Wir haben die Wahl: Warum auch unsere innere Stimme zählt
Theoretisch wird davon ausgegangen, dass Wähler ihren Gefühlen folgen. Doch um mit ihnen in Kontakt treten zu können, müssen Worthülsen aus der Wahlkampfwerbung, Meinungsmache und Lärm, der von Politikern, Werbeagenturen und PR-Beratern im Wahlkampf ausgeht, ausgefiltert werden, denn die eigene authentische innere Stimme kann nur gehört werden, wenn „all dieses Getöse“ ausgeblendet wird. Schreibt Yuval Noah Harari, Historiker aus Jerusalem, in seinem Buch „Homo Deus“, in dem er zeigt, wie der Mensch in einem Akt wachsender Selbstermächtigung zum „Homo Deus“ aufsteigt und das neue Glaubenssystem des Dataismus - Computer, Roboter und künstliche Intelligenz - die humanistischen Größen Individualismus, Seele und freier Wille ablöst. Dann wird es nicht mehr heißen: „Höre auf deine Gefühle“, sondern: „Höre auf die Algorithmen. Sie wissen, wie du dich fühlst.“
Das humanistische Gebot, auf sich selbst zu hören, ist in unserem Zeitalter der Komplexität und Instabilität vor diesem Hintergrund nicht mehr selbstverständlich, denn ständig wird unsere innere Lautstärke im Schneller-Höher-Weiter lauter gedreht. Hinzu kommt, dass der technische Fortschritt keinen Wert auf unsere innere Stimme legt – er will sie nicht hören, sondern nur kontrollieren. Das ewig Laute führt nach Harari dazu, dass wir unseren Glauben an die Authentizität aufgeben, weil nicht mehr klar ersichtlich ist, „wessen Hand den Regler bedient.“ Um auf sich selbst zu hören, muss die innere Lautstärke heruntergedreht werden und achtsam sein. Voraussetzung für das Vernehmen der eigenen klaren Stimme ist allerdings ein „wahres Ich“: Ein In-dividuum hat einen einzigen inneren Wesenskern, der von vielen äußere Schichten umhüllt ist – wer sich allerdings darum bemüht, diese „äußeren Krusten abzuziehen“, wird tief in seinem Inneren eine klare innere Stimme finden, die sein „authentisches Ich“ ist. Die meisten Entscheidungen im Leben werden von unserem „erinnernden Selbst“, das mit dem „erlebenden Selbst“ eng verbunden ist, getroffen.
Die innere Stimme hilft uns, jüngsten Ereignissen nicht überproportional viel Gewicht beizumessen, sondern Ereignisse in längeren Zeiträumen zu betrachten und uns ein Urteil zu bilden und keinen kurzfristigen Versprechungen zu erliegen. Wer richtig wählen möchte, muss urteilsfähig sein und seiner inneren Stimme folgen, die für den Psychologen Gerd Gigerenzer eine Form von Intelligenz ist. Steve Jobs gab in einem Doktorandenseminar an der Stanford University, nachdem bei ihm Leberkrebs diagnostiziert worden war, folgenden Rat: „Lassen Sie nicht zu, dass Ihre innere Stimme in den Stimmen anderer untergeht. Und was am wichtigsten ist: Haben Sie den Mut, Ihrem Herzen und Ihrer Intuition zu folgen." Dieser Ansatz hat ihn nie im Stich gelassen und alles, was in seinem Leben wichtig war, bewirkt.
Ganz klar: Warum wir heute den Instinkt für das Richtige nicht verlieren dürfen
Yuval Noah Harari: Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen. Aus dem Englischen übersetzt von Andreas Wirthensohn. C.H.Beck, München 2017.
Werner Neumüller: Die Grenzen der Rationalität. In: Bauchgefühl im Management. Die Rolle der Intuition in Wirtschaft, Gesellschaft und Sport. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. SpringerGabler Verlag 2021.