„Wir müssen uns ehrlich machen: Deutschland lebt über seine Verhältnisse“
Deutschland soll 2045 klimaneutral werden – doch Michael Kretschmer sagt: 2050 reicht! Wie Sachsens Ministerpräsident Deutschlands Standortschwächen beheben will und warum er auf mehr Rüstungsansiedlungen im Osten hofft.
WirtschaftsWoche: Herr Kretschmer, Deutschland droht ein drittes Jahr Rezession. Wie kommt die Zuversicht zurück?
Michael Kretschmer: Indem wir uns ehrlich machen: Deutschland lebt über seine Verhältnisse.
Das klingt jetzt aber wenig zuversichtlich.
Doch. Die Zuversicht kommt dann zurück, wenn wir etwas ändern. Und deshalb bin ich froh, dass die neue Regierung nicht auf staatliche Mikro-Steuerung setzen will. Wenn ich hier im Landtag aus dem Fenster schaue, sehe ich, was mit Marktwirtschaft möglich ist.
Wir können eine Schleife der Elbe erahnen.
Die Elbe war in den 1980er-Jahren ein toter Fluss. Nach dem Ende der DDR war hier alles kaputt. Wir haben es mit Freiheit, Demokratie und Marktwirtschaft geschafft, das innerhalb von anderthalb Jahrzehnten aufzuräumen und aufzubauen.
Sie haben den milliardenschweren Aufbau Ost vergessen. Jetzt soll ganz Deutschland mit dem 500-Milliarden-Paket ein historisches Comeback gelingen. Kann die Politik wieder etwas vom Geist der Verkehrsprojekte Deutsche Einheit lernen?
Nein, der Vergleich hinkt. Denn die Verkehrsprojekte waren eine Abweichung von der Norm, die grundsätzlich als richtig empfunden wurde. Heute ist es andersherum: Die Norm ist das Problem, sie schnürt dem Standort die Luft ab. Wir wollen Innovation – aber bloß nichts Neues wagen. Das ist doch Unfug. Wir haben Ingenieure, wir haben Baubehörden, lasst sie bitte endlich machen.
Was heißt das konkret?
Als Erstes können, ja müssen wir das Bauen im Bestand vereinfachen. Wir wissen doch, was das bringt. Schauen Sie wieder aus dem Fenster: die Carola-Brücke…
…die mitten in Dresden 2024 eingestürzt ist…
…die kann in zwei, drei Jahren wieder aufgebaut sein. Diese Verfahrenserleichterung müssen wir ausweiten. Für Straßen, Brücken oder Schienenwege. Ein weiteres Gleis für die Eisenbahn, die Elektrifizierung einer Bestandsfläche, der zusätzliche Radweg an einer Bundesstraße, all das muss ohne Planfeststellung und Umweltprüfung möglich sein, dann dauert es auch keine zehn Jahre.
Klingt nicht nach neuem Deutschlandtempo.
Nein. Bauen im Bestand sollte deshalb heißen: Wo eine Trasse liegt, wo etwas versiegelt ist, darf rechts und links erweitert werden. Das wäre ein großer Wurf für den gesamten Standort. Denn Milliarden bringen nichts, wenn sie nicht klug investiert werden können.
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Fürchten Sie etwa, dass die Milliarden unklug investiert werden?
Mich sorgen die Schulden mit Blick auf unsere Kinder und Enkel. Wir dürfen mit dem Geld keine Standortnachteile kaschieren.
Werden Sie die Milliarden, die Sachsen bekommt, trotzdem für Industriepolitik nutzen – oder besteht die Gefahr, dass Sie sich dann so verzocken wie die Ampel beim Chiphersteller Intel in Magdeburg?
Nochmal: Deutschland ist nicht wettbewerbsfähig genug – und das kann man nicht wegsubventionieren. Aber zugleich befinden wir uns in einem Wettbewerb mit Ländern wie China und Amerika, in dem einfachere und weniger starre Regeln gelten. Bei Halbleitern ist die Konkurrenz besonders verzerrt.
Der taiwanesische Chiphersteller TSMC hätte sich ohne fünf Milliarden Euro Zuschuss sicher auch nicht für Dresden entschieden.
Solche Subventionen helfen nur kurzfristig über besagte Wettbewerbsverzerrungen hinweg, langfristig muss ein Standort aber wettbewerbsfähig sein. Konkret: TSMC
hat einen niedrigen Strompreis zur Bedingung gemacht. Das darf aber kein Privileg sein, sondern muss für alle energieintensiven Unternehmen gelten. Sonst wird eine weitere Deindustrialisierung unvermeidbar sein.
Die neue Bundesregierung plant ein Paket, um die Energiekosten zu dämpfen. Reicht das?
Die Bundesrepublik hat einen Finanzierungsbedarf in den sozialen Sicherungssystemen, der Sicherheit, der Bildung oder der Kultur, der durch Steuern und Abgaben getragen wird. Wenn Steuern reduziert werden, kostet uns das Finanzkraft. Deshalb kann so eine Senkung vielleicht temporär funktionieren, sie ist aber keine dauerhafte Lösung.
Es reicht, wenn Deutschland 2050 klimaneutral wirtschaftetMichael Kretschmer, Ministerpräsident von Sachsen (CDU)
Wie lautet Ihr Vorschlag?
Wir müssen bei den Entstehungskosten anfangen. Geschwindigkeit geht oft in die Preise, trotzdem wollen wir bei allen Klimazielen immer die Ersten sein. Ein übereilter Braunkohleausstieg vor 2038 ist dafür nur ein Beispiel. Das ist aus meiner Sicht der falsche Weg.
Sollte Deutschland also erst 2050 statt 2045 klimaneutral werden?
Ja, es reicht, wenn Deutschland 2050 klimaneutral wirtschaftet. Gerade wenn wir wieder auf Wachstumskurs kommen wollen, sind Energiesicherheit und -preise zentral.
Wenn der Standort wieder wachsen soll, geht es nicht allein um die richtige Energieversorgung, sondern auch um kluge Köpfe aus dem Ausland. Wenn Sie, wie gerade in Ägypten, um Fach- und Arbeitskräfte werben, wettert die AfD, dass „weitere geringqualifizierte Personen in unseren Sozialstaat einwandern.“ Das wird niemand Lust haben, zu kommen.
Solche Reaktionen sind bitter und sehr kurzsichtig. Aber mich ärgert vor allem, dass wir viele der dahinterliegenden Probleme längst hätten ändern können.
Was meinen Sie genau?
Leider habe ich nicht den Eindruck, dass die Politik aus den Erfahrungen in der Coronakrise sonderlich gelernt hat. Damals war die deutsche Gesellschaft nicht fähig zum Diskurs. Dann kam der Ukrainekrieg. Und heute gibt es viele Bürgerinnen und Bürger, die eine andere Strategie ersehnen, als nur immer neue Waffen zu liefern.
Die westlichen Alliierten helfen einem Verbündeten, sein Selbstverteidigungsrecht auszuüben.
Es geht darum, wie man mit den Menschen redet, die eben eine andere Meinung und Ängste haben. Zu einer anständigen Diskussionskultur gehört, dass auch Positionen, die man nicht teilt, zunächst einmal respektiert und nicht mit Adjektiven wie „dummdreist“ abqualifiziert werden. Es geht darum, in der Sache zu diskutieren, zu argumentieren und nicht zu diskreditieren. Zu glauben, sich diese Mühe nicht mehr machen zu müssen, zeugt von Überheblichkeit und Geringschätzung.
Mit welchen Folgen?
Das stößt viele Menschen nachvollziehbar vor den Kopf. Gleiches gilt für das Thema Migration: Statt das Problem aus der politischen Mitte heraus zu klären, ist es bis zu dieser Bundestagswahl liegen geblieben. Also wenden sich viele Menschen von der Demokratie ab. Sie glauben schlicht nicht mehr an die Lösungsansätze.
Sie sind viel im Land unterwegs und bekommen die Wut ungefiltert ab.
Ich bin niemand, der einer Debatte aus dem Weg geht. Aber dafür muss ich auch signalisieren: Wir haben verstanden. Wir versuchen das gerade mit dem Reizthema Windkraft. Wir wollen den weiteren Ausbau, aber so wie bisher geht es nicht. Wir bauen also behutsamer aus, und es gibt eine Pflicht zur Beteiligung der Anwohner. Genau das sollte die Botschaft sein: Die Politik hört nicht nur zu, sie versteht und sie handelt.
Und dafür nehmen Sie eine Verlangsamung des Ausbaus in Kauf?
Unser aktuelles Tempo ist falsch. Die Zahl der Stunden, in denen wir einen negativen Strompreis haben, lag vor zwei Jahren bei 400 Stunden. Mittlerweile sind es über 1000. Das ist Wohlstandsvernichtung.
Wer auf den schnellen Ausbau der Erneuerbaren pocht, ist allerdings die Autoindustrie. Sachsen ist der fünftgrößte Automobilstandort in Deutschland. Noch. Die Zukunft des VW-Werks in Zwickau ist ungewiss, aus der Gläsernen Manufaktur in Dresden soll ein Museum werden.
Die Gläserne Manufaktur wird sicher nicht zum Museum, sondern ein Ort der Zukunft. Mit der TU Dresden gibt es unter anderem Gespräche über einen möglichen Forschungscampus. Und das Werk in Zwickau muss erhalten bleiben. Das Werk wurde komplett umgestellt auf Elektromobilität – und jetzt, wo es läuft, soll die Anlage abgebaut und woanders wieder aufgebaut werden? Das ist nicht nur für die Beschäftigten nicht zu verstehen.
VW-Chef Oliver Blume macht also einen großen Fehler?
Oliver Blume ist ein Glücksgriff für dieses Unternehmen. Aber was die Strukturen dieses Konzerns angeht, muss man schon manchmal staunen.
Sie meinen die 33-Stunde-Woche in der Produktion? Oder die 62 Euro, die eine Kanne Kaffee für eine Besprechung kostet?
Mir geht es grundsätzlich darum, dass die E-Mobilität wettbewerbsfähig werden muss. Derzeit sind Autos und Strom zu teuer. Wenn es günstiger ist, einen Diesel zu fahren statt ein E-Auto, dann ist die Zurückhaltung doch kein Wunder.
Wie wird es besser?
Wir sollten der heimischen Automobilindustrie dadurch helfen, dass wir die Ladeinfrastruktur ausbauen, dass wir die Strompreise reduzieren und dass wir vielleicht auch für die nächsten 12 bis 24 Monate nochmal Kaufanreize auflegen.
Während die Autohersteller kämpfen, boomt die Rüstungsindustrie – bisher allerdings weitgehend an Sachsen vorbei. Rheinmetall wollte hier eine Munitionsfabrik bauen, das ist – auch wegen Protesten – gestoppt worden. Hätten Sie gerne mehr Rüstungsindustrie im Land?
Rheinmetall hat viele Ideen und mehrere Standorte in Deutschland und Europa geprüft.
Bedauern klingt anders – dabei sollen in den nächsten Jahren Milliarden in den Rüstungssektor fließen. Wollen Sie davon nicht profitieren?
Wie kommen Sie darauf? Die Rüstungsindustrie ist bei uns sehr willkommen. Es gibt schon jetzt viele Forschungskooperationen mit Hochschulen, im Görlitzer Werk des Waggonbauers Alstom werden künftig Baugruppen für Panzer gefertigt.
Trotzdem gibt es noch immer ein großes Ungleichgewicht: Nur zehn Prozent der Rüstungsfirmen sitzen im Osten. Was muss passieren?
Das Bundesverteidigungsministerium sollte hier eine aktivere Rolle spielen. Die wehrtechnischen Dienststellen sitzen alle im Westen. Dort finden die Kooperationen mit der Wirtschaft statt, dort siedeln sich die Unternehmen an. Jetzt, mit Drohnen und anderen Technologien, gibt es die Chance, das zu ändern, auch mit der weiteren Ansiedlung von Bundeswehrstandorten.
Dann gehen Sie beim Fünf-Prozent-Ziel für die Nato mit?
Ich finde den Begriff „kriegstüchtig“ falsch und gefährlich. Er hat viele Menschen verunsichert. Deutschland muss verteidigungsfähig sein – und dafür investieren. Da gehe ich mit.
Was heißt das für das Fünf-Prozent-Ziel?
Wir haben einen riesigen Effizienznachteil in Europa, weil es keine gemeinsame Strategie gibt. Und das wissen wir seit 20 Jahren. Bevor sich das nicht ändert, wäre so viel Geld schlicht vergeudet.
Die Fixierung auf Trump ist nicht nachvollziehbarMichael Kretschmer, Ministerpräsident von Sachsen (CDU)
Deutschland hat aber womöglich keine andere Wahl, um die USA in der Nato zu halten?
Deutschland ist ein souveränes Land in der EU. Die Fixierung auf Trump ist nicht nachvollziehbar. Wir sollten uns auf unsere eigenen Ziele konzentrieren – statt uns von außen unter Druck setzen zu lassen.
Erzählen Sie das mal der Wirtschaft, die vom ganzen Hin und Her bei den Zöllen ein regelrechtes Schleudertrauma hat.
Wir sind 500 Millionen Menschen in der EU. Wenn wir unsere Interessen bündeln und geschlossen auftreten, werden wir auch ernst genommen.
Um den US-Präsidenten muss sich vor allem Friedrich Merz bemühen. Hat er schon bei Ihnen angerufen, um sich Tipps abzuholen?
Warum sollte er?
Merz braucht viel Geld, für die Rüstung, aber auch für die Modernisierung des Landes. Er will noch 2025 die Schuldenbremse reformieren und muss Die Linke dafür gewinnen. Sie verhandeln regelmäßig mit der Partei.
Ich glaube nicht, dass es derzeit eine Reform
der Schuldenbremse geben wird.
Steht aber so im Koalitionsvertrag, den Sie selbst mitverhandelt haben. Finden Sie die Reform plötzlich falsch?
Es wird keine Schnittmenge mit Linken geben. Und dann gibt es auch keine Mehrheit im Bundestag.
Doch, wenn die Union den Unvereinbarkeitsbeschluss mit der Linken aufheben würde.
Wir sollten weniger über abstrakte Hürden wie den Unvereinbarkeitsbeschluss oder die Brandmauer sprechen – und mehr darüber, was wir konkret tun wollen. Diese Dogmen führen nur dazu, dass sich einige als Märtyrer inszenieren.
Damit meinen Sie eher die AfD als die Linken. Wie intensiv sprechen Sie mit Merz über den Umgang mit der AfD?
Das Wichtigste ist, den Nährboden für die AfD zu entziehen. Themen wie Migration müssen geklärt werden.
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