Wie die Eskalation in Nahost die Weltwirtschaft bedroht
Der Krieg im Nahen Osten testet die internationale Diplomatie, belastet die Weltwirtschaft – und stellt speziell Deutschland vor große Probleme.
Elf bewaffnete Schnellboote der iranischen Revolutionsgarden jagen im Mai 2023 den griechischen Tanker „Niovi“, fünf Kilometer östlich des Salamah Archipels (Oman). Sie zwingen das Schiff abzudrehen und den Hafen der iranischen Stadt Bandar Abbas anzulaufen: eine Entführung, eine Provokation – eine Probe aufs Exempel?
Es ist ein Horrorszenario für die Weltwirtschaft, dass sich solche Vorfälle bald häufen. Dass Iran die Straße von Hormus zur Kampfzone erklärt, den Seeweg vermint, womöglich Öltanker versenkt. Israel greift seit ein paar Tagen iranische Militärbasen und Nuklearanlagen an, hat den Chef der für die Entführung der „Niovi“ verantwortlichen Revolutionsgarden, Hussein Salami, getötet – und mit ihm Militärs und Atomexperten. Die theokratischen Eiferer des Terror-Regimes in Teheran sind schwer getroffen, womöglich verwundbar wie nie. Und daher unberechenbar.
Es ist möglich, dass die Mullahs die militärische Überlegenheit Israels (und der USA) schnell anerkennen – und einlenken, bevor es zu spät für sie ist. Möglich aber auch, dass sie den Krieg feindverbissen eskalieren und entgrenzen.
Abermals blickt der Nahe Osten tief in den Abgrund. Abermals steht die Weltkonjunktur unter schwerem Beschuss. Und abermals beurkunden die einst führenden Wirtschaftsnationen der Welt ihren Dissens, ihre wachsende Ohnmacht, auf offener Bühne: Einigkeit bei kritischen Rohstoffen oder im transatlantischen Zollkonflikt? Fehlanzeige. Was für ein verheerendes Signal an die Feinde – und die Märkte.
Tatsächlich standen die Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Kanada und die USA wohl noch nie so uneins, defensiv und abseits des Weltgeschehens da wie beim G7-Treffen in den Rocky Mountains. US-Präsident Donald Trump leitete das Treffen mit dem Rüffel ein, Russland 2014 aus dem Kreis ausgeschlossen zu haben und belustigte sich über Frankreichs Präsident Macron („Emmanuel always gets it wrong“): Die G7 sind zur G6 geschrumpft, die es nicht wagen, einem egomanischen Rüpel in die Parade zu fahren – auch dann nicht, wenn er ihre Interessen mit Füßen tritt.
G7-Gipfel: Weniger Selbstbewusstsein geht nicht
Und so einigte man sich im kanadischen Kananaskis gerade mal auf ein dürres Statement zu Israel/Iran (Recht auf Selbstverteidigung, Deeskalation, bitte!) und auf einen gemeinsamen Weltwirtschaftsgegner: Giorgia Meloni, Italiens Premierministerin, hielt eine Schautafel in die Runde, auf der zu sehen ist, wie stark China in den vergangenen Jahren auf Kosten anderer vom Welthandel profitiert hat. Weniger Selbstbewusstsein geht nicht.
Und mehr Distanz zum aktuellen Weltgeschehen auch nicht: Während Russland die Ukraine mit weiteren Drohnenangriffen überzieht, sich die Lage im Nahen Osten über die Köpfe der G6-Staaten hinweg entscheidet und ehe eine Befriedung des Zollkonflikts auch nur auf die Tagesordnung gelangen konnte, verließ Trump auch schon wieder das kanadische Politik-Retreat: kein Affront, aber: Sorry, there are more important things to do. Und jetzt?
Die heikle Lage im Nahen Osten und das Raunen Trumps („Big stuff is happening!“; „Evacuate Tehran!“), die eklatante Machtlosigkeit Europas und der Routine gewordene Bruch des Völkerrechts weltweit, noch dazu die noch offene Frage, welche Rolle die USA und Irans Waffenbrüder China und Russland im neuen Nahostkrieg spielen werden – das alles treibt die Energiekosten, belastet die Konjunktur und schwächt vor allem Europa: Der Kontinent ist, anders als die USA, stark abhängig von Energieimporten.
Ist der wirtschaftliche Aufschwung abgesagt?
Es ist noch nicht lange her, da verkündete Timo Wollmershäuser, Konjunkturchef des Münchner ifo Instituts: „In Deutschland ist eine nachhaltige Erholung in Sicht.“ Die Wirtschaft werde 2025 nach zwei Minusjahren um 0,3 Prozent wachsen, 2026 sogar um 1,5 Prozent – „sofern sich die globalen Rahmenbedingungen nicht verschärfen“.
Wenig später trafen die ersten israelischen Raketen iranische Atomanlagen.
War‘s das also mit dem Aufschwung? „Die Eskalation im Nahen Osten trifft die Weltwirtschaft zu einem Zeitpunkt, in der sie ohnehin durch Handelskonflikte unter Druck steht“, sagt Gabriel Felbermayr, Direktor des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung in Wien, und: „Die Unsicherheit für global operierende Unternehmen ist jetzt noch größer.“
Allerdings: Die Märkte reagierten nicht panisch. Der Ölpreis kreiste vor dem Angriff Israels auf Iran um die 65-Dollar-Marke, schoss dann hoch auf mehr als 75 Dollar – und gab wieder nach . „Die Märkte sind gegenüber den Krisen im Nahen Osten abgehärtet“, sagt Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank . Für einen Abgesang auf den erhofften Wirtschaftsaufschwung in Deutschland sei es daher „zu früh“.
Auch Oliver Holtemöller, Vizepräsident des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle, sorgt der leichte Ölpreisanstieg noch nicht. Entscheidender für die Konjunktur sei derzeit, wie stark sich „die neue Unsicherheit auf die Erwartungen und Investitionen in der Wirtschaft auswirkt“.
Blockade der Straße von Hormus würde Inflation anheizen
Der Worst Case: Iran blockiert die Straße von Hormus für Ölexporte und zwingt die USA, militärisch zu intervenieren. Dann „könnte der Ölpreis auf weit über 100 Dollar hochschießen und längere Zeit dort verharren“, warnt Krämer. Dies würde die Inflation anfeuern und den Spielraum der Notenbanken für weitere Zinssenkungen zunichtemachen.
Zwar ist der Ölhunger der Industrie in den vergangenen Jahrzehnten gesunken. Industrieländer sind weniger anfällig für Ölpreisschocks als noch in den 1980er-Jahren, weil heute deutlich weniger Öl nötig ist, um Wertschöpfung zu generieren: Die Ölintensität der globalen Wirtschaft hat seit 1975 um knapp 60 Prozent abgenommen, rechnet die Weltbank vor. Ursachen sind der steigende Anteil des Dienstleistungssektors in Industrieländern, der technologische Fortschritt und der Trend zur Dekarbonisierung.
„Trotzdem hat der Ölpreis immer noch einen spürbaren Einfluss auf die Konjunktur, speziell auf Kaufkraft und Konsum“, sagt Krämer. Denn steigende Ölpreise lösen hohe Folgekosten aus: Nahrungsmittel und Dünger verteuern sich, auch die Transportkosten und Öl als Rohstoff für die chemische Produktion. Bei Fluggesellschaften ist Treibstoff mit einem Anteil von 30 Prozent der größte Kostenblock. Die deutsche Landwirtschaft muss im Jahr über drei Milliarden Euro für Brenn- und Treibstoffe aufbringen.
Galina Kolev-Schaefer, Ökonomin am Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln, hat verschiedene Szenarien durchgerechnet. Danach könnte ein Ölpreis von 85 Dollar die deutsche Wirtschaft bis zu 0,2 Prozentpunkte Wachstum kosten – verglichen mit dem Niveau von 65 Dollar vor einem Monat. Das hieße: auch 2025 Stagnation.
Und wenn der Ölpreis weiter steigt? Das Institut Oxford Economics erwartet, dass bei einem Barrel für 130 Dollar die Inflationsrate in der Euro-Zone auf fast vier Prozent kletterte, in den USA sogar auf fast sechs Prozent. Ein Problem für die Notenbanken. Schon der aktuelle Ölpreisanstieg erschwert es der amerikanischen Fed und der Europäischen Zentralbank, die Zinsen zu senken, um die Wirtschaft anzukurbeln.
Noch ist das globale Ölangebot hoch, auch wegen der jüngsten Produktionsausweitungen der Opec. Der Markt ist nach Ansicht vieler Experten sogar überversorgt, weil die Konjunktur in den USA zunehmend schwächelt und diese weniger Öl brauchen. Das Wachstum der Weltwirtschaft könnte 2025 auf 2,3 Prozent sinken, so die Weltbank.
Sieht man von den Finanzkrisenjahren und dem Pandemiejahr 2020 ab, wäre das der niedrigste Wert seit 2002. Der gestiegene Ölpreis folgt also nicht volkswirtschaftlichen Daten, sondern der Psychologie: Die Marktteilnehmer schrauben ihre Risikoprämien hoch.
China ist wohl größter Abnehmer von iranischem Öl
Das Mullah-Regime produziert derzeit ungeachtet der US-Sanktionen rund 3,3 Millionen Barrel pro Tag und exportiert davon rund 1,7 Millionen Barrel. Wegen der Sanktionen gibt es keine offiziellen Statistiken, aber vieles deutet darauf hin, dass China der größte Abnehmer ist – mit Käufen von rund einer Million Barrel pro Tag. Die EU bezieht kein iranisches Öl, profitiert aber vom Unterlaufen der Sanktionen: Weil China iranisches Öl kauft, fragt es weniger nicht-sanktioniertes Öl nach – das entspannt die Marktlage.
Eine Blockade der Straße von Hormus durch Iran wäre ein Gamechanger. Bislang ist dies nur eine Drohkulisse, weil Iran den Transportweg selber nutzt und durch eine Sperrung seinen wichtigsten Abnehmer China verprellen würde. „Die Situation könnte sich jedoch ändern, wenn Israel verstärkt die iranische Ölwirtschaft angreifen sollte“, warnt Carsten Fritsch, Rohstoffanalyst der Commerzbank. Könne Iran wegen zerstörter Häfen und Ölanlagen kein Öl mehr fördern und exportieren, würde „die Hemmschwelle sinken, den extremen Schritt zu wagen“.
Die wichtigste Passage für den globalen Öl- und Gashandel führt an Iran vorbei. An der engsten Stelle ist die Straße von Hormus 33 Kilometer breit, vergleichbar mit dem Ärmelkanal. Das Nadelöhr zwischen Iran und Oman verbindet den Golf mit dem Arabischen Meer. Etwa ein Fünftel des globalen Ölangebots (20 Millionen Barrel am Tag) passiert die Straße, plus ein Drittel des Flüssiggases LNG.
„Es ist unmöglich, diese Menge bei einer Blockade zu kompensieren“, sagt Analyst Fritsch. Bypässe zur Umgehung der Straße von Hormus gibt es zwar in Form von Pipelines aus Abu Dhabi und Saudi-Arabien. Aber deren Kapazität ist limitiert.
Gegenüber Iran liegen die Öl- und Gasförderländer Saudi-Arabien, Vereinige Arabische Emirate, Kuwait und Katar. Kein Land exportiert mehr Erdöl als Saudi-Arabien. Mitten im Persischen Golf liegt das South-Pars-Gasfeld, das weltweit größte Gasfeld, auf das Iran und Katar Anspruch erheben. Es könnte ein Ziel künftiger israelischer Luftangriffe sein – so gut wie die Golf-Insel Kharg-Island, über die Iran den größten Teil seiner Ölexporte abwickelt.
Die Golf-Passage ist für Reedereien und damit den Welthandel nicht das einzige Sicherheits- und Finanzrisiko in der Region. Auch die Fahrt durchs Rote Meer, vorbei am von den Huthi-Rebellen kontrollierten Jemen, ist riskant. Die Huthi sind Verbündete Irans, haben in den vergangenen zwei Jahren immer wieder Handelsschiffe attackiert.
Viele Unternehmen nahmen daraufhin den langen Umweg ums Kap der guten Hoffnung in Kauf – immer noch günstiger, als die Schiffe von privaten Sicherheitsfirmen schützen zu lassen. Bereits kurz nach dem Angriff Israels verkündeten Öltankerreedereien, keine neuen Verträge für die Straße von Hormus abzuschließen. Die Risiken und Kosten für Sicherheit und Versicherungen seien zu hoch, sagte etwa der Chef der Transportunternehmens Frontline. Die Preise für Policen für Passagen durchs Rote Meer zogen um bis zu 20 Prozent an.
Von einer Blockade und Versorgungsengpässen wäre vor allem Asien betroffen. Fast 80 Prozent des Öls, das OPEC-Staaten am Persischen Golf verschiffen, geht nach China, Indien, Japan und in weitere asiatische Länder.
China, kein ehrlicher Makler
In den kanadischen Rocky Mountains nicht vertreten, aber immer mit im Raum, siehe Melonis Schautafel: China. 2023 beeindruckte Generalsekretär Xi Jinping die internationale Gemeinschaft mit einem diplomatischen Coup: Geschickt vermittelte er zwischen Iran und Saudi-Arabien, spielte Friedensstifter im Nahen Osten.
Doch im Schlagabtausch zwischen Israel und Iran zeigt sich, dass die chinesische Führung nicht unparteiisch agiert. Nach den ersten Angriffen verurteilte Peking israelische Luftschläge als „inakzeptablen Bruch des Völkerrechts“. Zugleich machte UN-Botschafter Fu Cong in New York deutlich, wen China als Aggressor betrachtet: Er prangerte Israel an.
Hinter dieser Parteinahme stecken strategische Interessen. Iran dient Peking als Gegengewicht zum westlichen Machtblock. Seit 2021 wird eine 25 Jahre alte „allseitige Partnerschaft“ durch weitere Milliardeninvestitionen Chinas in iranische Infrastrukturprojekte befestigt.
Im Rahmen der Neuen Seidenstraße waren bereits zuvor große Summen geflossen. Über den Beitritt Teherans zur Shanghai Cooperation Organisation (SCO), einer von China und Russland geprägten sicherheitspolitischen Allianz, und die Aufnahme in die BRICS-Staaten stärkt Peking zudem seine Vision einer „multipolaren Weltordnung“, die nicht angeblich von westlichen Institutionen dominiert wird.
Ökonomisch ist Iran für China zwar ein wichtiger Öllieferant: Zwischen acht und 13 Prozent des chinesischen Rohölbedarfs wurden zuletzt aus Teheran gedeckt. Peking verfügt jedoch über weitere Lieferanten, darunter Russland und Saudi-Arabien. Daher ist China nicht auf Iran angewiesen. Umgekehrt dagegen ist China für Iran faktisch die einzig verbliebene Großabnehmernation: Bis zu 90 Prozent aller iranischen Ölexporte gehen derzeit in die Volksrepublik – ein Zeichen umfassender Abhängigkeit.
Wegen bestehender US-Sanktionen gelangen die Lieferungen mit einer Schattenflotte von Öltankern in chinesische Häfen, oft nach Umladungen vor der Küste Singapurs. Was Peking wirklich fürchtet, ist nicht der Verlust iranischen Öls, sondern die skizzierte Blockade der Straße von Hormus. In der Folge drastisch steigende Energiepreise könnten Chinas Wachstum und seine fragile wirtschaftliche Erholung gefährden.
Regimewechsel in Teheran wäre für Peking schlechtestes Szenario
Peking hofft daher, mit seinem Einfluss auf Teheran eine Eskalation zu verhindern – ohne den Machterhalt der Mullahs zu gefährden. Ein Regimewechsel in Teheran käme für Peking einem Worst-Case-Szenario gleich. Die aktuelle Führung gilt als verlässlicher Partner. Würde eine neue, pro-westliche Regierung an die Macht kommen, könnte sich Iran stärker an Washington orientieren – nicht zuletzt, weil viele Exil-Iraner den USA nahestehen. Daher versucht Peking durch Kredite, Ölkäufe und Investitionen in die Infrastruktur, die Stabilität des Theokraten-Regimes abzusichern.
Für Europa liegt in Chinas doppelter Rolle viel Skepsis und Hoffnung zugleich: Skepsis, weil Peking seine Vernetzung mit Teheran einseitig nutzt und seine Glaubwürdigkeit als neutraler Vermittler untergräbt. Hoffnung, weil vor allem China als Premium-Partner Irans über die Mittel verfügt, das Regime von radikalen Schritten wie der Schließung der Straße von Hormus abzuhalten.
Und Europa selbst? Deutschland vor allem? Kämpft mit seiner eigenen politischen Rolle in dem Konflikt.
Friedrich Merz hat Netanjahu schon als Oppositionsführer besucht
Jerusalem, März 2023. Friedrich Merz schaut sich in einem Konferenzraum um: gepolsterte Stühle, große Fernseher, edles Holz. Nett hier. Eine Tür führt ins Büro des Gastgebers. Der ist noch beschäftigt. Einen deutschen Oppositionsführer kann er warten lassen. Merz ist zwei Tage nach Israel gereist. Er trifft Politiker, Wissenschaftler, Militärs. Doch kein Gespräch ist so wichtig wie das nun folgende.
Die Tür zum Nebenraum öffnet sich. Der Gastgeber, weißes Hemd, königsblaue Krawatte, eilt auf Merz zu. „Schade, dass wir uns in Berlin nicht gesehen haben“, sagt Merz. „Dafür haben wir ja jetzt ausreichend Gelegenheit“, sagt Benjamin Netanjahu. Israels Ministerpräsident hat kurz zuvor Kanzler Olaf Scholz besucht. Ein umstrittener Termin. Netanjahu steht damals wegen seiner Justizreform in der Kritik. Man wirft ihm vor, die Gerichte des Landes zu schwächen, seine Macht zu konzentrieren. Auch Merz spricht ihn darauf an – hinter verschlossenen Türen.
Die Reise habe ihn bestärkt, resümiert der CDU-Chef anschließend, dass man Fehlentwicklungen unter Freunden offen ansprechen muss. Bei dieser Linie blieb er. Bis heute. Aber der Ton hat sich inzwischen verschärft. Vor der Bundestagswahl verbat sich Merz scharfe Kritik an israelischen Militäroperationen im Gaza-Streifen. Er sah keine Verstöße Israels gegen das Völkerrecht.
Der Ampel-Regierung warf er vor, Waffenlieferungen an Israel zu verzögern. Als Kanzler klingt Merz anders. Das Vorgehen im Gaza-Streifen ließe sich nicht mehr mit dem Kampf gegen die Hamas begründen, kritisiert er. Wie weit die deutsche Unterstützung reicht? Das sei nun „Gegenstand interner Beratungen“.
Ein CDU-Kanzler profitiert in dieser Frage von einer Glaubwürdigkeit, die sein SPD-Vorgänger nie hatte. Bei Kritik von Merz „hören wir sehr gut zu“, sagt Israels Botschafter in Deutschland, Ron Prosor: „Weil er ein Freund ist.“
Deutschland droht sich als Israel-Freund zu isolieren
Als die Staats- und Regierungschefs von Frankreich, Großbritannien und Kanada Israel wegen der Militäroffensive im Gazastreifen mit „konkreten Maßnahmen“ drohten, wollte die deutsche Bundesregierung sich nicht anschließen. „Es gibt spürbare Spannungen – das ist kein Geheimnis“, sagt Daniel Caspary, Vorsitzender der CDU/CSU-Gruppe im Europa-Parlament: „Manche Länder äußern sich deutlich kritischer gegenüber Israel als andere“. Das ist der Drahtseilakt, der Merz gelingen muss: Als kritischer Freund Israels unter den europäischen Partnern nicht isoliert zu werden.
Mit Iran liegt die Sache anders. Das zeigt die gemeinsame Erklärung der G7 in Kanada: Der Westen steht fürs Erste geschlossen an Israels Seite. Merz wusste, dass dieser Konflikt seine Kanzlerschaft beeinflussen könnte. Er ahnte es zumindest – spätestens seit der Israel-Reise im Frühjahr 2023.
Bei Netanjahu, und auch bei jedem anderen Termin, kam das Gespräch irgendwann auf die Bombe, die iranische Atombombe. Die Bedrohung sei groß, ein militärischer Konflikt nicht ausgeschlossen, lernte Merz. Damals war das ein Szenario. Jetzt attackiert Israel Iran. Jetzt greift Iran Israel an. „Das ist die Drecksarbeit, die Israel macht, für uns alle“, sagte Merz, am vergangenen Dienstag im TV-Interview.
Für den Kanzler ist das nicht nur außenpolitisch eine Bewährungsprobe. Der Krieg im Nahen Osten hat das Potenzial, seiner Regierung den Start zu verhageln. Kommende Woche will Merz im Kabinett das erste Reformpaket verabschieden. Entlastungen für die Wirtschaft, Sonderschulden für die Infrastruktur. Der Termin steht seit Wochen. Über den Tag sollen die Deutschen einmal sagen: Danach kam das Wachstum zurück.
Merz hat versprochen, dass sich der geschwächte Standort schnell erholt. Sein Plan basiert auf einer Wette. Sie geht in etwa so: Erste kleine Reformen drehen die Stimmung. Hurra, es geht doch noch was in Deutschland! Unternehmen investieren, die Wirtschaft wächst ein bisschen, weitere Entlastungen sind möglich, die Wirtschaft wächst umso mehr.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Wette aufgeht. Es wäre nur unmöglich, wenn die Weltwirtschaft zusammenbricht. Schließlich ist es so: Jeder Unternehmer freut sich, wenn er neue Maschinen künftig schnell abschreiben kann. Die Freude schwindet jedoch, wenn das Material für diese Maschine in der Straße von Hormus strandet.
Nicht zum ersten Mal zeigt sich nun, wie stark der Erfolg der Regierung Merz von Faktoren abhängt, die der Kanzler kaum kontrollieren kann. Zumindest versuchen kann er es im Fall des immer noch ungelösten Zollkonflikts mit den USA, der, allen Hoffnungen zum Trotz, beim G7-Treffen nicht mal Thema war.
Zollfrage als Gamechanger?
Womöglich spielt Merz und den anderen Europäern der Iran-Israel-Krieg dabei sogar in die Hände. Trump habe inzwischen mit so vielen offenen Konflikte zu tun, dass er einen raschen Deal mit Europa dringend brauche, lautet die optimistische interne Analyse der EU-Kommission. Die Verhandlungen mit Washington hätten gezeigt, dass die Trump-Administration kein Interesse an komplexen Gesprächen über die Details Tausender Zoll-Kodizes habe, sondern bis zum Auslaufen der von Trump gesetzten Frist am 9. Juli eine Lösung wolle.
Das dürfte Trump in einem kurzen Gespräch auch EU-Ursula von der Leyen am Rande des G-7-Gipfels gesagt haben: Unmittelbar danach teilte die EU-Kommissionspräsidentin mit, dass „die Teams angewiesen werden, ihre Arbeit in der Handelsfrage zu beschleunigen“.
Trump stehe angesichts der zahlreichen internationalen Krisen auch innenpolitisch unter wachsendem Druck, sagt ein EU-Spitzendiplomat. Für den Präsidenten müsse es deshalb jetzt schnell gehen, und er müsse bei einem Deal mit den Europäern wie der „Sieger aussehen“.
Diesen Eindruck teilt Bernd Lange, Vorsitzender des Handelsausschusses im Europa-Parlament: „Insgesamt zeigt sich, dass die USA jetzt in der veränderten Situation offener für ein Abkommen sind“, sagt Lange: „Wenn aber am 9. Juli keine Einigung da ist oder das vorher absehbar ist, werden wir unsere Gegenmaßnahmen unmittelbar in Kraft setzen.“ Das zarte Pflänzchen des Aufschwungs in Europa würde dann nicht nur unter höheren Öl- und Gaspreisen leiden. Sondern auch noch unter einem Handelskrieg mit den USA.
💡Exklusiv bei XING: 6 Wochen die WirtschaftsWoche kostenlos lesen
