Premium

Wie Thyssenkrupp Steel der Unternehmensumbau gelang

Transformationsprojekte sind immer harte Arbeit. Thyssenkrupp Steel hat es sich aber bewusst unbequem gemacht. Der Change-Prozess stellte die alte Kultur völlig auf den Kopf. Die Mitarbeiter entwickelten Zielbilder, puzzelten und machten Tempo in Sechs-Monats-Sprints. Ein detaillierter Werkstattbericht.

Von Matthias Kolbusa und Christoph Martin

Bernhard Osburg zögerte keine Sekunde. "Rauf da – und endlich ändern, was geändert werden muss!", sagte er, als er im Februar 2020 gefragt wurde, ob er sich auf den CEO-Schleudersitz von Thyssenkrupp Steel (Tk Steel) setzen wolle.

Die Halbwertzeit auf diesem Chefsessel hatte sich zuletzt ziemlich verkürzt: Nach dem geplatzten Joint Venture mit dem indischen Stahlhersteller Tata Steel 2019 hatte es bereits zwei CEO-Wechsel gegeben. Tk Steel befand sich Anfang 2020 in einer außerordentlich schwierigen Lage: Das Unternehmen ächzte unter der Stahlschwemme aus China, hohen US-Zöllen auf Stahlimporte und Überkapazitäten in der europäischen Stahlindustrie. Die schwache Auslastung in den europäischen Werken erhöhte den Druck zusätzlich. Tk Steel schrieb tiefrote Zahlen. Die sich abzeichnende Corona-Pandemie ließ erahnen, was noch an zusätzlichen Schwierigkeiten auf die Stahlindustrie zukommen würde.

Der Mutterkonzern Thyssenkrupp stand vor einer schwierigen Entscheidung: Sollte er seine Tochter verkaufen oder besser auf eine Weiterentwicklung aus eigener Kraft setzen? Der Vorstand in Essen entschied sich gegen einen Verkauf und dafür, circa 800 Millionen Euro in den Stahl zu investieren.

Nun sollte es also Bernhard Osburg richten. Der ehemalige Vertriebsvorstand hatte bei seinem Amtsantritt bereits einen Plan: Mit seinen Kollegen hatte er im Vorjahr begonnen, die "Stahl-Strategie 20-30" auszuarbeiten. Das Ziel: Tk Steel sollte endlich wieder die Spitzenposition auf dem europäischen Stahlmarkt einnehmen. Der harte Weg dorthin war auch schon skizziert: Ohne eine erhebliche Kostenreduzierung würde es nicht gehen. Auch an einem Auf- und Ausbau eines hochwertigen Produktportfolios führte kein Weg vorbei. Die Stahlproduktion musste in eine klimaneutrale und digitale Zukunft überführt werden. Für Tk Steel hieß das konkret: mehr CO2-reduzierten Stahl produzieren, Werkstoffe für die E-Mobilität entwickeln und den Leichtbau für die Automobilindustrie vorantreiben, eine optimierte Vertriebs- und Produktionssteuerung und anderes mehr.

Was auf den ersten Blick neu aussah, ergab jedoch noch lange keine neue Strategie. Das Problem bei Tk Steel war nicht der Mangel an guten Ideen, sondern die althergebrachte Herangehensweise: klassische Programm- und Projektstrukturen, die parallel zur Linienorganisation existierten. Mit keinem der bisherigen Transformationsprogramme war es gelungen, die Mannschaft von Tk Steel wirklich zu mobilisieren und ihr eine Perspektive zu bieten. Allen Beteiligten war klar: Um das Schicksal des Unternehmens zu wenden, musste etwas radikal Neues, etwas radikal anderes passieren.

Im Vorstand waren sich CEO Bernhard Osburg, CTO Arnd Köfler und die Neuzugänge Carsten Evers (CFO) und Markus Grolms (CHRO) einig: "Wir haben kein Erkenntnisproblem, aber ein massives Umsetzungsproblem!" Die Vorstände teilten noch eine weitere Gewissheit: Der Laden kann das besser! Jedenfalls dann, wenn es gelingen würde, die Energie der Belegschaft neu zu entfachen, und wenn sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihren Stolz zurückerobern könnten.

In diesem Werkstattbericht beschreiben wir – Christoph Martin, Head of Controlling, Accounting & Risk bei Tk Steel, und Matthias Kolbusa als externer Berater und Experte für Umsetzungsmanagement –, wie wir die Transformation angegangen sind. Wir teilen unsere Erfolge, aber auch Rückschläge und Fehler, denn wir sind überzeugt, dass andere daraus lernen können. Wir gehen auf viele Details ein, damit unser Weg wirklich nachvollziehbar wird. Etwas Grundwissen zu Objectives & Key Results (OKR) ist für die Lektüre dieses Artikels hilfreich.

Noch ist die Transformation bei Tk Steel nicht abgeschlossen. Aber wir sind auf gutem Weg, wieder zu einem führenden Unternehmen im europäischen Stahlmarkt zu werden und Stahl klimaneutral zu produzieren.

Die vier Prinzipien

Dem Vorstand war bewusst, dass nur ein anderer und deutlich unbequemerer Ansatz als bisher zum Erfolg der neuen Strategie führen würde. Nicht nur im Sport gilt die Korrelation: Je mehr wir bereit sind, für unser Ziel die Komfortzone zu verlassen und unsere Widerstände zu überwinden, desto größer ist der spätere Erfolg. Will ein Läufer beispielsweise auf zehn Kilometer schneller werden, hilft es nicht, die zehn Kilometer drei- statt zweimal pro Woche zu laufen. Er muss stattdessen Intervalltrainings absolvieren. Das macht keinen Spaß. Aber sobald die ersten Erfolge zu sehen sind, macht es unglaublich stolz und motiviert zu mehr.

Dasselbe Prinzip gilt bei einem Change-Prozess: Loszulegen kostet Überwindung und Anstrengung, dranzubleiben ebenfalls – aber sind die ersten Hürden genommen , entwickelt sich Ehrgeiz und immer mehr Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten. Davon war das Spitzenteam überzeugt. Die vier Vorstände beschlossen gemeinsam mit Matthias Kolbusa, es sich selbst und der gesamten Organisation ganz bewusst unbequem zu machen mit der neuen Strategie. Vier Prinzipien bildeten dabei den Kern:

1. Klarheit: Der Vorstand hatte 16 Handlungsfelder aus der Strategie abgeleitet. Für jedes sollte ein präzise formulierter und emotional packender Zielzustand erarbeitet werden. Die Leitfragen dabei lauteten: Was genau wird 2025 anders sein, wenn wir die Produktion, die Logistik, den Automotive-Sektor, die Digitalisierung und andere Bereiche erfolgreich umgebaut haben? Wie sieht das Zielbild der 16 strategischen Handlungsfelder, auch Module genannt, konkret aus? Worauf sind wir 2025 stolz? Worum beneiden uns die Wettbewerber?

2. Geschwindigkeit: Diese Zielzustände für das Jahr 2025 sollten mit Projekten umgesetzt werden, die eine Laufzeit von maximal sechs Monaten haben – egal, ob sie mit klassischen Managementmaßnahmen angegangen werden oder mit OKR. Projekte mit längerer Laufzeit sollte es auf keinen Fall mehr geben.

3. Ergebnisfokus: Der zentrale Aspekt der Umsetzung: Der Vorstand legte fest, dass ausnahmslos jedes Projekt spätestens nach sechs Monaten einen unternehmerisch relevanten Effekt zu liefern hatte, der direkt GuV- oder wettbewerbswirksam war oder darauf einzahlte (siehe Grafik "Verwechslungsgefahr"). Dieser Punkt war für die Organisation wirklich unbequem – und wie sich noch zeigen sollte, stellte er eine der größten Hürden im Transformationsprozess dar.

4. Disziplin: Für alle Projekte galt: keine Projektpläne! Nicht über längere Zeiträume, nicht für die festgelegte Laufzeit von sechs Monaten. Stattdessen monatlicher Fortschrittszwang. Jedes Projekt musste jeden Monat aufs Neue anhand definierter Größen beweisen, dass es auf das Sechs-Monats-Ziel und damit auch auf das Zielbild für das Jahr 2025 einzahlt.

Den vier Vorständen war bewusst, dass diese Veränderung auch für sie selbst unbequem werden würde: Eingeschliffene Muster zur Führung und Steuerung des Unternehmens mussten sie über den Haufen werfen. Auch die Bestätigung, auf dem richtigen Weg zu sein, würden sie künftig aus anderen Mechanismen ziehen müssen als bisher. Einfacher gesagt als getan.

Die Konzeption

März 2020

Aller Anfang ist schwer – gerade wenn es um radikale Veränderungen geht. Dass es für die Transformation keine separate Projektorganisation geben soll, macht viele Führungskräfte skeptisch. Etliche leitende Mitarbeiter fühlen sich zudem verunsichert, weil sie sich durch den neuen Ansatz infrage gestellt fühlen.

Im März 2020 wurde die erste Führungsebene ins Boot geholt: In einem 45-minütigen Briefing-Call wurden die rund 50 Managerinnen und Manager der ersten Führungsebene informiert, wie die Umsetzung der Strategie grundsätzlich ablaufen würde und welche Schritte als Nächstes anstanden. Anders als früher gab es keine ausführlichen Präsentationen, die detailliert erläuterten, was dieses Mal alles anders gemacht werden würde. Es gab auch keine "Change-Agents", die die Organisation für den neuen Wandlungsprozess vorbereiten sollten.

Erfolgreicher Change besteht darin, nicht nur über die Dinge zu sprechen, sondern die Dinge für sich selbst sprechen zu lassen. Daher skizzierten wir lediglich einen groben Fahrplan, stellten das Prinzip der Vision 2025 und ihre Zielbilder vor sowie die vier Umsetzungsprinzipien: Klarheit, Geschwindigkeit, Ergebnisfokus und Disziplin.

Dem Vorstand schlug in diesem Meeting große Skepsis entgegen. Man sei auf derlei radikale Maßnahmen nicht vorbereitet, hieß es. Und: Wie sollte all das überhaupt funktionieren, wenn es keine gescheiten Pläne und Meilensteine gebe? Vor allem das Versprechen, dass die Organisation durch das Vorgehen mehr leisten könne als bisher, rief Unmut hervor. Viele sahen darin den unausgesprochenen Vorwurf, dass das Management zuvor unzureichend gewesen wäre.

Es war allerdings nicht von der Hand zu weisen, dass die früheren Transformationen mit den gewohnten Methoden allenfalls Teilerfolge erzielt hatten. "Wir werden konsequent mit Zielbildern arbeiten", machte Vorstand Bernhard Osburg deutlich, "und alles aus uns rausholen, um in kurzen Rhythmen konsequent Ergebnisse zu erzielen." Das Projekt wurde gestartet.

Der Zeitplan war ambitioniert: In den nächsten zwei Monaten sollte ein Konzept für die Umsetzung erarbeitet werden. Im April sollten die Zielzustände klargezogen, im Mai in sogenannten Zielbildpuzzles systematisiert, im Juni die ersten OKRs vorbereitet werden. Im nächsten Schritt war ein erster Umsetzungssprint bis Jahresende vorgesehen. Geschwindigkeit wurde nach dem Motto definiert: "Es geht um Fortschritt, nicht um Perfektion."

Ein weiterer Unterschied zu früher: Es gab keine separate Projektorganisation, keine Heerscharen externer Berater. Der Grundsatz lautete: Die Linie denkt und setzt die Strategie um, niemand sonst! Ein internes Supporter-Team aus 20 jungen High Potentials wurde rekrutiert. Gemeinsam mit Matthias Kolbusa sollten sie die Linienverantwortlichen methodisch und prozessual unterstützen und die Veränderung vorantreiben.

Zielbilder erarbeiten

April 2020

Um eine intensive Auseinandersetzung mit dem Projekt zu fördern, sollen die Mitglieder der sogenannten Kernteams genau beschreiben, was sich in ihrem jeweiligen strategischen Handlungsfeld (Modul) bis zum Jahr 2025 verändert hat und wo der Nutzen liegt. Anschließend werden die unterschiedlichen Zielbilder diskutiert und zu einem einzigen Zielbild je Modul zusammengefasst.

Nachdem sie informiert worden waren, erhielten die 50 Managerinnen und Manager der ersten Ebene die volle Verantwortung für den Transformationsprozess. Sie bildeten das Steel Executive Team (SET) und wählten aus ihren Reihen Verantwortliche für jedes der 16 Handlungsfelder (Module) aus, die sich aus dem Strategieprozess ergeben hatten. Entscheidend für den Prozess: Jedes Handlungsfeld wurde von einem Kernteam verantwortet, das konzeptionell und später bei der Umsetzung für den Fortschritt beziehungsweise den Erfolg verantwortlich war.

Die drei bis fünf Mitglieder jedes Kernteams wurden von den Modulverantwortlichen siloübergreifend aus unterschiedlichen Unternehmensbereichen rekrutiert. So bestand das Kernteam im Modul "Führungs- und Leistungskultur" beispielsweise nicht ausschließlich aus Personalfachleuten – zu seinen Mitgliedern zählten unter anderen ein Fertigungsleiter und ein Produktionsmanager. Ihre Aufgabe war es, für 2025 den Zielzustand ihres Moduls zu erarbeiten.

Hier kamen erstmals die Supporter als wichtige Unterstützer ins Spiel. Sie halfen den Kernteams in den kommenden vier Wochen, eine klare, präzise, lebendige und attraktive Zielbildstory für das jeweilige Modul zu entwickeln. Die Leitfragen, um sich diese Zukunft zu erarbeiten, waren die folgenden:

  • Wie sieht der Zielzustand 2025 aus, nachdem es gelungen ist, im E-Mobilitäts-Markt einen relevanten Ergebnisbeitrag zu leisten?

  • Was genau ist in der Produktion, der Logistik oder im Vertrieb 2025 anders, sodass die Liefertreue Benchmarks in der Industrie setzt?

  • Wie sieht eine digitalisierte Hütte aus?

Der Unterschied zu früheren Transformationsprojekten war deutlich: Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Module sollten nicht durchdenken, welche Maßnahmen zu ergreifen waren, um die Ziele zu erreichen. Es ging auch nicht um den Prozess oder eine bestimmte Vorgehensweise. Es ging nicht um das Wie. Der Fokus wurde stattdessen auf das Was (Was ist anders?) und das Wozu (Wozu wollen wir diesen Zielzustand erreichen?) gelegt.

Die Idee dahinter: Um Umsetzungsstärke zu erreichen, müssen zwei Voraussetzungen gegeben sein. Erstens: eine klare gemeinsame Vorstellung von dem, was anders ist, wenn der Wandel erfolgreich war. Vor dem geistigen Auge der Verantwortlichen muss derselbe Film ablaufen. Dies ist mit abstrakten Formulierungen nicht zu erreichen wie "durch optimierte Prozess- und neue Lieferstrukturen ist die Logistik wesentlich produktiver".

Zweitens: Mindestens im Kernteam eines jeden Moduls und später auch in weiten Teilen der Organisation muss eine echte Sehnsucht entfacht werden für diesen Zielzustand, diese Zukunftsstory. Das passiert eher auf der emotionalen als auf der rationalen Ebene. Für den Erfolg ist entscheidend, dass die Zielzustände wirklich Anziehungskraft entfalten.

Methodisch entstanden die Zielbilder wie folgt: Die Mitglieder aller 16 Kernteams erhielten die Aufgabe, sich als Journalisten in eine Zeitmaschine zu setzen und fünf Jahre in die Zukunft zu reisen. In einem Artikel für die Mitarbeiterzeitung sollten sie beschreiben, was sich verändert hatte und wie sich diese Änderungen bemerkbar machten. Es ist wichtig, die Vision schriftlich und in ganzen Sätzen festzuhalten. Das regt die Vorstellungskraft an. Jeder Artikel sollte zwei bis drei Seiten lang sein.

Die Aufgabe stieß nicht überall auf Begeisterung. Nachdem sich die Teammitglieder jedoch dazu durchgerungen hatten, fanden viele Spaß daran. Natürlich waren die Aufsätze nicht sofort so, wie wir sie brauchten. Statt klarer Bilder gaben die Teams ein Potpourri abstrakter und relativer Aussagen ab. Es tauchten Formulierungen auf wie "... mit der Einbindung unserer Kunden in die Entwicklung neuer Produkte stiegen nicht nur Akzeptanz und Kundenbindung, sondern es erhöhten sich auch Cross-Selling-Rate und Umsatz". Das ergab allenfalls ein diffuses Bild. Denn: Wer fühlt sich wo wie eingebunden? In die Entwicklung welcher Produkte? Und: Welche Akzeptanz wofür ist wie stark gestiegen? Um wie viel hat sich welche Cross-Selling-Rate zu welchen anderen Produkten erhöht?

Die Autoren und Autorinnen bekamen von den Supportern klares Feedback inklusive Schulnoten. Die Texte mussten so lange nachgebessert werden, bis sie mit Note 2 bewertet wurden. Es war ein zuweilen quälendes Vorankämpfen und fühlte sich manchmal frustrierend an. Um so stolzer waren die Kernteams am Ende auf das Ergebnis: Die Zielbildstorys strotzten nun vor Zahlen, Daten, Fakten und Beispielen aus der Zukunft. Man konnte es spüren: Die Mitglieder der Teams hatten Feuer gefangen und begannen, sich mit der Transformation wirklich intensiv auseinanderzusetzen.

Im nächsten Schritt diskutierten die Kernteams die unterschiedlichen Zielbildstorys. Jeder musste sich ausführlich mit den Aufsätzen seiner Teamkollegen auseinandersetzen. Moderiert durch die Supporter, wurde so aus drei bis fünf unterschiedlichen Vorstellungen eine konsolidierte Zielbildstory pro Modul.

Die letzte Schleife in diesem vierwöchigen Prozess war die Diskussion der 16 Zielbildstorys mit dem Vorstand. Die vier Vorstände teilten sich in zwei Teams auf und agierten von jetzt an als Vorstandspaten für feste Kernteams. Für die abschließende Diskussion der Zielbilder bereiteten sich die Vorstände genauso vor wie zuvor die Teammitglieder: Sie analysierten die Aufsätze anhand von vier Kriterien: 1. Was sind echte Highlights? 2. Was verstehe ich nicht? 3. Was fehlt mir? Und 4. Was teile ich so als Zukunftsvorstellung nicht?

Nachdem die Zielbildstorys – und damit die strategischen Zielzustände – definiert waren, fehlte noch der systematische Abgleich: Werden über die Zielzustände die angestrebten Unternehmensziele rund um Ebit, Marktanteil und Liefertreue erreicht? Teilweise mussten anhand der strategischen Business Cases je Modul Ziele und Zielzustände entsprechend angeglichen werden. Wichtig war ein in sich geschlossenes Gesamtsystem, hinter dem alle mit Überzeugung standen.

Zielbildpuzzle erstellen**–**Mai 2020

Zwei der vier Voraussetzungen für außergewöhnliche Umsetzungsperformance sind nach den ersten vier Wochen geschafft: Allen Beteiligten ist klar, welche Zielzustände (Was?) und welche Ziele (Wozu?) erreicht werden sollen. Doch: Welches sind die zentralen Themen der jeweiligen Zielbildstory? Welche Einzelzielzustände – auch Puzzlestücke genannt – sind dafür erforderlich? Genau das sollen die Kernteams im nächsten Schritt erarbeiten. Das angestrebte Ergebnis: ein aus allen relevanten Einzelzielzuständen zusammengesetztes Puzzle für jedes der 16 Handlungsfelder. Zudem soll entschieden werden, welche der 30 bis 50 entstandenen Puzzlestücke pro Modul im ersten Sechs-Monats-Sprint der Umsetzung angegangen werden. Keine leichte Aufgabe, denn von vornherein war klar, dass mehr als eine Handvoll kaum zu schaffen wären.

Das Ziel für Mai war klar. In den folgenden vier Wochen mussten Fokus und Disziplin erzeugt werden – zwei weitere Voraussetzungen für echte Umsetzungsstärke. Dafür brauchte es eine Struktur, die Prioritäten klar aufzeigt und folgende Frage beantwortet: Worauf fokussieren sich die Teams in den kommenden Umsetzungssprints?

Als Methode nutzte Tk Steel sogenannte Zielbildpuzzles: Jeder Bereich zerlegte seine Zielbildstory in 30 bis 50 emotional beschriebene Einzelzielzustände – sogenannte Zielbild-Puzzlestücke. Gemeinsam fragten sich die Kernteams mit ihren Supportern: "Welches sind die zentralen Themen, um die sich unser Zielbild dreht?" Beim Modul "Klimastrategie", das sich mit CO2-neutralem Stahl auseinandersetzte, waren es beispielsweise Themen wie Energie & Reduktionsmittel oder Technologie und Finanzierung. Beim "Automotive"-Modul waren es unter anderem E-Mobilität, Leichtbau oder Vertrieb 4.0. Diese Themen bildeten das Grundgerüst eines jeden Zielbildpuzzles. Die Mitglieder der Kernteams gingen ihre Zielbildstory durch und übertrugen die entscheidenden Textpassagen in ihr Puzzle. Im nächsten Schritt wurden daraus die wichtigsten Einzelzielzustände für das Jahr 2025 abgeleitet: die Puzzlestücke (siehe Grafik "Umfassende Transparenz").

Ganz wichtig dabei: Um später in den Sechs-Monats-Umsetzungssprints wirklich produktiv zu sein, musste jedes einzelne Puzzlestück eine Outcome- und Impact-Qualität aufweisen. Wenn Sie OKR bereits nutzen, wissen Sie, dass ein OKR nur aus Outcome oder Impact besteht. Die Puzzlestücke sollten sogar beides aufweisen. Sie mussten einen Effekt (Impact) liefern, der direkt GuV- oder wettbewerbswirksam war, und vorgelagerte Effekte im Einklang mit dem Ziel beschreiben (Outcome). Verboten waren dagegen abstrakte, unklare Aussagen und Relativaussagen. Auch sollten die Teams nicht über das Wie schreiben, den Input.

Ein gut benanntes Puzzlestück besteht aus der angestrebten Zustandsänderung (dem Was) und dem sich daraus ergebenden Effekt (dem Wozu). Ein Beispiel macht deutlich, wie das konkret aussehen kann: Im Puzzle "Technologie als Enabler" entstand das Puzzlestück: "Mit Cloud-Computing zu mehr Standardisierung (50 Prozent weniger Schnittstellen) und 20 Prozent weniger IT-Kosten". Es gilt die Regel: Knackige Zielzustände (Was?) werden mit einem unternehmerisch relevanten Effekt (Wozu?) gepaart – und dies bei jedem Puzzlestück.

Die Zielbildpuzzle-Arbeit machte den Kernteams sichtlich Spaß; für sie war es ein Leichtes, basierend auf den guten Zielbildstorys eine klare Puzzlestruktur zu erzeugen. So hatten alle am Ende der Puzzlearbeit ein äußerst befriedigendes Gefühl: "Wie cool! Auf einen Blick ist klar zu sehen, was wir wozu in den kommenden Jahren herbeiführen wollen. Keine diffusen Folienschlachten, einfach nur ein Blatt!" Eine klare, einfache und doch alle notwendigen Inhalte aufweisende Struktur (Umsetzungsprinzip Klarheit).

Anschließend nahmen sich die Vorstände die Zielbildpuzzles vor: Sie prüften Prioritäten, markierten Puzzlestücke, die ihnen noch nicht schlüssig erschienen, stellten die Teile infrage, die sie für überflüssig hielten, und ergänzten an der einen oder anderen Stelle. Die Supporter betreuten diesen Prozess. Sowohl die Mitglieder der Kernteams als auch die Vorstände empfanden die Diskussion als wohltuend, klar sortiert und zielgerichtet. Der Fokus lag auch dieses Mal wieder auf dem Was und dem Wozu – und nicht wie sonst üblich auf dem Wie.

Die Diskussion mit den Vorständen und Überlegungen zur Priorisierung in den Kernteams lieferten erste Hinweise auf den Fokus des ersten Umsetzungssprints. Dieser erste Sprint sollte im Juli 2020 starten und bis Dezember 2020 laufen. Die Frage war: Für welche fünf Puzzlestücke des jeweiligen Moduls sollte ein relevanter Teilzielzustand erreicht werden? Und: Was soll dabei der Outcome oder Impact sein?

Klar war: Von den im Schnitt 30 bis 50 Puzzlestücken je Modul durfte nur rund eine Handvoll ausgewählt werden für den Sprint – lieber fünf Dinge einen Kilometer vorwärtsbringen als 50 Dinge ein paar Meter. Im üblichen Umsetzungsmanagement ist eine Priorisierung der Ziele und der damit verbundenen Großprojekte schwierig; nichts hat wirklich Vorfahrt. Das ist strukturell begründet: Die Projekte sind langfristig auf einen großen Nutzengewinn ausgerichtet, müssen jedoch erst einmal etliche Hürden überwinden, bevor er eingefahren werden kann. Die Denkstruktur der Zielbildpuzzles ist eine ganz andere: Jedes, absolut jedes Puzzlestück ist durch einen autarken Zustand (Was?) charakterisiert und mit einem sich daraus ergebenden unternehmerischen Nutzen (Wozu?) gepaart.

Abhängigkeiten prüfen**–**Mai und Juni 2020

Die Kernteams analysieren die Zielbildstorys und Zielbildpuzzles der anderen Handlungsfelder: Wo gibt es Überlappungen, wo Abhängigkeiten? Wo dies der Fall ist, müssen Puzzleteile eventuell teilweise neu verortet und inhaltliche Feinjustierungen vorgenommen werden. Die so überarbeiteten Zielbildpuzzles sind die Basis für die Priorisierung: Für welche vier bis sieben Puzzlestücke eines jeden Moduls wollen wir in den kommenden sechs Monate einen Satz nach vorn machen?

Im nächsten Schritt widmeten wir uns den Abhängigkeiten, die zwischen den 16 verschiedenen Modulen bestanden. So kann beispielsweise die E-Mobilität im Modul "Automotive" nur erfolgreich sein, wenn bestimmte Zielzustände – also Puzzlestücke – der Module "Digitalisierung", "Innovations-Management" oder "Produktionsnetzwerk" erreicht werden. Fehlt ein Puzzlestück, geht das Puzzle nicht mehr auf.

Jedes Kernteam prüfte zunächst selbst, ob seine Puzzlestücke womöglich nicht nur vom eigenen Team, sondern auch von anderen Teams abhingen. Schnell wurde dabei deutlich, wer von wem was benötigte, um sein Thema erfolgreich bearbeiten zu können.

In dieser Phase mussten sich alle Beteiligten intensiv mit den Zielbildstorys und Zielbildpuzzles der anderen Kernteams auseinandersetzen. Nie zuvor hatte sich ein Automotive-Manager von Tk Steel derart explizit und systematisch mit der Produktionsstrategie beschäftigt oder eine Logistikerin detailliert mit der Digitalisierungsstrategie auseinandergesetzt. Jetzt machte sich die klare und einheitliche Struktur der Zielbildpuzzles bezahlt: Die Teilnehmer fanden sich in den Strategien und den Zielbildpuzzles der anderen Module schnell zurecht und konnten die Abhängigkeiten modellieren. Dazu nutzten sie ein gemeinsam mit Matthias Kolbusa entwickeltes Webtool, den "Progress Maker". Da jedes Modul im Webtool in derselben einfachen Struktur systematisch aufbereitet zugänglich war, konnte sich etwa eine Mitarbeiterin aus dem Themenfeld Digitalisierung schnell und unkompliziert über die Automotive-Strategie informieren: Ein einziger Blick auf das Zielbildpuzzle reichte. Die acht zentralen Themen waren genauso aufbereitet und strukturiert wie ihre eigenen im Modul Digitalisierung.

Wie sich zeigte, waren die Abhängigkeiten bei Querschnittsthemen wie der Führungs- und Leistungskultur, der Digitalisierung oder der E-Mobilität besonders groß. Es dauerte zwei Tage, bis die Kernteams die Abhängigkeiten diskutiert hatten und alle Verbindungen verstanden, bestätigt, korrigiert oder ergänzt waren.

Die Diskussionen hatten zwei Effekte: Zum einen entstand in den Teams das Gefühl, sich bereichsübergreifend und im Dienst des gemeinsamen Erfolgs wirklich zu verstehen. Zum anderen erkannten die Teilnehmer, was im eigenen Zielbildpuzzle möglicherweise eine neue Priorität erhalten musste. Nie zuvor hatte es eine so tiefe, organisationsübergreifende, auf die wirklich wichtigen Inhalte bezogene Auseinandersetzung gegeben. Anfänglich als lästig empfunden, wurde es nun von alles als außerordentlich hilfreich angesehen, dass nicht über das Wie und damit die einzelnen Maßnahmen (Input), diskutiert werden durfte.

Nach drei Monaten harter konzeptioneller Arbeit standen schließlich sämtliche Zielzustände einschließlich der Prioritäten für den ersten Sechs-Monats-Umsetzungssprint fest. Gleichsam als "Abfallprodukt" war eine klare, transparente Kommunikation für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entstanden: Ganz ohne Power-Point-Schlacht konnten die Kernteams den insgesamt 3000 Führungskräften die Essenz ihres Zielbildes und Zielbildpuzzles nachvollziehbar vorstellen. In späteren Mitarbeiterbefragungen schnellten die Punkte "Ist Ihnen die Unternehmensstrategie klar?" und "Kennen Sie Ihren Beitrag zur Unternehmensstrategie und zum Erfolg der Thyssenkrupp Steel?" auf einer Skala von 1 bis 5 von 1,5 beziehungsweise 2 auf jeweils über 4.

Um die Belegschaft abzuholen, wurde zudem ein "Tk Steel Strategy Booklet" erstellt. Es enthielt die Zielbildstory, Zielbildmission und das Zielbildpuzzle für jedes einzelne Thema. Das Webtool "Progress Maker" können zudem alle Beschäftigten nutzen. Nur mitbestimmungspflichtige oder sensible Themen wie beispielsweise das Modul "Restrukturierung" wurden gesperrt.

Mittlerweile war der Juni vorangeschritten. Die priorisierten Puzzlestücke mussten für den kommenden Sechs-Monats-Umsetzungssprint vorbereitet werden. Dazu wurde dasselbe Prinzip wie bei den Zielbildstorys und -puzzles angewendet: Die Kernteams gingen auf eine Mini-Zeitreise, dieses Mal reisten sie nicht ins Jahr 2025, sondern sechs Monate in die Zukunft an das Ende des ersten Sprints. Auch hier lautete die Leitfrage: Was genau ist in sechs Monaten mit welchem Effekt anders als heute?

Die OKRs**–**Juni und Juli 2020

Das Ende der ersten und entscheidenden Phase für die spätere Umsetzung ist in Sicht: Jetzt müssen noch die Zielzustände der priorisierten Puzzlestücke für den anschließenden sechsmonatigen Umsetzungssprint klar systematisiert und konsequent auf Outcome und Impact getrimmt werden. Ziel ist, die rund 140 OKRs auf die Startrampe zu schieben und mit dem Sprint zu beginnen.

Um die Fortschritte der kommenden Monate messbar zu machen, nutzte Tk Steel OKR (Objectives & Key Results): Dabei werden klare Zielzustände (Objectives) in zwei bis vier Sätzen ausformuliert und zwei bis drei Fortschrittsgrößen (Key Results) benannt, die im Monatsrhythmus nachgehalten werden und aufzeigen, wie und ob man dem Zielzustand näher kommt. Dabei bezieht sich ein OKR immer auf den einzelnen Zielzustand eines Puzzlestücks.

Diese Phase war erfolgskritisch: Es galt, einen Rückfall in alte Muster um jeden Preis zu verhindern. Das Unternehmen durfte nicht zurückfallen in ein Denken rund um Prozesse, Meilensteine und Aktivitäten. Vor allem die unverrückbare Forderung, dass jedes OKR nach sechs Monaten mindestens einen Outcome (also einen vorgelagerten Effekt), besser noch einen Impact (also einen Effekt, der direkt GuV- oder wettbewerbswirksam ist) liefern musste, sorgte für Zündstoff. Berater Matthias Kolbusa und die Supporter gerieten mit den Modulleitern und ihren Teams aneinander. Die Aufgabe der Supporter war es nämlich, diese Maxime bei den verantwortlichen Leitern der Kernteams und den von ihnen bestimmten OKR-Ownern durchzusetzen.

Hier nicht abzuweichen war entscheidend. Die erste goldene Fortschrittsregel lautet: Ein OKR besteht nur aus Outcome oder Impact. Erst so entsteht die angestrebte Umsetzungsstärke.

Die zweite goldene Fortschrittsregel, die sich Tk Steel auferlegte, besagt: Es muss einen monatlich bewertbaren Fortschritt geben. Dazu muss jedes OKR zwei bis drei Key Results aufweisen, die entweder beschreiben, was das Team leistet (Output) oder besser noch, welchen Effekt das Team erreicht (Outcome). Die Resultate müssen jeden Monat nach oben klettern – und zwar für jedes einzelne Key Result.

Was theoretisch einleuchtend klingt, ist in der Umsetzung schwierig – schließlich stellt diese Herangehensweise im Vergleich zu früher eine der größten Veränderungen im Denken und Handeln aller Beteiligten dar. Das Ziel: Am Ende des Sprints sollten alle Teilnehmer sehen, dass man nicht nur viel erledigt hatte (Inputorientierung), sondern auch wirklich bewertbar vorwärtskam (Output-/Outcome-Orientierung).

Ein hilfreicher und entscheidender Punkt hierbei war, dass den OKR-Teams keine Vorgaben gemacht wurden – weder vom Vorstand noch von den Modulleitern –, was bis Dezember zu erreichen sei. Lediglich die Priorisierung der Puzzlestücke war Managementaufgabe. Die Entscheidung, was von dem Zielzustand des Puzzlestücks, der häufig zwei bis vier Jahre in der Zukunft lag, bis Dezember als Objective erreicht werden sollte, war allein Sache des OKR-Teams.

Im Juni und Juli 2020 absolvierten die 20 Supporter einen wahren Moderationsmarathon. Es gab viele Diskussionen, bis die 16 Module mit ihren jeweils vier bis sieben priorisierten Puzzlestücken und den zugehörigen OKRs (in Summe gute 140 Stück) startklar für die Umsetzung waren. Die größte Hürde war, Langläuferprojekte zu vermeiden, die erst nach Jahren unternehmerisch relevante Beiträge leisten würden.

Erst zum Schluss, als die Supporter eine methodische Freigabe der OKRs erteilt hatten, warf der Vorstand noch einen Blick darauf. Und dann war es so weit: Die OKRs wurde auf die Startrampe für den ersten Sechs-Monats-Umsetzungssprint geschoben.

Die Umsetzung

Juli bis Dezember 2020

Im ersten Sechs-Monats-Sprint zur Umsetzung ist manches noch ungewohnt. Vielen fehlen vor allem das bislang gewohnte Abarbeiten von Meilensteinen und eine langfristige und detaillierte Planung. Stattdessen dreht sich nun alles um die Fortschritte, die Monat für Monat festgehalten und geprüft werden müssen.

Nun konnte Phase zwei, das eigentliche Umsetzungsmanagement, starten. Gutes Umsetzungsmanagement besteht aus zwei hintereinander geschalteten Kreisläufen: einem großen und einem kleinen. Der große Kreislauf sind die Sechs-Monats-Umsetzungssprints: Alle sechs Monate werden die Module, ihre Zielzustände und Puzzlestücke, überprüft, korrigiert, bereinigt und eventuell angereichert. Gesammelte Erkenntnisse und sich wandelnde Rahmenbedingungen finden so alle sechs Monate systematisch ihren Niederschlag. Strategie wird dadurch zu einem rollierenden Prozess und ist keine immer wiederkehrende Hauruckaktion. Der kleine Kreislauf dreht sich im großen: Innerhalb des Sechs-Monats-Rhythmus werden von Monat zu Monat die Fortschritte bei den Key Results erfasst.

Für Tk Steel war dies eine völlig neue Art der Steuerung. Weder der Vorstand noch die einzelnen Projektteams hatten jemals zuvor so gearbeitet. Über Jahrzehnte waren sie darauf konditioniert gewesen, sich in Lenkungsausschüssen und Deep Dives auf einen Plan aus Aktivitäten und Meilensteinen zu fokussieren: Wo stehen wir bezogen auf den Plan? Wo und warum gibt es Abweichungen? Wie steuern wir gegen? Was bedeutet das für die Gesamtplanung?

All dies spielte in den monatlichen Fortschrittsmeetings mit dem Vorstand nun keine Rolle mehr. Alle vier Vorstände nahmen sich gemeinsam jede Woche drei Stunden Zeit, um 4 der 16 Module durchzudiskutieren. Jedes Modul hatte seinen festen Monatsslot. Ebenfalls neu war der Grad an Vernetzung und Transparenz. Module, die in starken Abhängigkeiten zueinander standen, wurden am selben Termin diskutiert. So waren Portfolio-Module wie "Automotive" oder "Industrie" gemeinsam mit Modulen wie "Vertriebs-/Produktionssteuerung" am Start. Die Module "Digitalisierung" und "Logistik" wurden ebenfalls oft gemeinsam besprochen.

Das gegenseitige Verständnis wuchs genauso wie das bereichsübergreifende Bestreben, Themen gemeinsam zu lösen. Neu in Sachen Transparenz war zudem, dass jede der insgesamt 3000 Führungskräfte die Möglichkeit hatte, sich zum Videocall der wöchentlichen Meetings zuzuschalten. So konnten sie sich direkt im Rahmen der Monatssprints über die Module, deren Prioritäten, Fortschritte, Probleme und Entscheidungsbedarfe informieren. Dieses Angebot wurde nicht nur gern angenommen: Es führte auch zu einem stärkeren Gemeinschaftsgefühl und mehr offenem Austausch. "No-How" wurde eine viel zitierte Formel in diesen Fortschrittsmeetings. Es ging nicht mehr um das Wie. Das Team legte seinen Fokus auf das, was erreicht werden sollte und wozu.

Umlernen für Führungskräfte

Die Planung fand in den OKR-Teams stand, nicht mehr im Management. Das bereitete zunächst sowohl dem Vorstand als auch der Führungsebene direkt darunter Schwierigkeiten.

Bernhard Osburg erinnert sich gut daran, wie er immer wieder den Reflex unterdrücken musste, nach dem Plan für die nächsten sechs Monate zu fragen. Stattdessen musste er sich daran gewöhnen, sich den Stand der Module jeden Monat durch Fragen zu erschließen:

  • Erreicht ihr den angestrebten Zielzustand zum Sprintende (Objective)?

  • Gibt es überall Fortschritt – entwickeln sich alle Key Results positiv?

  • Was müssen wir im Topmanagement tun, um die Bedingungen für weiteren Fortschritt zu schaffen?

  • Welche Entscheidungen müssen wir dafür treffen?

Früher hatte ein umfangreiches System von Plänen der Unternehmensspitze das sichere Gefühl vermittelt, dass an alles gedacht sei. Die detaillierte Planung hatte jedoch eine Kehrseite: Niemand wusste, was genau zu tun war, wenn der Erfolg sich wegen unvorhergesehener Entwicklungen verzögerte, die Kosten aus dem Ruder liefen und die Angst zu scheitern immer größer wurde. Pläne vermitteln eben nur eine scheinbare Sicherheit. Sie erzeugen eine enorme, nicht wertschöpfende Komplexität. Klüger ist es, die Dinge so anzugehen, dass spätestens nach sechs Monaten ein Erfolg vorliegen muss. Genau hier liegt der entscheidende Unterschied zu den vorangegangenen Versuchen, Tk Steel wieder flottzumachen. Und vielleicht ist es sogar das Geheimnis guten Umsetzungsmanagements: von Mini-Erfolg zu Mini-Erfolg zu sprinten und bei allen Themen regelmäßig Fortschritte zu erzielen.

So wie hier im Text, erzählten wir in den Meetings bei Tk Steel wieder und wieder: Ein Erfolg kann per Definition nur aus einem Outcome oder Impact bestehen. Es geht nur um Effekte, die sich messen lassen. Keine Tätigkeiten, die erledigt werden (Input). Keine Konzepte (Output). Das ist ein feiner, aber enorm relevanter Unterschied, der oft missachtet wird, wenn Unternehmen OKR nutzen. Viele sind nur oberflächlich agil unterwegs und in Wahrheit meist sogar noch träger als zuvor.

Bei den Automotive-Kollegen von Tk Steel bedeutete diese Vorgabe zum Beispiel konkret, dass sie nicht nur ein Konzept formulierten, wie sie den außereuropäischen Markt bearbeiten wollten (Output). Sie setzten sich das Ziel, bis zum Ende des ersten Sprints mindestens zwei Zusagen für eine Zusammenarbeit zu erwirken und als Letters of Intent auszuverhandeln (Outcome).

Erfolgreicher Change besteht darin, die Dinge sprechen zu lassen.

Die neue Struktur sorgte für mehr Transparenz und Klarheit. Vorbei die Zeiten, in denen Manager die Dinge im stillen Kämmerlein erledigten und Informationen nur spärlich teilen konnten. Jeder hatte nun jeder Einblick in den Prozess: Was passierte wo und wie sahen die Fortschritte aus? Eine fehlende oder schlechte Performance konnte kaum noch kaschiert werden. Trotzdem – oder vielleicht auch gerade deswegen – haderte die Organisation mit der Neuerung und ihren Regeln. Für einige Topführungskräfte war die Transparenz schlicht ärgerlich.

Die größten Hindernisse

Nicht nur mit der neuen Transparenz, auch mit dem strikten Fortschrittsprinzip taten sich viele schwer: In den Fortschrittsmeetings waren selbst Topmanagerinnen und Manager erstaunt, wenn sie vom Vorstand, von Kollegen oder den Supportern gefragt wurden, wieso ein Key Result keinen Fortschritt ausweise. Ein Bereichsleiter, der mit einem seiner OKRs die Prozessperformance in einem bestimmten Bereich bis Ende des Jahres um 10 bis 15 Prozent steigern wollte, reagierte gereizt auf die Nachfrage: "Wieso fragen Sie? Wir haben doch beim Key Result 'Anzahl identifizierter Prozesspotenziale' im Vergleich zum Vormonat 25 mehr erreicht!" "Das ist auch gut so!", lautete die Antwort: "Aber Ihre beiden anderen Key Results sind nicht gestiegen."

Das Beispiel war kein Einzelfall. Während des ersten Umsetzungssprints musste immer wieder auf die zweite goldene Fortschrittsregel hingewiesen werden. Der Fokus sollte allein auf dem Fortschritt liegen, bei allen Key Results. Eine häufige Reaktion darauf: "Das geht doch nicht! Wir müssen erst einmal die Analyse abschließen, bevor wir an die Realisierung gehen können." Vor allem die alteingesessenen Hasen mussten von den Supportern geradezu davon abgehalten werden, die kommenden sechs Monate mit einem detaillierten Projektplan zu durchdenken und durchzuplanen!

Wie nicht anders zu erwarten, entwickelte sich der erste Monatssprint zu einer Mixtur aus Lernerfahrung und Umsetzungserfolg. Nach den ersten drei Monatsmeetings stellten sich die ersten positiven Erfahrungen und Feedbacks ein: "Eigentlich ist es ziemlich cool, jeden Monat zu sehen, wie wir vorankommen, und das nicht beim Abarbeiten der Dinge, sondern anhand dieser lästigen Outcome-Größen", sagte uns einer der Topeinkäufer von Tk Steel.

Sprintwechsel**–**Januar bis Juni 2021

Der erste Sprint zur Umsetzung ist nicht schlecht gelaufen. Damit der zweite Sprint noch besser wird, werden die Erfahrungen der ersten Phase ausgewertet und berücksichtigt.

Eine der Erfahrungen aus der Sprintphase war, dass viele Teams nicht erreichen konnten, was sie sich vorgenommen hatten. Etliche OKRs waren beim angestrebten Zielzustand, dem Objective, zu anspruchsvoll gewesen. Das war durchaus Absicht: Wer sich etwa beim Stabhochsprung vornimmt, 2,5 Meter hoch zu springen, der springt auch nur 2,5 Meter. Wer sich 4 Meter vornimmt, schafft vielleicht 3.

Es lief zwar gerade zu Beginn nicht alles glatt. Wie sich zeigte, hatten die Teams jedoch allen Grund, stolz auf ihre Leistungen im ersten Sprint zu sein: Bei knapp 80 Prozent aller OKRs konnten sie mit den erreichten Outcomes oder den Impacts durchaus zufrieden sein. Das OKR-Team aus dem Automotive-Bereich hatte nicht nur zwei Letters of Intent aus dem außereuropäischen Ausland erhalten, sondern sogar verbindliche Nominierungen als Handelspartner. Auch die Prozesseffizienz in der Logistik hatte sich in ausgewählten Bereichen bereits deutlich gesteigert.

Allererste Effekte zeigten sich nun auch bei den Finanzkennzahlen: Die Monate Oktober und November 2020 wurden mit einem positiven Ebit abgeschlossen – ein echter Erfolg.

Geschwindigkeit wurde nach dem Motto definiert: „Es geht um Fortschritt, nicht um Perfektion.“

Vor dem Jahreswechsel machte sich das Unternehmen daran, die Erfahrungen aus dem ersten Umsetzungssprint zu reflektieren. Schließlich sollte der zweite Sprint von Januar bis Juni 2021 noch besser laufen. Die Zielbilder der Module wurden systematisch überprüft und nachgeschärft. So stellte sich beispielsweise im Rohstoffeinkauf heraus, dass der angestrebte Zielzustand von Einkaufspartnerschaften keinen Sinn mehr ergab. In der Klimastrategie mussten Veränderungen vorgenommen werden, weil sich die EU-Fördermechanismen für "grünen Stahl" anders gestalteten als noch im Sommer angenommen.

Gute Strategiearbeit bedeutet, die Zielzustände regelmäßig alle sechs Monate anzupassen. Das war dank der klaren Struktur gut möglich: Einige Puzzlestücke mussten in ihren Zielzuständen korrigiert, andere gestrichen oder ergänzt werden. Danach ging es mit mehr Routine als noch im Sommer darum, die modulübergreifenden Abhängigkeiten zu modellieren und zu diskutieren. Zudem musste die daran geknüpfte Puzzle-Priorisierung erarbeitet werden. Im nächsten Schritt galt es, die Zielzustände für die priorisierten Puzzlestücke mit ihren Outcomes und Impacts für Sommer 2021 zu formulieren.

Auch die OKRs wurden methodisch besser, blieben jedoch weiterhin ambitioniert: Die Key Results wurden im Sinne der zweiten goldenen Fortschrittsregel tatsächlich zum Dreh- und Angelpunkt allen Denkens und Handelns. Bei vielen Mitarbeitern war Stolz auf das Geleistete zu erkennen und Ehrgeiz, sich im kommenden Halbjahr weiter zu verbessern. Der "Progress Maker" wurde entsprechend gefüllt, und nach dem Jahreswechsel startete der zweite Sprint mit mehr Routine und Energie.

Jetzt, gegen Jahresende 2021, neigt sich der dritte Umsetzungssprint dem Ende zu. Zentrale Produktivitäts- und Ergebniskennzahlen belegen, dass die neue Form der Strategieumsetzung schneller und effektiver funktioniert: Die Entwicklung zeigt in jedem Falle deutlich in die richtige Richtung.

Fazit

Der hier skizzierte Prozess dient dazu, die wichtigsten Unternehmensziele von Thyssenkrupp Steel konsequenter und schneller zu erreichen: Tk Steel will mit rund 11,5 Millionen Tonnen ausgebrachtem Stahl wieder zu den führenden Unternehmen auf dem europäischen Stahlmarkt gehören. Dabei soll der Stahl zunehmend klimaneutral produziert werden und das Unternehmen eine angemessene Rentabilität erwirtschaften.

Um dieses ambitionierte Ziel zu erreichen, entwarfen 16 Kernteams zunächst ein Zielbild und ordneten dieses mithilfe von Zielbildpuzzles. Die Kernfrage lautete: "Was ist 2025 anders, damit wir die drei Top-Ziele erreichen?"

Vorstände und Führungskräfte orientierten sich am Was und am Wozu, nicht mehr daran, wie bestimmte Prozesse und Maßnahmen aussehen sollten. Die neuen Zielzustände waren transparent und mit genauen Zahlen hinterlegt. Jeder Mitarbeiter und jede Mitarbeiterin im Unternehmen konnte auf den Prozentwert genau ablesen, wo das Team oder Unternehmen stand.

Ein solches Vorgehen verzichtet bewusst auf Groß- und Langläuferprojekte. Stattdessen setzte das Führungsteam von Tk Steel nun konsequent auf Sechs-Monats-Projekte, die sich am Outcome orientierten. Das Siloverhalten wurde während des Prozesses an vielen Stellen aufgebrochen und wich vernetztem Denken und Handeln.

Dazu hat auch die Erkenntnis beigetragen, dass sich Erfolge im Halbjahrestakt nur mithilfe einer neuen Ergebnisorientierung, großer Disziplin und gegenseitiger Unterstützung erreichen lassen. Auch die systematische und transparente Darstellung gegenseitiger Abhängigkeiten und die daraus folgenden gemeinsamen Roadmaps unterstützten ein starkes Miteinander im Unternehmen auf allen Ebenen.

Tk Steel hat seine Zielbilder fest im Blick – aber das Jahr 2025 ist noch nicht erreicht. Wenn es so weit ist, wird auch das nur eine Zwischenstation sein. Nach den ersten drei Sechs-Monats-Umsetzungssprints zeigt sich, dass Tk Steel Trägheit abgelegt hat und sich zu einem auf Fortschritt getrimmten Unternehmen wandelt. Die Mannschaft ist motivierter und fokussierter.

Auch auf der wirtschaftlichen Seite geht es voran, wie das verbesserte Ebit der Monate Oktober und November 2020 belegt. Die erfolgreiche Markteinführung von CO2-reduziertem Stahl wird die Ergebnisse zusätzlich positiv beeinflussen. Bis die Ziele des Jahres 2025 oder gar 2050 – wenn der Stahl komplett klimaneutral hochrentabel produziert werden soll – erreicht sind, wird es noch einiges an Umsetzungssprints mehr brauchen. Alles an Strukturen und Prozessen ist für dieses Ziel nun vorhanden. © HBm 2021

Die Autoren

Matthias Kolbusa ist Strategie- und Veränderungsexperte, Managementbuchautor und Vortragsredner. Als Berater unterstützt er Konzerne und führende Mittelständler in Sachen Umsetzungsmanagement von Strategien und Transformationen. Er ist mehrfacher Buchautor; zuletzt erschien "Management beyond Ego" (Ariston 2020).

Christoph Martin ist Head of Controlling, Accounting & Risk (CAR) und arbeitet seit 2007 in diversen Führungspositionen bei Tk Steel. 2019 übernahm er die Verantwortung für die Entwicklung der Strategie 20-30.

Kompakt

Die Ausgangslage Anfang 2020 sah es nicht rosig aus für die Stahlsparte von Thyssenkrupp. Tk Steel schrieb rote Zahlen, litt unter der Stahlschwemme aus China, hohen US-Zöllen und Überkapazitäten. Die CEOs wechselten, Fusionsbemühungen scheiterten. Thyssenkrupp entschied sich für eine Sanierung der Sparte und gab dem neuen CEO und seiner neuen Strategie eine Chance.

Der Plan Tk Steel wollte bei diesem Transformations- vorhaben alles anders angehen als zuvor. Man verzichtete auf eine parallele Projekt- organisation, die auf eine Vorgehensweise fixiert ist. Stattdessen beteiligten sich alle Unter- nehmensbereiche daran, in Zielbildstorys zu beschreiben, was nach fünf erfolgreichen Jahren anders sein wird. Zerlegt in einzelne Zielzustände und unter Einsatz der OKR-Methode, wurde allen Beteiligten klar, "was" genau "wozu" erreicht werden soll.

Die Erfolge Das Unternehmen konnte nach drei Umsetzungssprints wieder erste schwarze Zahlen schreiben, die Kommunikation untereinander im Konzern ist deutlich transparenter geworden, und auch die Belegschaft brennt wieder für ihre Aufgaben. Dem Unternehmen gelang der Wechsel vom Push- zum Pull-Management.

Buch

Zur Methodik: John Doerr : OKR – Objectives & Key Results, Vahlen 2018, 254 Seiten, 24,90 Euro

Wer einen Einstieg ins Thema sucht, für den lohnt es sich, John Doerrs Buch "OKR" zu lesen. Doerr gehört zu den Stars der Investorenszene. Der Chairman des Venture Capitalists Kleiner Perkins verhalf Unternehmen wie Amazon, Google oder Twitter zu Geld, Ideen und Erfolg. Etliche der von ihm finanzierten Unternehmen verwenden das Managementsystem OKR – kurz für Objectives (Ziele) und Key Results (Schlüsselergebnisse). In "OKR" liefert Doerr eine anschauliche Beschreibung, wie das System in der Praxis funktioniert.

Dieser Artikel erschien in der Dezember-Ausgabe 2021 des Harvard Business managers.

Wie Thyssenkrupp Steel der Unternehmensumbau gelang

Premium

Diese Inhalte sind für Premium-Mitglieder inklusive

Der Zugang zu diesem Artikel und zu vielen weiteren exklusiven Reportagen, ausführlichen Hintergrundberichten und E-Learning-Angeboten von ausgewählten Herausgebern ist Teil der Premium-Mitgliedschaft.

Premium freischalten

Harvard Business manager schreibt über Das Wissen der Besten.

Der Harvard Business Manager ist die erweiterte deutsche Ausgabe der US-Zeitschrift "Harvard Business Review" (HBR), des renommiertesten Managementmagazins der Welt. Die Redaktion ergänzt die besten Artikel aus der HBR um wichtige Forschungsergebnisse von Professoren europäischer Universitäten und Business Schools sowie um Texte deutschsprachiger Experten aus Beratungen und dem Management von Unternehmen. Unsere Autoren zählen zu den besten und bekanntesten Fachleuten auf ihrem Gebiet und haben ihre Erkenntnisse durch langjährige Studien und Berufspraxis erworben.

Artikelsammlung ansehen