Wie Führungskräfte die Realität akzeptieren lernen
Akzeptanz ist eine vielfach missverstandene Fähigkeit. Die meisten Führungskräfte verschwenden viel zu viel Energie darauf, sich die Realität zurechtzubiegen.
Von Scott Edinger
Die Realität zu akzeptieren gehört zu den nützlichsten – und am häufigsten missverstandenen – Fähigkeiten, die eine Führungskraft mitbringen sollte. Es handelt sich um ein Konzept, das seit Jahrhunderten in der Philosophie bekannt ist und seit Kurzem auch in der Psychologie Beachtung findet. Richtig angewandt, ermöglicht es Veränderung und Wachstum. Wie der berühmte Psychologe Carl G. Jung schrieb: "Wir können nichts ändern, solange wir es nicht akzeptieren. Verurteilung befreit nicht, sie unterdrückt." Ich kann jedoch nicht erkennen, dass Führungskräfte Akzeptanz heute bewusst einsetzen.
Akzeptanz mag nicht nach einer Fähigkeit klingen, die besonders wertvoll ist. Wir lesen und hören eher von Führungskräften, die mit schierer Willenskraft der Realität zu trotzen scheinen. Das bekannteste Beispiel ist Apple-Gründer Steve Jobs. Sein Ruf, Menschen dazu zu bringen, das Unmögliche zu tun, ist Legende. Jobs soll die Wahrnehmung seiner Mitarbeiter verschoben haben. Er ließ sie glauben, dass auch unlösbare Aufgaben machbar seien. Seine Kollegen und Mitarbeiter nannten dies "Realitätsverzerrungsfeld". So bewundernswert diese Willenskraft ist, oft ist sie zu beherrschend bei Führungskräften, denen als Gegengewicht die Fähigkeit fehlt, die Realität zu akzeptieren. "Sehen Sie der Realität ins Auge, wie sie ist, nicht wie sie war oder wie Sie sie gern hätten", fasste es Managerlegende Jack Welch zusammen.
Schlechtes Führungsverhalten wurzelt oft in der Unfähigkeit, das zu akzeptieren, was gerade passiert, oder die Umstände anzunehmen, wie sie sind, und innerhalb dieser Grenzen zu arbeiten – das ist jedenfalls meine Beobachtung. Unnötige Härte, Wutausbrüche, Aggressivität, Vermeidungsverhalten und Ausgrenzung von Menschen lassen sich vor allem bei Führungskräften beobachten, die in diesem Moment mit der Realität nicht zurechtkommen.
Vor einigen Jahren erlebte ich den Vorstandsvorsitzenden eines börsennotierten Unternehmens, der einen Abteilungsleiter anbrüllte: "Ich akzeptiere diese Prognose nicht!" Danach fielen noch einige heftige Schimpfwörter. In den folgenden Tagen diskutierten der CEO und der Leiter des Geschäftsbereichs so lange, bis der CEO endlich mit der Prognose zufrieden war. Sie korrigierten die Umsatzprognosen nach oben, um "akzeptablere" Ergebnisse anzustreben. Die Zahlen sahen nun zwar auf dem Papier besser aus, aber sie basierten nicht auf echten Fortschritten mit Kunden oder auf der Realität des Unternehmens.
Schließlich kam das Quartalsende. Der CEO war wütend, weil die Umsatzzahlen nicht mit der überarbeiteten und (für ihn) akzeptableren Prognose übereinstimmten. Ironischerweise entsprachen die Ergebnisse genau der ursprünglichen Prognose. Daraufhin leitete der CEO eine Kündigungsrunde ein. Er kürzte wichtige interne Investitionen, die dem Unternehmen geholfen hätten, effizienter mit den Kunden zu arbeiten. Die Zahlen sprachen von Anfang an eine deutliche Sprache, aber der CEO wollte diese Realität nicht akzeptieren und nicht danach handeln. Dadurch wurde eine Lawine von Problemen für Mitarbeiter und Kunden ausgelöst, die sich schließlich negativ auf den zukünftigen Wert des Unternehmens auswirkten.
Diese Situation hätte auch ganz anders ablaufen können. CEO und Abteilungsleiter hätten gemeinsam Notfallpläne ausarbeiten können, um das gewünschte Wachstum wiederherzustellen und die Kosten im Griff zu behalten. Aber die mangelnde Bereitschaft des CEOs, die Realität zu akzeptieren, verhinderte jede sinnvolle Diskussion und untergrub jedes Potenzial für Veränderungen.
Diese fehlende Verbindung zwischen Realität und Wunschvorstellung ist in unterschiedlicher Form täglich in Unternehmen auf der ganzen Welt zu beobachten. Es ist erstaunlich, wie viel Zeit, Mühe und Energie Führungskräfte darauf verschwenden, über die Realität zu streiten und sie zu bekämpfen. Man braucht Mut, die Realität so zu akzeptieren, wie sie ist. Aber nur so können Sie Veränderungen angehen. Es gibt drei Arten der Akzeptanz, auf die Sie sich konzentrieren sollten:
Ergebnisse akzeptieren
Vielleicht ist der schlimmste anzunehmende Fall eingetreten oder ein Ergebnis einfach schlecht. Das kann eine gescheiterte Strategie, eine schlechte finanzielle Leistung, der Verlust des Arbeitsplatzes oder ein anderer Rückschlag sein. Führungskräfte können zetern, schimpfen und wüten – solange sie nicht akzeptieren, was passiert ist, werden sie nicht vorankommen oder andere vorwärtsbringen.
Das bedeutet nicht, dass man die Ergebnisse gut finden muss. Es geht darum, die eigene Energie nicht darauf zu verschwenden, sich ständig zu wünschen, die Dinge wären anders. Oder sich über das Ergebnis zu streiten. Es kann sogar erforderlich sein, dass Sie Ihre eigene Rolle bei den Ergebnissen untersuchen und akzeptieren.
Umstände akzeptieren
Vielleicht wurden bei wichtigen Projekten Termine gerissen oder Ihr Zeitplan für die Rückkehr ins Büro ist durch die neue Variante des Corona-Virus obsolet. Vielleicht liegen Sie über dem Budget und müssen Opfer bringen. Als Führungskraft sind Sie oft mit Umständen konfrontiert, die sich Ihrer Kontrolle entziehen. Susan David, Autorin des Buches "Emotional Agility", weist darauf hin, wie wichtig es zunächst einmal ist, die Kontrolle über das aufzugeben, worüber man nie Kontrolle hatte. Sie rät, sich Raum für emotionale Reaktionen zu schaffen, ohne auf jeden Gedanken oder jedes negative Gefühl zu reagieren. "Unerwünschte Gedanken und Gefühle sind unvermeidlich", schreibt sie, "Führungskräfte stolpern nicht, weil sie diese Gefühle haben, sondern weil sie sich in ihnen verfangen wie ein Fisch in der Angel. ... In unserer komplexen, sich schnell verändernden Wissensökonomie ist [die] Fähigkeit, die eigenen Gedanken und Gefühle zu kontrollieren, für den geschäftlichen Erfolg unerlässlich."
Noch einmal: Das bedeutet nicht, dass man mit einer Situation zufrieden sein oder sie gutheißen muss. Vielmehr gibt Ihnen Akzeptanz die Kraft, so effektiv wie möglich voranzukommen, anstatt einen vergeblichen Kampf gegen Umstände zu führen, die Sie nicht kontrollieren können.
Fehler akzeptieren (eigene und die anderer)
Kein Mitarbeiter oder Kollege ist perfekt. Die gute Nachricht ist, dass wir alle in der Lage sind, Veränderungen und Verbesserungen anzustoßen. Feedback und Entwicklungsmaßnahmen können zwar helfen, Stärken auszubauen und fatale Schwächen zu beheben, aber die entscheidende Vorstufe jeder Veränderung ist die Akzeptanz, dass Veränderung notwendig ist. Eine Führungskraft, mit der ich zusammengearbeitet habe, hatte in jährlichen Beurteilungen immer das Feedback erhalten, dass sie nicht kooperativ genug sei. Als wir dieses Feedback gemeinsam besprachen, sagte sie: "Okay, ich habe es verstanden. So erleben mich die Leute. Ich möchte nicht, dass es so ist. Was kann ich jetzt tun?" Wenn eine Führungskraft ihre eigenen Schwächen akzeptieren kann, ist sie frei, sich weiterzuentwickeln, neue Wege der Führung zu erkunden und effektiver zu werden.
Wir müssen auch andere so akzeptieren, wie sie sind, und Entscheidungen auf der Grundlage der realen Person treffen, nicht auf der Grundlage dessen, wie wir sie uns wünschen. Wenn Sie jemanden in Ihrem Team haben, der trotz Schulungen, Coachings und Entwicklungsmaßnahmen immer noch nicht Ihren Erwartungen entspricht, müssen Sie eine Entscheidung treffen. Entweder Sie akzeptieren, dass diese Person für Ihr Unternehmen wertvoll ist, so wie sie ist, oder Sie kündigen ihr. Immer wieder Zeit, Geld und Energie in Mitarbeiter zu investieren in der Hoffnung, dass sie sich irgendwann doch noch ändern oder neue Fähigkeiten entwickeln, ist frustrierend und unproduktiv.
Fazit
Wenn Sie wie ich sehr ergebnisorientiert sind, haben Sie vielleicht das Gefühl, dass die Eigenschaft der "Akzeptanz" zu passiv ist. Sie ist alles andere als das. Akzeptanz wird oft missverstanden als Zustimmung oder Ablehnung von Veränderungen, aber das trifft es nicht. Bei der Akzeptanz geht es darum, die Tatsachen anzuerkennen und nicht Zeit, Mühe und Energie im Kampf gegen die Realität zu verschwenden. Ihre Realität kann darin bestehen, dass Sie bei den Einnahmen im Rückstand sind oder dass ein Konkurrent Sie mit einem neuen Produkt überflügelt hat. Was auch immer es ist, Sie können Ihre besten Fähigkeiten nicht einsetzen, solange Sie nicht aufhören, gegen die Realität anzukämpfen. Akzeptieren Sie, womit Sie konfrontiert sind, und seien Sie bereit, die Dinge zum Besseren zu wenden.
Der Autor
Scott Edinger ist Berater für Führungskräfte und Gründer von Edinger Consulting. Er ist Autor des Bestsellers "The Hidden Leader" (Amacom 2015).
Dieser Artikel erschien in der Februar-Ausgabe 2022 des Harvard Business managers
