Wir müssen MEHR ARBEITEN™!
Immer wieder wird der Ruf laut – zuletzt von Friedrich Merz, Steffen Kampeter, Christian Lindner und anderen Stimmen –, dass Deutschland einfach wieder mehr arbeiten müsse, um wettbewerbsfähig zu bleiben.
Doch so verständlich dieser Reflex auf den ersten Blick wirkt: Er greift zu kurz. Denn diese Vereinfachung ignoriert die systemischen Ursachen unserer Herausforderungen – und richtet damit am Ende mehr Schaden als Nutzen an: Sie überlastet Menschen, statt Strukturen zu verbessern, und verschiebt Verantwortung vom System auf das Individuum.
Der Gedanke scheint zunächst naheliegend: Wenn der Fachkräftemangel wächst, das Bruttoinlandsprodukt stockt und die globale Wettbewerbsfähigkeit leidet – dann müssen wir einfach mehr leisten, oder?
Doch diese Reaktion ist zu kurz gedacht. Und sie droht, die falschen Schlüsse aus den richtigen Sorgen zu ziehen.
Die Autorin und Mental-Health-Expertin Nora Dietrich bringt es in einem viel beachteten LinkedIn-Beitrag auf den Punkt:
„Produktivität ist kein eindimensionaler Zeitfaktor.“
Mehr Zeit ≠ mehr Wirkung
Ein Blick auf die Fakten reicht aus, um den Irrtum zu entlarven:
In Deutschland fallen jedes Jahr über 600 Millionen unbezahlte Überstunden an (BAuA, 2023).
Gleichzeitig steigen die psychisch bedingten Krankmeldungen seit Jahren. 2023 entfiel jeder fünfte Fehltag auf psychische Erkrankungen (BARMER Report).
Die durchschnittliche Arbeitszeit in Deutschland ist hoch – aber die Produktivität pro Stunde liegt nicht an der Spitze: Länder wie Irland, Luxemburg oder Norwegen arbeiten kürzer und produktiver (OECD, 2023).
Deutschland leidet nicht an einem Mangel an Arbeitsstunden – sondern an einem Wirkungsproblem.
Die Ursachen liegen tiefer
Nora Dietrich benennt in ihrem Post drei zentrale strukturelle Blockaden:
Bürokratische Komplexität
Prozesse sind oft schwerfällig, redundant oder zu stark auf Kontrolle ausgelegt. Das bindet Ressourcen und bremst Innovation.Fehlende Digitalisierung
Deutschland landet beim Digital Economy and Society Index (DESI) auf Platz 13 in der EU. Die Potenziale digitaler Tools werden vielerorts nur bruchstückhaft genutzt – gerade im öffentlichen Sektor und in kleinen Betrieben.Unzureichende Integration von Care-Arbeit
Millionen Menschen – vor allem Frauen – stemmen Care-Arbeit neben dem Beruf. Fehlende Kinderbetreuung und Pflegestrukturen führen zu Teilzeit, Ausstiegen und damit zu enormen Verlusten an Fachkompetenz.
Diese Faktoren kann man nicht mit Mehrarbeit ausgleichen. Sie brauchen strukturelle Antworten, politische Weichenstellungen und unternehmerischen Mut.
Was wirkt wirklich?
Statt den Arbeitstag zu verlängern, sollten wir uns fragen: Was brauchen Menschen, um in der vorhandenen Zeit wirksam zu sein – ohne zu erschöpfen?
Die Antwort liegt in einem anderen Verständnis von Arbeit und Produktivität:
Klare, entlastende Strukturen, die Raum für Verantwortung lassen
Digitale Lösungen, die wirklich funktionieren und keine zusätzliche Belastung schaffen
Gesunde Führung, die auf Vertrauen basiert statt Kontrolle
Rahmenbedingungen, die Care-Arbeit nicht als Privatproblem, sondern als gesellschaftliche Aufgabe begreifen
Und: Mut zum Experimentieren – denn Lösungen entstehen selten am Reißbrett
In Unternehmen, die auf diese Prinzipien setzen – etwa durch unseren 5-Stunden Tag, 4-Tage-Wochen, klare Fokuszeiten oder Vertrauensarbeitszeit – zeigen sich erstaunliche Effekte: Weniger Krankheit, mehr Engagement, bessere Ergebnisse. Die Wirksamkeit steigt, obwohl die Arbeitszeit sinkt.
Was wir brauchen: Komplexität aushalten statt verkürzen
Der Wunsch nach einfachen Lösungen ist verständlich. Aber Wirklichkeit ist komplex. Und genau deshalb müssen wir sie differenziert betrachten:
Der Fachkräftemangel hat viele Ursachen – darunter Demografie, Ausbildungslücken, schlechte Vereinbarkeit und mangelnde Arbeitgeberattraktivität.
Die psychische Erschöpfung ist nicht nur individuell, sondern systemisch bedingt.
Produktivität braucht mehr als Zeit – sie braucht Klarheit, Sinn und Struktur.
Was wir also brauchen, ist nicht mehr Arbeit – sondern bessere Arbeit.
Arbeit, die Wirkung erzeugt. Die Menschen befähigt statt erschöpft. Die Zukunft gestaltet statt Vergangenes verlängert.
Im Gespräch mit Nora Dietrich in meinem Podcast „Sparring Express“ haben wir genau darüber gesprochen: Wie mentale Gesundheit, Wirksamkeit und wirtschaftlicher Erfolg zusammenhängen – und warum mutige Experimente oft wirkungsvoller sind als laute Forderungen.
Hier geht's zur Folge:
Wer heute also fordert, wir müssten einfach „mehr arbeiten“, greift zu kurz. Wir brauchen kein „Mehr vom Alten“, sondern ein Neues – das wirkt.
Ich freue mich auf Ihre Gedanken dazu.