Wie jung und alt gut zusammenarbeiten
Teams, in denen Jüngere und Ältere zusammenarbeiten, liefern bessere Ergebnisse. Studien zeigen: Ein guter Altersmix sorgt für mehr Qualität, Kreativität und Innovation.
Von Susan Wilner Golden
Wenn Sie an Arbeitnehmer denken, die über 50 Jahre alt sind, stellen Sie sich vielleicht Menschen vor, die kurz vor der Rente stehen. Unter Umständen denken Sie auch, dass diese Altersgruppe in modernen Unternehmen fehl am Platz ist, weil sie wenig Interesse daran hat, neue Fähigkeiten zu erlernen oder neue Technologien auszuprobieren.
Sollten Sie so denken, liegen Sie falsch. Ältere Arbeitnehmer sind weder Bremser noch mental aus der Zeit gefallen. Der ältere Teil der Erwerbsbevölkerung setzt sich sehr vielfältig zusammen. Die Frauen und Männer dieser Altersgruppe haben unterschiedliche familiäre wie ethnische Hintergründe, Erfahrungen und Ziele. Und Sie werden sie noch lange in Büros, im Verkauf und Vertrieb, im Handel oder auch in der Produktion sehen.
Fast überall auf der Welt ist die Bevölkerung deutlich älter als je zuvor. Die Vereinten Nationen schreiben in ihrem Bericht „World Population Prospects: the 2019 Revision“, dass 1950 nur rund 5 Prozent der Weltbevölkerung älter als 65 Jahre waren. Bis 2050 wird dieser Anteil voraussichtlich auf 16 Prozent steigen.
Allein in den Vereinigten Staaten feiern jeden Tag rund 10.000 Menschen ihren 65. Geburtstag. 1950 waren erst 13 Millionen US-Bürger 65 Jahre und älter. Derzeit sind es rund 58 Millionen, 2060 werden es schätzungsweise fast 95 Millionen sein. Heute kann ein gesunder 65-Jähriger damit rechnen, fast 90 Jahre alt zu werden. Experten gehen aktuell davon aus, dass sich jemand, der in diesem Jahrhundert geboren wird, auf ein 100-jähriges Leben einstellen kann.
Vielleicht noch wichtiger ist, dass auch die Lebensspanne, in der die meisten Menschen gesund bleiben und ohne Pflege auskommen, länger wird. Deshalb werden Menschen auch nach dem offiziellen Rentenalter noch lange arbeiten können und es wahrscheinlich auch wollen. In nur zwei Jahren werden fast 25 Prozent der US-Arbeitskräfte 55 Jahre und älter sein. Einige werden sich freiwillig dafür entscheiden, bis ins hohe Alter zu arbeiten. Etliche werden weiterarbeiten müssen, weil sie in jungen Jahren nicht ausreichend Geld verdienen und sparen konnten, um im Alter ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Denn auch die finanziellen Reserven werden steigen müssen. Wer mit 90 Jahren noch vom Ersparten lebt, braucht größere Reserven als jemand, der nur 70 Jahre alt wird.
Doch obwohl Menschen, die 55 Jahre oder älter sind, das am schnellsten wachsende Segment der amerikanischen Erwerbsbevölkerung bilden, werden diese Männer und Frauen in hohem Maße missverstanden. Hartnäckige Mythen und Stereotype sowie offene Altersdiskriminierung prägen die Art und Weise, wie wir über ältere Arbeitnehmer denken und sprechen. Das muss sich ändern.
Dass Menschen länger leben, ist kein Problem, sondern eine Chance. Um von ihrer Erfahrung, ihrem Wissen und ihrer Energie zu profitieren, müssen Sie Ihr Unternehmen jedoch entsprechend gestalten. Sie müssen Infrastruktur und Systeme aufbauen, die diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unterstützen und einbinden.
Studien bestätigen, dass Altersdiskriminierung am Arbeitsplatz und auf dem Arbeitsmarkt weitverbreitet ist. Das zeigt sich gerade in Krisenzeiten: Nach der Finanzkrise 2009 waren Menschen über 55 Jahre nicht nur besonders häufig von Arbeitslosigkeit betroffen, sie blieben auch länger ohne neuen Vertrag als jüngere Arbeitsuchende. Wenn sie schließlich einen neuen Job ergattert hatten, mussten sie sich deutlich häufiger als jüngere Bewerberinnen und Bewerber mit einem niedrigeren Gehalt als zuvor zufriedengeben.
Und das ist noch nicht alles:
Mehr als neun von zehn älteren Arbeitnehmern sagen, dass Diskriminierung in ihrer Altersgruppe häufig oder sogar sehr häufig vorkommt.
Drei von fünf älteren Arbeitnehmern haben Altersdiskriminierung im Job selbst beobachtet oder erlebt.
Ein Drittel derjenigen, die befürchten, im nächsten Jahr ihren Arbeitsplatz zu verlieren, nennen Altersdiskriminierung als einen der Gründe.
Unter den Arbeitsuchenden geben 44 Prozent der älteren Bewerberinnen und Bewerber an, dass sie während eines Bewerbungsverfahrens oder Vorstellungsgesprächs nach altersbezogenen Informationen gefragt wurden.
Nur 3 Prozent der Arbeitnehmer geben an, dass sie sich bei Vorgesetzten, der Personalabteilung, einer anderen Organisation oder einer staatlichen Stelle offiziell über Altersdiskriminierung beschwert haben.
Fast sechs von zehn älteren Arbeitnehmern halten schärfere Gesetze für nötig, um Altersdiskriminierung zu verhindern.
In einem Forschungsaufsatz zu diesem Thema bezeichnen die Autoren Ashley Martin, Professorin an der Stanford Graduate School of Business, und Michael S. North, Professor an der New York University, Altersdiskriminierung als die letzte weithin akzeptierte Form der Diskriminierung. Die Forschung hat zwei verbreitete Mythen identifiziert, die zu Altersdiskriminierung beitragen.
Mythos 1: Ältere Arbeitnehmer kosten mehr Geld und bringen keinen Mehrwert. Ein Teil dieses Mythos rührt von der weitverbreiteten Annahme her, dass die Gehälter und Sozialleistungen für ältere Arbeitnehmer höher sind als für jüngere Arbeitnehmer. Eine andere Annahme ist, dass erfahrene Arbeitnehmer weniger produktiv sind.
In der Praxis zeigt sich jedoch, dass ältere Arbeitnehmer die Kosten für ihre Arbeitgeber senken und auf einzigartige Art und Weise Mehrwert für ihr Unternehmen schaffen. Ein Beispiel dafür ist die Corona-Pandemie. Hier kehrten Zehntausende pensionierte Fachkräfte aus dem Gesundheitswesen an ihren Arbeitsplatz zurück. Ihr Einsatz half nicht nur, Engpässe zu entschärfen. Sie wurden auch als „erfahren“, „überlegt“, „unverzichtbar“ und „vertrauensvoll“ beschrieben.
Den hohen Wert älterer Mitarbeiter belegen Untersuchungen der Unternehmensberatung Mercer. Sie zeigen, dass Ältere nicht nur mehr emotionale Intelligenz mitbringen, sondern dass sie auch die Kosten für Arbeitgeber senken, weil sie seltener kündigen. Und wenn sie Teams leiten, ist die Fluktuationsrate geringer. Andere Studien belegen, dass Ältere zu einer Arbeitsumgebung beitragen, die den Gruppenzusammenhalt sowie die Zusammenarbeit stärkt und die Stressresistenz im Team erhöht.
Ältere Arbeitnehmer steigern auch die Innovationsfähigkeit von Unternehmen. Dienstleistungen und Produkte, die sich an ältere Menschen richten, sind der am schnellsten wachsende Markt der Welt. Allein in den USA ist er beinahe 8 Billionen Dollar groß, weltweit wird er auf 22 Billionen Dollar geschätzt. In praktisch jeder Branche brauchen Unternehmen eine Strategie, um ältere Kunden anzusprechen. Es liegt auf der Hand, dass ältere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei Konzeption und Entwicklung entsprechender Produkte und Dienstleistungen sowie deren Markteinführung eine entscheidende Rolle spielen.
Bei Unternehmen wie dem Brillenspezialisten Warby Parker findet bereits ein Strategiewechsel statt. Warby Parker war zunächst als Direktvertrieb für Brillen gestartet, der sich an junge Erwachsene richtete. Großes Wachstum erzielte das Unternehmen jedoch erst, als es in den Markt für Gleitsichtgläser für Ältere einstieg. Um die neue Zielgruppe zu erreichen, entwickelte die Firma eine neue Strategie. Dazu gehörte auch die Einstellung Älterer, die die Bedürfnisse der angepeilten Kundschaft aus eigenem Erleben kannten. Wie sich zeigte, unterschieden sich die Wünsche der Zielgruppe erheblich von den Annahmen: Die älteren Kunden wünschten sich nämlich modische Brillenfassungen zu erschwinglichen Preisen statt eher unauffällige, stabile Ausführungen für etwas mehr Geld. Auf dem US-Markt gibt es einen Slogan, der die Produktdesigns beschreibt, die bislang für diese Zielgruppe entworfen wurden – unter der irrigen Annahme, dass dies ihren Vorlieben entspräche: „big, beige, and boring“ – groß, beige und langweilig.
Mythos 2: Ältere tun sich schwer mit Technologie und dem Erlernen neuer Fähigkeiten. Dieser Glaube wird durch einige Marketingkampagnen für technische Produkte noch verstärkt. Doch das Bild der schusseligen Alten, die nicht mit dem Handy umgehen können, ist ein altersfeindliches Klischee. Die meisten älteren Arbeitnehmer nutzen moderne Technik so selbstverständlich wie ihre jüngeren Kolleginnen und Kollegen – und auch bei ihnen hat die Zeit mit Zoom & Co. während der Pandemie zu einem sprunghaften Anstieg beim Erwerb digitaler Fähigkeiten geführt. Die Arbeit aus der Ferne könnte sogar zum großen Gleichmacher geworden sein. Schließlich beherrschen nun alle Arbeitnehmer gleichermaßen jene technischen Neuerungen, die in der modernen Arbeitswelt gefragt sind.
Ältere können neue Kompetenzen ebenso erlernen wie Jüngere. Der Unterschied besteht der Mercer-Forschung zufolge darin, dass ältere Arbeitnehmer seltener den Umgang mit neuen Technologien erlernt oder diese selbstständig ausprobiert haben. Doch auch das verändert sich: Seit einem Jahrzehnt steigt die Anwendung wichtiger Technologien auch in den höheren Altersgruppen. Am wichtigsten ist jedoch, dass sich ältere Erwachsene neue Technologien aneignen wollen – in dieser Hinsicht unterscheiden sie sich nicht von anderen Generationen.
Unternehmen sollten aufhören, sich darauf zu fokussieren, was ältere Arbeitnehmer nicht wissen. Stattdessen sollten sie überlegen, welche Weiterbildungen und Schulungen sie anbieten können, um die Wünsche ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nach Lernen und Mitwirkung zu erfüllen. Unternehmen wie der Automobilkonzern BMW, der Elektronikhändler Best Buy, der Softwareanbieter Salesforce und die Suchmaschine Google bieten Mitarbeitern aller Altersgruppen die Möglichkeit, ihre digitalen Kenntnisse zu erweitern. Dabei haben sie festgestellt, dass ältere Arbeitnehmer diese Angebote gern annehmen und damit gute Ergebnisse erzielen. Die Lobbyorganisation American Association of Retired Persons (AARP), die sich für die Interessen älterer Menschen einsetzt, arbeitet mit Google zusammen, um einkommensschwachen Arbeitnehmern über 50 Jahren zu helfen, ihre digitalen Fähigkeiten zu verbessern. Im Fokus stehen vor allem Frauen und ethnische Minderheiten. Die Partner wollen das Programm in acht Bundesstaaten starten und es später auf die ganzen USA ausweiten.
Bemühungen wie diese helfen, die oben beschriebenen Mythen zu entkräften. Experten, die sich mit dem Älterwerden beschäftigen, sprechen gern davon, „Ageism in Sageism“ zu verwandeln, also von der Altersdiskriminierung hin zur Wertschätzung von Weisheit zu gelangen. Unternehmen müssen erkennen, dass ältere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit ihrer Lebenserfahrung und ihrem Wissen einen großen Mehrwert haben. Dies sollten sie anerkennen, belohnen und für sich nutzen. Diese Sichtweise gilt es in Vorstandsetagen, Belegschaften und in Werbe- und Marketingkampagnen deutlich stärker zu verankern. Angesichts der großen und wachsenden Zahl älterer Erwachsener, die sowohl Arbeitnehmer als auch Verbraucher sind, wäre es dumm, dies nicht zu tun. © HBP 2022
Autorin
Susan Wilner Goldenist Direktorin der dciX impact initiatives am Stanford Distinguished Careers Institute und Dozentin an der Stanford Graduate School of Business. Zudem ist sie Autorin des soeben erschienenen Buchs „Stage (Not Age): How to Understand and Serve People Over 60 – the Fastest Growing, Most Dynamic Market in the World“ (Harvard Business Review Press).
Kompakt
Die Ausgangslage Die Weltbevölkerung altert deutlich und mit ihr die Belegschaften der Unternehmen. In den USA werden in zwei Jahren fast 25 Prozent der Arbeitskräfte 55 Jahre und älter sein.
Das Vorurteil Ältere Arbeitnehmer gelten vielfach als unflexibel, stehen im Verdacht, sich Neuerungen zu verweigern, und kosten die Unternehmen angeblich mehr Geld als jüngere Mitarbeiter.
Die Realität Studien und die Praxis belegen eindrücklich, dass ältere Arbeitnehmer durch ihr Wissen und ihr Engagement dazu beitragen, die Kosten für ihre Arbeitgeber zu senken – sofern sie die entsprechenden Aufgaben bekommen. Zudem hat die Pandemie gezeigt, dass sie moderne Technik genauso nutzen wie ihre jüngeren Kollegen. Wie sich zeigt, treiben sie sogar die Entwicklung von Innovationen maßgeblich an, wenn sie mit jüngeren Kollegen zusammenarbeiten.
Dieser Beitrag erschien erstmals in der September-Ausgabe 2022 des Harvard Business managers.
