Wir brauchen einen Homeoffice-Führerschein
**Lockdown zwei: die sozialen Kontakte sind immer noch stark eingeschränkt, um die Ansteckungsrate zu minimieren. Viele Arbeitgeber haben ihre Mitarbeiter*innen erneut in die eigenen vier Wände geschickt – ins Homeoffice. Der Trend, von zu Hause aus zu arbeiten, wird sich vermutlich auch nach Corona fortsetzen.**Soweit so gut? Leider nicht!
Die Erfahrungen der Unternehmen, der Krankenkassen und meines medizinischen Gesundheitspartners, die Vincera-Klinikgruppe, zeigen, dass zwar der Krankenstand seit Corona nicht signifikant gestiegen ist, die psychischen Erkrankungen jedoch auffällig zunehmen. Termindichte, neue technische Herausforderungen und Datenschutzbestimmungen sorgen für Stress, Sorgen um die Wirtschaft und den Arbeitsplatz sowie die Angst vor Ansteckung machen vielen Mitarbeiter*innen zu schaffen. Hinzu kommt, dass es früh dunkel wird und wir wenig Licht und auch weniger Lust auf notwendige Bewegung haben.
Mehr Flexibilität, aber auch Überforderung
Durch den Ausnahmezustand, in den Corona uns unerwartet im Frühjahr versetzt hat, wurde vielerorts möglich, was lange Zeit nur punktuell genutzt wurde: Das Arbeiten von zu Hause oder remote, also nicht im Büro. Die plötzliche Umstellung hat für viele mehr Flexibilität geschaffen und in der Breite besser funktioniert, als erwartet.
Dennoch: Viele Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen hat die neue Situation überfordert. Den meisten Unternehmen fehlt es nach wie vor an einheitlichen Konzepten und Strukturen, damit Mitarbeiter*innen effizient und vor allem so, dass die Gesundheit nicht gefährdet wird, im Homeoffice arbeiten können. Nicht zuletzt wird in der Politik jetzt auch über ein Homeoffice-Gebot gesprochen.
Als ehemaliger Leistungssportler und aufgrund meiner persönlichen Erfahrungen mit Burnout habe ich mich in den vergangenen Jahren intensiv mit dem Thema betriebliche Gesundheit beschäftigt und viele Unternehmen zu dem Thema „Erfolg in Balance“ beraten und begleiten dürfen. Als Botschafter der Offensive Psychische Gesundheit der drei Bundesministerien für Arbeit, Gesundheit und Familie möchte ich noch mehr Bewusstsein für dieses Thema schaffen.
Gemeinsam mit Prof. Dr. Volker Nürnberg, Leiter Fachbereich Gesundheitswirtschaft bei der BDO AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft und meinem Beratungs-Partner Sven Ehricht setze ich mich aktuell dafür ein, im Rahmen des Betrieblichen Gesundheitsmanagements (BGM) einen „Homeoffice-Führerschein“ sowohl für Führungskräfte als auch Mitarbeiter*innen einzuführen. Folgende Aspekte sollen dabei Beachtung finden:
Ergonomie: Während im Büro vielfach die Höhe des Monitors oder die Bürostühle unter ergonomischen Gesichtspunkten ausgewählt sind, ist dies in den eigenen vier Wänden i.d.R. nicht der Fall. Doch nur, weil Beschäftigte nun von zu Hause arbeiten, darf der Arbeitsschutz nicht vernachlässigt werden. So sollte z.B. darauf geachtet werden, dass auch bei fehlender ergonomischer Büroausstattung zumindest eine gesunde Arbeitshaltung eingenommen wird.
Bewegung: Mitarbeiter*innen im Homeoffice bewegen sich nachgewiesenermaßen weniger. Um dem entgegenzuwirken, können bewegte Pausen im Freien, Telefongespräche im Gehen oder auch leichte Fitnessübungen für zu Hause eingeführt werden. Auch können virtuelle Challenges initiiert werden, die jeder Mitarbeiter von Zuhause aus meistern kann (z.B. Radfahr-Challenge oder Schritte-Wettbewerb).
Ernährung: Häufig werden die Mittagspausen ausgelassen, um Zeit zu sparen oder es wird zu Fertiggerichten gegriffen. Daher sollte nicht nur eine Sensibilisierung der Mitarbeiter*innen erfolgen, sondern z.B. auch Ernährungs-Apps eingesetzt werden, die schnelle gesunde Gerichte für die Mittagspause vorschlagen.
Life-Domain-Balance: Wir müssen Work-Life-Balance in neuer Dimension betrachten, örtlich und zeitlich. Im Homeoffice fällt es häufig viel schwerer, Berufliches und Privates zu trennen. Vor allem für Eltern stellt dies eine besondere Belastung dar. Vorgesetzte sollten daher feste Arbeitszeiten mit dem Team abstimmen. Denn Homeoffice bedeutet nicht, dass Mitarbeiter *innen ständig erreichbar sein müssen.
Stress: Die aktuelle Situation führt zu enormen Belastungen und Unsicherheiten. Themen wie Entspannung und Achtsamkeit spielen daher eine große Rolle zur Steigerung des persönlichen Wohlbefindens. Methoden zum Stressabbau können geschult und sogar gemeinsam durchgeführt werden.
Führung auf Distanz: Führungskräfte sollten sich vermehrt mit dem virtuellen Führen auseinandersetzen. Eine aktive Feedback-Kultur sowie die Nachfrage nach dem Wohlbefinden der Mitarbeiter*innen kann sehr wertvoll sein. Da derzeit weiterhin die sozialen Kontakte beschränkt sind und auch im Homeoffice der persönliche Kontakt zu den Kollegen und Kolleginnen fehlt, lassen sich zumindest regelmäßige Team-Konferenzen oder virtuelle Kaffeepausen planen.
Familie Für Arbeitnehmer*innen mit Partner und/oder Kindern ist die (Anwesenheit der) Familie eine neue alltägliche Schnittmenge im Homeoffice. Die Lebenspartner und auch die Kinder müssen in die Anforderungen an ein gesundes Homeoffice (Ruhe, ungestörte Arbeitszeiten, gesundes Essen, Trinken, aktive Pausen, etc.) aktiv mit einbezogen werden. Eine Möglichkeit wäre, einen wöchentlichen „Familienrat“ einzuberufen, in dem jedes Familienmitglied seine Sicht auf die vergangene Woche einbringen und einen Ausblick auf die kommenden Tage geben kann. So ist gesichert, dass jeder zu Wort kommt und sich niemand übergangen fühlt. Der „Familienrat“ sollte sich auch mit den Regeln im Homeoffice beschäftigen und No Gos definieren. Paul darf also beispielsweise nicht in eine Zoom-Konferenz platzen, nur weil Paulina gerade mal wieder ihre Klamotten sucht oder Pauls WLAN nicht funktioniert.
Umsetzung und Chance
Vorstellbar ist, mit einer großen Krankenkasse entsprechend des Leitfadens §20 SGB V ein ganzheitliches, nachhaltiges und präventives BGM-Konzept aufzulegen und flächendeckend durchzuführen. In virtuellen, hybriden und Live-Trainings sollen Belegschaften für das Arbeiten im „Smart Office“ 2030, für gesundes Arbeiten im Homeoffice sowie auf mobile Tätigkeiten vorbereitet werden.
Laut Prof. Dr. Volker Nürnberg sind Resilienz und Bewältigungsstrategien in einer Arbeitswelt, die von immer kürzeren Chance-Zyklen dominiert wird, elementar. Die Agilität der digital dominierten Arbeit fordert von Mitarbeiter*innen die Fähigkeit, mit der Entgrenzung der Arbeit fertig zu werden und Techniken zu entwickeln, um das Privat- und Berufsleben gleichermaßen zu managen.
Lebensläufe werden in Zukunft disruptiv sein: Sabbatjahr, Weltreisen und Zeiten mit und für die Familie werden sich im intensiven Arbeitsphasen abwechseln. Mit einem Startup-Unternehmen gescheitert zu sein, wird in Zukunft eine Auszeichnung sein. Die Bindung an ein konkretes Unternehmen wird immer geringer.
Packen wir es an
Was erwartet uns also in diesem Jahr? Die tägliche Arbeit bleibt verteilt auf Büro, Remote und zu Hause. Der Homeoffice-Führerschein kann ein wichtiger Baustein dabei sein, dass sich Mitarbeiter wohl fühlen; die ausgebildete und gesunde Führungskraft ist hier die zentrale Stellschaube für Produktivität, Krankenstand und Verweildauer eines gesunden und motivierten Mitarbeiters im Unternehmen.
Mein und unser Ziel ist es, dieses Jahr Impuls-Vorträge, Führungskräfte-Seminare und Mitarbeiter-Trainings zum Thema „Homeoffice-Führerschein“ anzubieten.
Ich freu mich über jedes Feedback !