„Wir stehen an einem revolutionären Punkt“ – Deutschlandticket stellt den Nahverkehr auf den Kopf
Mit dem bundesweiten Nahverkehrsticket steht die Branche vor einer Fusionswelle. Auch deshalb wird das Ticket wohl nicht schon ab Januar auf den Markt kommen.
Berlin. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und die 16 Ministerpräsidenten waren sich schnell einig: Im kommenden Jahr wird es wieder ein bundesweit gültiges Ticket für den Nah- und Regionalverkehr geben. Nicht wieder für neun Euro wie in den Sommermonaten, sondern für zunächst 49 Euro als Abonnement, das sich Monat für Monat verlängert. Zwei Jahre lang wollen Bund und Länder die neuerliche Rabattaktion mit jeweils drei Milliarden Euro subventionieren.
Doch was als gute Nachricht für Verbraucher daherkommt, erschüttert die Verkehrsverbünde. Das 49-Euro-Ticket hat gravierende Nebenwirkungen, es dürfte die Organisation des Nahverkehrs in Deutschland grundlegend verändern.
„Schnellstmöglich“, heißt es im Beschluss der Bund-Länder-Runde, soll es das Ticket geben. Vom 1. Januar, den Verkehrs- und Digitalminister Volker Wissing (FDP) gefordert hatte, ist nicht mehr die Rede. Realistisch sei eine Einführung am 1. März, erklärte der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen am Donnerstag.
Grund sind Widerstände in der Branche, rüttelt das geplante „Deutschlandticket“ doch an deren Grundfesten: nicht nur, dass die Verkehrsunternehmen und -verbünde das Aboticket nur digital vertreiben sollen – was auch Verbraucherverbände kritisieren. Der Umstand, dass das Ticket von Flensburg bis Rosenheim gültig sein soll, hat weitreichende Folgen.
„Wir stehen an einem revolutionären Punkt“, sagt Anna Theresa Korbutt, Geschäftsführerin des Hamburger Verkehrsverbunds (HVV). Sie rechnet mit einer Konsolidierungswelle. Mit dem neuen Ticket würden viele Verkehrsverbünde 80 bis 90 Prozent ihres Umsatzes verlieren, würden dann allenfalls noch Einzelfahrscheine und Tageskarten gelöst. Mit dem 49-Euro-Ticket könnten Jahresabos, Job- und Ausbildungstickets ersetzt werden. Die Branche deckt ohnehin mit den Ticketeinnahmen allenfalls die Hälfte ihrer Kosten.
27 Unternehmen aus Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein gehören dem HVV an, der gut eine Milliarde Euro im Jahr umsetzt. Er ist einer von gut 100 Zusammenschlüssen in Deutschland, in denen meist kommunale Verkehrsunternehmen ihre Bus- und Bahnverbindungen abstimmen und einheitliche Tickets anbieten. Bei alldem reden Kommunalpolitiker über Verwaltungsräte ein gewichtiges Wort mit.
Verkehrsverbünde verlieren massiv Umsatz
Jeder Verbund pflegt seine Eigenheiten, etwa eigene Vertriebssysteme. Kein Wunder, dass die Branche zwar seit Wochen hinter verschlossenen Türen über das Deutschlandticket verhandelt, aber noch weit von einer Lösung entfernt ist.
„Es brodelt unter den Verkehrsverbünden“, berichtet ein Teilnehmer. Vom „Krieg der Verbünde“ ist die Rede. Es gehe los mit der Frage, wie viele Tarife das 49-Euro-Ticket ersetzt, und setze sich fort mit der Frage, ob es zu einer Kündigungswelle der Bestandskunden kommen wird.
Und wo kaufen die dann ihr neues Abo: weiter beim Verbund oder bei Nahverkehrsunternehmen? Oder ganz woanders? „Künftig könnte ich als Hamburger Verkehrsverbund Tickets in München verkaufen oder ganze Pakete Unternehmen wie Aldi und deren Mitarbeitern anbieten“, sagt HVV-Chefin Korbutt.
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Vermutlich werden die meisten Kunden wie beim Neun-Euro-Ticket die App der Deutschen Bahn AG bemühen, sind doch die wenigsten Verbünde in der Lage, Abo-Karten per Smartphone anzubieten. „Wir können es noch nicht“, muss selbst Korbutt für ihren Großstadtverbund einräumen. Im ersten Quartal 2023 werde es so weit sein.
Das Ende der Vertriebsmonopole naht
Mit dem neuen Ticket fallen die regionalen Vertriebsmonopole. Lohnen sich dann noch individuelle IT-Systeme? Die Sorge geht um, niemand wisse dann noch, wer die eigenen Kunden seien, die im eigenen Tarifgebiet das neue Abo-Ticket nutzen.
Der Druck dürfte steigen, zumindest für das 49-Euro-Ticket ein einheitliches System zu nutzen. Mit dem System könnten die Verbünde und Unternehmen auch die Einnahmen aufteilen und das Produkt schnell zentral anpassen, etwa wenn der Preis steigt.
„Es gibt bisher keinen zentralen Produktmanager“, beklagt HVV-Chefin Korbutt. So trage niemand die Verantwortung, jeder Verbund werde versuchen, seine Sonderwünsche durchzusetzen. Korbutt weiß, wovon sie redet: Bevor sie 2021 nach Hamburg wechselte, war sie drei Jahre bei der Österreichischen Bundesbahn (ÖBB) für die Unternehmensentwicklung zuständig. Dort gibt es seit einem Jahr das sogenannte Klimaticket, eine Jahreskarte für fast alle öffentlichen Verkehrsmittel. „In Österreich war von Anfang an klar: Die ÖBB verantwortet zentral den Vertrieb.“
All die Fragen sorgen für reichlich Diskussionen hinter den Kulissen. Die Unternehmen reden etwa darüber, Gebühren zu erheben, wenn jemand das 49-Euro-Ticket-Abo kündigt. Schließlich seien dies Vertriebskosten. Sollen Ticketinhaber auch ihren Hund oder ihr Fahrrad mitnehmen dürfen – oder sollen diese und andere Privilegien für die bisherigen Tickets gelten – damit sich so wenig ändert wie möglich?
Oliver Wolff, Geschäftsführer beim Verband der Verkehrsunternehmen (VDV), spricht zwar von einem „Paradigmenwechsel“. Doch betont er, dass „nicht plötzlich alles anders“ werde. Es gebe „ein zusätzliches Tarifprodukt“. Die anderen Tickets blieben und damit auch die Vertriebskosten.
Wer setzt das 49-Euro-Ticket um?
Der Verband versucht seit etlichen Jahren, ein einheitliches E-Ticket für die Branche auf die Beine zu stellen. Nun will das VDV-eigene Unternehmen E-Ticket Service das 49-Euro-Ticket umsetzen, erbittet aber „zeitlichen Vorlauf“. Es müsse schließlich „fälschungssicher und überall kontrollierbar“ sein.
Fraglich aber, ob nicht andere Softwareanbieter viel schneller sein werden, etwa Hansecom oder Lufthansa Industry Solutions – oder die Hacon, die die App der Deutschen Bahn entwickelt hat. Womöglich bietet die Bahn das Ticket dann als Upgrade auf die Bahncard an. Vorstandsmitglied Evelyn Palla spricht bereits davon, das Ticket werde vieles „revolutionieren“.
Das Ticket „beendet den Dschungel von Tarifen“, ist sich der Fraktionsvize der SPD-Bundestagsfraktion, Detlef Müller, sicher. Auch der Vorstand des Verkehrsverbunds Rhein-Ruhr, José Luis Castrillo, kann sich „schwer vorstellen“, künftig noch Einzelfahrten für fünf oder acht Euro für eine Fahrt“ zu verkaufen. Er hat aber schon eine neue Idee für ein Ticket, das Ergebnis der Konsolidierung sein könnte: ein landesweites NRW-Abo, günstiger als das Deutschlandticket.
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