachstum.

Wie können wir diesen tief verwurzelten kognitiven Fehler überwinden? Die Antwort liegt nicht in noch mehr Analyse oder besseren Vorhersagemethoden. Sie liegt in einer grundlegenden Haltungsänderung gegenüber der Unsicherheit selbst.

Der Philosoph Søren Kierkegaard schrieb: „Das Leben kann nur in der Schau nach rückwärts verstanden, aber es muss in der Schau nach vorwärts gelebt werden.“ Diese Einsicht enthält den Schlüssel zur Überwindung des Rückschaufehlers: Wir müssen die fundamentale Asymmetrie zwischen Vergangenheit und Zukunft akzeptieren.

Hier sind drei Praktiken, die ich in meiner eigenen Arbeit mit Führungskräften und in meinem persönlichen Leben als hilfreich erfahren habe:

1. Präemptives Hindsight: Bevor Sie eine wichtige Entscheidung treffen, fragen Sie sich: „Was könnte schiefgehen? Was könnten wir übersehen?“ Diese Übung – auch als „Prämortem“ bekannt – kann helfen, blinde Flecken zu identifizieren und die Illusion der Vorhersehbarkeit zu durchbrechen.

2. Entscheidungstagebuch: Dokumentieren Sie Ihre Entscheidungen und die Gründe dafür in Echtzeit. Wenn Sie später zurückblicken, haben Sie einen zuverlässigen Zeugen für Ihren damaligen Wissensstand.

3. Radikales Selbstmitgefühl: Behandeln Sie Ihr vergangenes Selbst mit derselben Nachsicht, die Sie einem guten Freund entgegenbringen würden. Erinnern Sie sich: Sie haben die beste Entscheidung getroffen, die mit den damals verfügbaren Informationen möglich war.

Das Paradoxe am Scheitern ist: Es ist oft der notwendige Vorläufer des Erfolgs. Ohne die schmerzhaften Lektionen können wir nie die Weisheit entwickeln, die uns zu unserer späteren Renaissance führt. Der Rückschaufehler raubt uns diese Einsicht, indem er Scheitern als vermeidbar statt als notwendig darstellt.

Vielleicht ist die wichtigste Tugend, die wir kultivieren können, eine tiefe epistemische Demut – das Bewusstsein, dass unsere Fähigkeit, die Welt zu verstehen und vorherzusagen, fundamental begrenzt ist. Diese Demut führt nicht zu Lähmung, sondern zu einer Art Gelassenheit im Angesicht der Unsicherheit.

Der Rechtswissenschaftler Oliver Wendell Holmes schrieb einmal: „Die große Sache im Leben ist nicht so sehr, wo wir stehen, sondern in welche Richtung wir uns bewegen.“ Wenn wir den Rückschaufehler überwinden, können wir aufhören, uns für die Unvorhersehbarkeit der Vergangenheit zu tadeln, und stattdessen unsere Energie darauf verwenden, uns in die richtige Richtung zu bewegen.

Das nächste Mal, wenn Sie sich dabei ertappen, zu denken „Ich hätte es wissen müssen“, halten Sie inne. Erinnern Sie sich an die Komplexität des Moments, die Grenzen Ihres Wissens und die unvermeidliche Unsicherheit des Lebens. In dieser Akzeptanz liegt nicht nur Frieden, sondern auch die Grundlage für echtes Lernen und Wachstum. Denn letztendlich ist die Weisheit nicht, alle Antworten zu kennen, sondern zu verstehen, dass wir sie nicht kennen können – und trotzdem mutig voranzuschreiten.

Mehr zu diesem und anderen Denkfallen finden Sie in meinem Buch „Die 7 Ausreden der Unternehmen”.

Ingrid Gerstbach schreibt über Innovation und Lernen, Psychologie und Persönlichkeit, Empathie, Design Thinking und Moderation

Ingrid Gerstbach ist Innovationsexpertin und gilt als deutschsprachige Koryphäe der aus den USA stammenden Innovationsmethode Design Thinking. Die Betriebswirtin, Wirtschaftspsychologin und Erwachsenenbildnerin berät internationale Unternehmen und Universitäten und schreibt Kolumnen und Bücher.

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