Wie sieht mich die Welt?
Über die Kraft der Beachtung
Beachtung ist ein menschliches Grundbedürfnis wie Hunger oder Durst. Wenn wir zu lange dursten, werden wir krank. Unser Bedürfnis, beachtet zu werden, ist also von so großer Bedeutung, dass es zu jeder Zeit unseres Lebens vorhanden ist. Und wird das Bedürfnis nach Beachtung befriedigt, trägt dies maßgeblich zur Förderung unseres Geborgenheitserlebens bei. Was aber, wenn nicht? „Beachtung braucht der Mensch wie Blumen die Sonne“, schreibt die Hamburger Dichterin Else Pannek, und da ist was dran. Schließlich benötigen wir für die Entwicklung unseres Selbstbewusstseins auch die Wahrnehmung anderer. Wir wollen in unserem Wesen wahrgenommen und erkannt werden, wir wollen sagen können: Hier bin ich, ich gehöre dazu. Und zwar so, wie ich bin.
Sich dazugehörig zu fühlen ist ein Grundbedürfnis, weil wir Menschen ohne die Gemeinschaft nicht überlebensfähig wären. Denn ohne Beziehung gäbe es keine Verteilung der Gene und ohne diese keine Verbreitung der Menschheit. Deswegen legt uns die Evolution so unheimlich viel Motivation in die Wiege, uns an andere Menschen zu binden. Damit wir Bindungen aber überhaupt knüpfen können, müssen wir zunächst beachtet werden. Mehr noch, um Zugehörigkeit zu erfahren, wir müssen auf Anerkennung stoßen. Unser Gehirn rechnet also ständig Chancen und Risiken aus, womit wir wohl auf Zustimmung oder auf Ablehnung stoßen. An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, warum diese Kalkulation oft negativ ausfällt. Larissa etwa fühlt sich sehr häufig nicht wahrgenommen, von der Welt einfach übersehen. Folglich hat sie auch nicht den Eindruck, auf Zustimmung zu stoßen. Dabei wirkt der Faktor Beachtung in allen zwischenmenschlichen Begegnungen, alles, was Larissa mit anderen tut, dient dem Austausch von Beachtung. Warum also fühlt sie sich dennoch häufig unbeachtet?
Meister der Fehlinterpretationen
Bei dem Thema Beachtung geht es immer um eine subjektive Wahrnehmung. Wahrnehmungsreize der äußeren Welt werden dabei unterbewusst mit unseren Erinnerungen verglichen und vermischen sich zu einem Vorstellungsbild. Von besonderer Bedeutung für unsere subjektive Wahrnehmung sind frühkindliche Programme, die sich insbesondere in unseren ersten sechs Lebensjahren entwickeln.
In dieser Zeit vollziehen sich wichtige Schritte der Gehirnentwicklung, wobei Konditionierungen und Muster entstehen, die wir auch Prägungen nennen und die sich tief in uns einspuren. Wir sind deshalb allesamt nicht in der Lage, rein objektiv wahrzunehmen und sehen das Verhalten anderer meist durch die Brille unserer Kindheitsprägungen.
So kann der Grund für Larissas Wahrnehmung, ständig übersehen zu werden, darin liegen, dass sie als Kind häufig auf Nichtbeachtung gestoßen ist. Vielleicht mussten ihre Eltern viel arbeiten, hatten mehrere Kinder zu versorgen und konnten jedem einzelnen nur wenig Aufmerksamkeit schenken. Diese Prägungen gehen mit gewissen Glaubenssätzen einher, die eine unbewusste Überzeugung über sich selbst, das Miteinander und die Welt beinhalten. Glaubenssätze beeinflussen maßgeblich unsere Wahrnehmung, unser Fühlen, Denken und Handeln, und lautet einer meiner Glaubenssätze „Ich werde nicht beachtet“, folgt daraus zunächst ein Gefühl von Traurigkeit, weil ich scheinbar nicht gesehen werde.
Die Glaubenssätze an sich würden gar nicht so viel ausrichten, wenn sie nicht mit belastenden Gefühlen verbunden wären. So erwächst aus negativen Glaubenssätzen, dessen Summe das sogenannte Schattenkind in uns ausmacht, eine permanente Angst, nicht zu genügen.
Denn das Schattenkind trägt Wunden unseres Selbstwertgefühls in sich. Wunden, die im zwischenmenschlichen Bereich zu ständigen Fehlinterpretationen der Ereignisse führen. So wird Larissa jedes Mal traurig, wenn sie bei Begegnungen mit Kollegen nicht die Aufmerksamkeit erhält, die sie sich wünscht. Erklären tut sie sich diesen Mangel an Beachtung mit ihrer eigenen Bedeutungslosigkeit und kommt gar nicht auf die Idee, dass der wahre Grund dafür vielleicht eine aktuelle Überforderungslage des anderen ist, der gerade für rein gar nichts den Kopf frei hat.
In unserem Alltagsleben vermischen sich die Wahrnehmungen aus dem Blickwinkel unseres Schattenkindes und unseres Verstandes. Dabei sind wir es nicht gewohnt, beide Bewusstseinszustände voneinander zu trennen. Hierdurch nehmen wir unsere Schattenkind-Gefühle zu ernst und schenken ihnen Glauben. Und Larissa glaubt tatsächlich, dass sie es nicht wert ist, beachtet zu werden.
Die gute Seite des Übels
Dass die meisten Prägungen bereits gelaufen sind, bevor wir uns erinnern können, ist dabei eigentlich eine gute Nachricht. Es bedeutet nämlich auch: Larissas Glaubenssätze sagen nichts über ihren aktuellen Wert aus. Das Problem ist ja, dass sie sich noch als Erwachsene mit diesen alten Botschaften identifiziert. Wenn sie aber begreift, dass diese Sätze nicht über sie etwas aussagen, sondern nur über gewisse Verhaltensweisen ihrer Eltern, dann hat sie den ersten Schritt schon geschafft. Je mehr wir uns mit unserer Vergangenheit beschäftigen, desto mehr Verhaltensmuster werden uns bewusst, die ihren Ursprung in der Kindheit haben. In dem Fall können wir darüber nachdenken, ob das Muster noch hilfreich und förderlich ist. Und immer, wenn Larissa sich dabei ertappt, dass sie wieder in ihrer alten Matrix gelandet ist – also bei ihrem Schattenkind –, kann sie bewusst in ihre heutige Erwachsenenrealität umschalten und sich sagen: Hey, das sind alte, willkürliche Prägungen, die nicht stimmen. Allein die Erkenntnis wird sie lehren, über neue Strategien nachzudenken.
Eine Strategie besteht darin, sich neue Glaubenssätze zu suchen, die unserer heutigen Realität angemessen sind. Wir können auch unsere Kernglaubenssätze einfach umkehren und aus „Ich werde nicht beachtet“ „Ich werde beachtet“ machen. Die Umkehrung macht es unserem Gehirn leichter, neue Glaubenssätze abzuspeichern und in unserem Unterbewusstsein als abrufbare Erfahrungswerte zu lagern.
Es hilft, wenn wir sie mit schönen Situationen in unserem Leben verbinden, in denen sich diese Glaubenssätze bewahrheitet hatten. Und jeder von uns wird sich an Situationen erinnern, in denen wir von anderen mit freundlicher Zugewandtheit empfangen und mit wohlwollenden Augen gesehen wurden.
Eine Frage der Haltung
Grundsätzlich läuft alles, was wir wahrnehmen, durch den subjektiven Filter unserer persönlichen Erinnerungen und unseres Selbstbildes. Reize, die wir aus der Außenwelt empfangen, werden immer subjektiv interpretiert. Die Interpretation der Wirklichkeit bestimmt unsere Gedanken, unsere Gefühle und unser Verhalten. Und umgekehrt beeinflussen unsere Gedanken und Gefühle unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit. Wir empfangen also einen Reiz aus der Außenwelt – zum Beispiel zieht unser Gegenüber die Mundwinkel nach oben –, dann interpretieren wir diesen Reiz (blitzschnell und unbewusst) entweder als ein Lächeln oder als ein blödes Grinsen.
Aus dieser Interpretation ergibt sich ein angenehmes Gefühl (Freude) oder ein unangenehmes (Ärger), das wiederum einen Verhaltensimpuls auslöst: Wir lächeln beispielsweise zurück oder wir mustern unser Gegenüber mit genervtem Gesichtsausdruck.
Auf Reiz folgt Interpretation, folgt Emotion, folgt Verhalten, lautet die kurze Formel, welche die Art und Weise beschreibt, wie wir unseren Mitmenschen begegnen und wie wir diese Begegnung wahrnehmen. Dabei neigt unser Schattenkind dazu, unsere Mitmenschen grundsätzlich negativ verzerrt wahrzunehmen. Diesem Anteil unseres inneren Kindes sind wir aber nicht hilflos ausgeliefert. Wir haben es also auch selbst ein stückweit in der Hand, wie sehr wir beachtet werden, wie die Welt uns sieht, Wenn wir nämlich als Kind in verunsichernde oder beängstigende Situationen geraten sind, standen uns drei angeborene Reaktionsmuster zur Verfügung: totstellen, fliehen oder angreifen. Dazu kam das Gefühl von Hilflosigkeit oder Ohnmacht. Dieses Wissen kann auch Larissa als Handwerkszeug dienen, um zu erkennen, wann sie gerade wieder in eine lange vergangene Geschichte abtaucht.
Schon das Erkennen, dass sie in einen alten Film geraten ist, wird ihr helfen, sich bewusst für neue Gedanken und Verhaltensweisen zu entscheiden. Wenn sie sich also bei der nächsten Begegnung mit anderen Menschen übersehen fühlt, sollte sie sich dieses Mal nicht wegducken, sondern sagen, „Hallo, hier bin ich!“ Es wird sie in Erstaunen versetzen, wie viel Beachtung sie durch ihre neue Haltung erfahren wird.