Wirtschaft in China: Die drei Denkfehler
China erscheint vielen nach wie vor rätselhaft. Das liegt nicht zuletzt daran, dass wir im Westen von den falschen Grundannahmen ausgehen. Die drei wichtigsten Denkfehler – und wie Sie es besser machen.
VonRana Mitter und Elsbeth Johnson
Als wir Anfang der 90er Jahre zum ersten Mal nach China reisten, sah das Land noch völlig anders aus. Das Straßenbild der Hauptstadt Peking war geprägt von Menschen, die Mao-Anzüge trugen und auf Fahrrädern unterwegs waren. Autos waren der Führungsriege der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) vorbehalten. Auf dem Land schien ohnehin die Zeit stehen geblieben zu sein. In den 30 Jahren, die zwischen damals und heute liegen, ist China zur Weltmacht aufgestiegen. Die Regierung hat das Land mit einer gezielten Wirtschaftsförderungspolitik und enormen Investitionen radikal verändert. Mittlerweile ist China die zweitgrößte Volkswirtschaft der Erde und verfügt über eine wachsende Mittelschicht, die liebend gern konsumiert.
Nur eins ist unverändert: Im Westen verstehen viele Entscheidungsträger aus Wirtschaft und Politik nach wie vor nicht, wie China tickt. Sie gehen davon aus, dass eine wirtschaftliche Liberalisierung zwangsläufig auch eine Liberalisierung in der Politik nach sich ziehe. Sie glauben, das Internet in China funktioniere genau wie im Westen: weitgehend ungezügelt und mit disruptiver Wirkung auf die politischen Verhältnisse. Mit der anhaltend dominierenden Rolle des chinesischen Staats als Investor, Regulierer und Inhaber von Urheberrechten haben die wenigsten gerechnet. Die überwältigende Mehrheit in den USA und anderswo ist davon überzeugt, das Wirtschaftswachstum in China müsse auf den gleichen Grundlagen aufbauen wie im Westen.
Warum schätzen westliche Entscheidungsträger das Land so falsch ein? Bei unseren Untersuchungen sind wir auf drei Grundannahmen gestoßen, die in Wirtschaft und Politik bis heute weitverbreitet sind. Keine von ihnen trifft tatsächlich zu. Wie wir im Folgenden zeigen, spiegeln sie vor allem die Wissenslücken in Bezug auf Chinas Geschichte, Kultur und Sprache wider. In ihrer Kombination führen sie zu scheinbar überzeugenden, aber trotzdem wenig zielführenden Vergleichen mit anderen Ländern.
Irrtum 1: Wirtschaftliche und politische Liberalisierung bedingen sich
Im Westen gehen viele davon aus, dass China die gleiche Entwicklung wie Japan, Großbritannien, Deutschland und Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg durchläuft. Der Unterschied sei nur, dass die Entwicklung in China viel später begonnen habe als in anderen asiatischen Ländern wie Südkorea und Malaysia – nach einem 40-jährigen maoistischen Umweg. Die Annahme: Wie in den anderen Ländern würden Wirtschaftswachstum und zunehmender Wohlstand auch in China eine wirtschaftliche und politische Liberalisierung nach sich ziehen.
Das klingt plausibel. Der Schriftsteller Yuval Noah Harari verweist darauf, dass der Liberalismus seit Ende des Kalten Krieges nicht mehr viel Konkurrenz hat. Das im Westen übliche Narrativ wird von vielen einflussreichen Persönlichkeiten weitergetragen. Ein Beispiel dafür ist US-Präsident Bill Clinton, der im Jahr 2000 in einer Rede sagte: "Mit dem Beitritt zur WHO willigt China nicht nur ein, mehr von unseren Produkten zu importieren, sondern auch einen der am meisten geschätzten demokratischen Grundwerte zu übernehmen: wirtschaftliche Freiheit. Wenn alle ihre Träume verwirklichen können, werden sie auch ein größeres Mitspracherecht einfordern."
Diese Argumentation übersieht die grundlegenden Unterschiede zwischen China einerseits und den USA, Japan, Großbritannien, Deutschland und Frankreich andererseits. Letztere sind spätestens seit 1945 pluralistische Demokratien mit einer unabhängigen Justiz. Die wirtschaftliche Entwicklung und der soziale Fortschritt gingen in diesen Ländern Hand in Hand – etwa in Form von Gesetzen zum Schutz der Entscheidungsfreiheit des Einzelnen und Rechten von Minderheiten. Deshalb liegt es nahe, dass es sich dabei um zwei Seiten derselben Medaille handelt. Der Zusammenbruch der UdSSR scheint diese Überzeugung zu bestätigen: Einer der Gründe für ihr Scheitern war schließlich, dass es der Sowjetunion nicht gelungen war, genügend Wirtschaftswachstum für ihre Bürgerinnen und Bürger zu erreichen. Russlands Eingliederung in die Weltwirtschaft folgte erst nach den von Michail Gorbatschow eingeleiteten politischen und wirtschaftlichen Reformen und den Bemühungen um mehr Transparenz und Mitsprache.
In China vollzog sich das Wirtschaftswachstum hingegen im Rahmen eines stabilen kommunistischen Systems. Das deutet darauf hin, dass sich Demokratie und Wachstum eben nicht zwangsläufig bedingen. Im Gegenteil: Viele Chinesinnen und Chinesen sind davon überzeugt, dass es nicht zuletzt Chinas autoritäre Regierungsform ist, die die jüngsten wirtschaftlichen Erfolge ihres Landes ermöglicht hat. Dazu zählen etwa die massive Reduzierung der Armut, die enormen Verbesserungen bei der Infrastruktur und die Entwicklung zu einem führenden Innovationsstandort im Bereich der Technologie. Die aggressive Bekämpfung von Covid-19, die in krassem Gegensatz zur Vorgehensweise vieler westlicher Länder steht, in denen es weniger strenge Lockdowns und höhere Todeszahlen gab, hat diese Sichtweise nur noch verstärkt.
Auch die Prognose, das autoritäre Regime werde die Innovationskraft drosseln, ist widerlegt. China gehört zu den weltweit führenden Akteuren auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz, in der Biotechnologie und in der Raumfahrt. Einen Teil des technischen Fortschritts haben die Marktkräfte vorangetrieben: Die Menschen in China wollten unkomplizierter einkaufen und kommunizieren können. Konzerne wie Alibaba und Tencent haben ihnen diese Wünsche erfüllt. Ein Großteil des technischen Fortschritts geht jedoch auf das überaus innovative und finanziell erstklassig ausgestattete Militär zurück, das massiv in neue Industrien investiert hat. Hier sind starke Parallelen zu den amerikanischen Verteidigungs- und Geheimdienstausgaben im Rahmen der Entwicklung des Silicon Valley zu erkennen.
In China profitierten Verbraucher allerdings schneller von neuen Anwendungen. Auch dies belegt, wie sehr Produkte und Dienstleistungen für den privaten Bereich mit staatlichen Investitionen verbunden sind. Unternehmen wie Alibaba, Huawei und Tiktok sind für viele Chinesen Quelle des Nationalstolzes. Sie betrachten diese Konzerne als internationale Aushängeschilder und nicht einfach nur als Arbeitgeber oder Treiber des Bruttoinlandsprodukts, wie das vielleicht in vielen westlichen Ländern der Fall wäre.
Vor diesem Hintergrund überrascht es kaum, dass 95 Prozent der Chinesinnen und Chinesen mit ihrer Regierung zufrieden sind, wie das Ash Center an der Kennedy School of Government der Harvard University im Juli 2020 in einer Umfrage herausfand. Unsere eigenen Erfahrungen vor Ort bestätigen das. Die meisten Bürger empfinden den autoritären Staat nicht als repressiv – obwohl er dies durchaus sein kann. In ihren Augen bietet der Staat ihnen Potenzial und Chancen.
Eine Putzkraft in Chongqing besitzt jetzt beispielsweise eine Reihe von Wohnungen, weil die KPCh das Immobilienrecht reformiert hat. Eine Journalistin aus Shanghai wird von ihrem staatlich kontrollierten Magazin dafür bezahlt, weltweit globale Lifestyletrends zu recherchieren und darüber zu berichten. Eine junge Studentin aus Nanjing verdankt es der hohen sozialen Mobilität und den beträchtlichen staatlichen Investitionen in die Forschung, dass sie an der Tsinghua-Universität in Peking Antriebsphysik studieren kann.
Die vergangenen zehn Jahre haben die politische Führung Chinas in ihrer Überzeugung bestärkt, dass wirtschaftliche Reformen auch ohne Liberalisierung der Politik möglich sind. Die Finanzkrise 2008 markiert dabei einen Wendepunkt: Sie zeigt in Chinas Augen, dass der Washington-Konsens, nach dem Demokratisierung und wirtschaftlicher Erfolg eng miteinander verknüpft sind, ein hohles Versprechen ist. (Der Konsens war eine Initiative von Internationalem Währungsfonds und Weltbank, die den ins Straucheln geratenen Volkswirtschaften Lateinamerikas in den 80er Jahren wieder auf die Beine helfen sollte – Anm. d. Red.) China ist seit der Finanzkrise zu einer wirtschaftlichen Supermacht und militärisch zu einem ernst zu nehmenden Faktor geworden.
Parallel zu diesen Erfolgen hat die Führung das Regierungssystem noch autoritärer ausgestaltet und so die Überzeugung verstärkt, dass die Liberalisierungslogik in China nicht greift. Dies könnte auch der Grund dafür sein, dass der amtierende Präsident und Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas Xi Jinping verkündete, er erachte Michail Gorbatschow als Verräter an der Sache: Er habe mit seinen Bemühungen um Liberalisierung den Einfluss der Kommunistischen Partei auf die Sowjetunion zerstört. Dass Xi das Regierungssystem eher festigen will, als es zu lockern, zeigen auch die Herausforderungen, die er für sein Land sieht und über Reformen angehen will. 2017 gab er zu Protokoll, es gebe "drei entscheidende Schlachten", vor denen China stehe: die Reduzierung des Finanzrisikos, die Bekämpfung der Umweltverschmutzung und den Kampf gegen die Armut. Um es auf den Punkt zu bringen: China ist kein autoritärer Staat, der liberaler werden will, sondern ein autoritärer Staat, der noch erfolgreicher werden will – politisch wie wirtschaftlich.
China treibt Reformen weiter voran
Im Westen heißt es meist, Chinas Reformen seien ins Stocken geraten. Das entspricht nicht den Tatsachen. Die Reformen gehen unvermindert weiter. Es sind eben nur keine liberalen Reformen. Das zeigt sich zum Beispiel an der Wiedereinführung der Zentralen Disziplinarkommission der Kommunistischen Partei Chinas Ende der 2010er Jahre. Xi beauftragte die Kommission damit, gegen die damals weitverbreitete Korruption vorzugehen. Dafür übertrug er ihr weitreichende Rechte: Sie kann Verdächtige festnehmen und mehrere Monate inhaftieren. Und: Die Entscheidungen dieser Kommission können von keiner anderen Stelle in China überstimmt werden, noch nicht einmal vom Obersten Gerichtshof. Dass es der Kommission gelungen ist, die Korruption einzudämmen, liegt zu einem großen Teil daran, dass sie praktisch über dem Gesetz steht. Eine Regelung, die in einer liberalen Demokratie undenkbar wäre. Dieses Beispiel steht stellvertretend für die Art der Maßnahmen, die in China umgesetzt und vorangetrieben werden. Der Westen täte gut daran, sie als eigenständiges Konzept zu verstehen und nicht als verzerrte oder fehlerhafte Version eines liberalen Modells.
Dass viele Chinas Entwicklung falsch einschätzen, mag auch daran liegen, dass sich das Land in seinen englischsprachigen Marketingmaterialien gern als Variante eines liberalen Staates darstellt, um im Ausland vertrauenswürdig zu wirken. Chinesische Unternehmen vergleichen sich mit Marken, die Westlern ein Begriff sind.
So bezeichnet sich zum Beispiel der Mobilfunkausrüster Huawei in seiner britischen 5G-Werbekampagne als das "John Lewis von China" – und spielt damit auf die britische Kaufhauskette an, die regelmäßig zu den vertrauenswürdigsten Marken in Großbritannien gewählt wird. Genauso betont China ausländischen Regierungen oder Investoren gegenüber immer wieder, dass es dem Westen in vielen Punkten sehr ähnlich sei. Zum Beispiel im Bereich Lifestyle, beim Reiseverhalten oder bei der großen Nachfrage nach Hochschulbildung. Diese Ähnlichkeiten gibt es tatsächlich. Sie sind allerdings in erster Linie Zeichen des Wohlstands und des persönlichen Ehrgeizes der Angehörigen der neuen wohlhabenden Mittelschicht. Sie ändern nichts an den gravierenden Unterschieden der politischen Systeme Chinas und des Westens. Womit wir beim nächsten Trugschluss sind.
In China glaubt ein großer Teil der Bevölkerung nicht nur, dass wirtschaftlicher Erfolg unabhängig von einer demokratischen Verfassung ist. Die meisten Menschen sind auch überzeugt davon, dass die Art und Weise, wie ihr Land regiert wird, rechtmäßig und effektiv ist. Dies ist vielen Menschen im Westen nicht bewusst. Deshalb erwarten sie nach wie vor, dass die chinesische Regierung ihre Rolle als Investor, Regulierer und vor allem Inhaber von Urheberrechten zurückschraubt. Peking denkt jedoch nicht daran, seinen Einfluss zurückzufahren – es erachtet ihn als entscheidend für den zukünftigen Erfolg des Landes.
Dass die Chinesinnen und Chinesen ihr politisches System für rechtmäßig halten, hat nicht zuletzt historische Gründe: China musste in seiner Geschichte oft Invasoren abwehren. Zudem kämpfte es von 1937 bis 1941, bis zum Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg, praktisch allein gegen Japan. Dies wird im Westen oft übersehen. Der Sieg über Japan, den die KPCh jahrzehntelang als Erfolg im Alleingang verkaufte, sowie der Triumph gegen Tschiang Kai-schek im Bürgerkrieg 1949, bilden die Grundlage für die Legitimation der Partei und ihres autoritären Systems.
Heute, 70 Jahre später, sind viele in der Bevölkerung der Meinung, ihr politisches System habe sogar eine bessere Legitimation und sei effektiver als westliche Regierungen. Diese Überzeugung ist den meisten Topmanagern aus dem Westen fremd, vor allem wenn sie schon Erfahrung mit anderen autoritären Systemen gesammelt haben.
Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass Chinas System nicht marxistisch ist, sondern marxistisch-leninistisch. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass im Westen viele Menschen nicht wissen, was dies bedeutet und warum es so wichtig ist. In einem marxistischen System geht es in erster Linie um den wirtschaftlichen Erfolg. Und das zeigt sich auch bei politischen Entscheidungen. Etwa wenn es darum geht, dass der Staat Eigentümer von Vermögenswerten sein soll, um eine faire Verteilung des Wohlstands zu gewährleisten. In einem solchen System wird der wirtschaftlichen Entwicklung letztlich alles andere untergeordnet. Der Leninismus ist hingegen primär eine politische Doktrin, die vor allem auf Kontrolle abzielt. Das bedeutet: In einem marxistisch-leninistischen System geht es nicht nur um möglichst gute wirtschaftliche Ergebnisse, sondern auch um die Kontrolle des Systems an sich.
Daraus ergeben sich weitreichende Folgen für alle, die in China Geschäfte machen. Wäre die chinesische Regierung nur am wirtschaftlichen Erfolg interessiert, würde sie ausländische Unternehmen und Investoren, die zum Wirtschaftswachstum beitragen, als gleichberechtigte Partner behandeln – unabhängig davon, wer Mehrheitseigentümer eines Unternehmens ist oder wem das geistige Eigentum gehört. Weil China aber auch ein leninistisches System ist, spielen diese Fragen jedoch eine entscheidende Rolle. Deshalb wird Peking auch kaum von seiner Position abrücken, ganz gleich wie effektiv oder hilfreich ausländische Partner in wirtschaftlicher Hinsicht sein mögen.
Diese Haltung bekommen Unternehmen aus dem Westen deutlich zu spüren, wenn sie über den Zugang zum chinesischen Markt verhandeln. Wir haben beide schon Verhandlungen miterlebt, in denen Manager aus Bereichen wie Technologie und Pharmazie überrascht waren, dass China darauf bestand, geistiges Eigentum auf ein chinesisches Unternehmen zu übertragen. Manche äußerten die Hoffnung, Chinas Kontrollstreben werde abnehmen, wenn sie sich erst als wertvoller Partner erwiesen haben. Ein solches Kalkül wird jedoch mit ziemlicher Sicherheit nicht aufgehen: Für Chinas Form des Autoritarismus wird Kontrolle von entscheidender Bedeutung bleiben.
Über die Auswahl künftiger Führungskräfte nach leninistischen Prinzipien hat die Kommunistische Partei Chinas ihre Legitimation bis heute aufrechterhalten. In den Augen vieler Menschen dort bringt dieser Ansatz im Wesentlichen kompetente politische Führungskräfte an die Macht: Sie werden von der KPCh bestimmt und steigen innerhalb des Systems auf. Zuerst leiten sie eine Stadt, dann eine Provinz. Erst wenn sie sich bewährt haben, erhalten sie einen Sitz im Politbüro. In China wird niemand zu einem national führenden Politiker befördert, der nicht vorher seinen Wert als Manager oder Managerin unter Beweis gestellt hat.
Chinas Führung sagt, ihre im Grunde leninistischen Regeln führten dazu, dass der Politikbetrieb weniger willkürlich und nepotistisch sei als in vielen anderen Ländern. Damit meinen die Verantwortlichen vor allem den Westen. Dass es auch im chinesischen System jede Menge undurchsichtige Entscheidungsprozesse und eine ausgeprägte Eine-Hand-wäscht-die-andere-Mentalität gibt, ändert nichts an dieser Einschätzung.
Per App von Marx und Co. lernen
Wer in China vorankommen möchte, muss die leninistische Lehre kennen. Und wer in die Kommunistische Partei Chinas aufgenommen werden will oder eine Immatrikulation an einer Hochschule anstrebt, muss Kurse in marxistisch-leninistischer Lehre absolviert haben. Inzwischen ist dieses Wissen sogar Teil der Popkultur geworden. 2018 gab es eine Fernsehtalkshow, deren Titel frei übersetzt etwa "Marx hatte recht" hieß. Handy-Apps wie Xuexi Qiangguo (wörtlich: "Studiere die einflussreiche Nation" und ein Wortspiel auf "Studiere Xi"), die die Grundlagen der Lehren von Marx, Lenin, Mao und Xi Jinping vermitteln, zeigen, dass Chinas politische Bildung längst im 21. Jahrhundert angekommen ist.
Das leninistische Wesen der Politik spiegelt sich auch in der Sprache. In China dreht sich der politische Diskurs immer noch um die marxistisch-leninistischen Konzepte des Kampfes (douzheng) und des Widerspruchs (maodun). Beides erfordert in der chinesischen Wahrnehmung eine gesunde Konfrontation, die siegreich bestanden werden kann. Das chinesische Wort für die Auflösung eines Konflikts (jiejue) kann auch ein Ergebnis implizieren, bei dem eine Seite die andere bezwingt. Eine für beide Seiten zufriedenstellende Lösung ist nach chinesischer Lesart nicht unbedingt erforderlich. Dazu gibt es sogar einen Witz: "Was ist Chinas Definition einer Win-win-Situation? Ein Szenario, in dem China zweimal gewinnt."
China setzt sein besonderes autoritäres Modell und dessen als gegeben betrachtete Legitimation gezielt ein, um das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen. Die Führung verwendet Methoden, die in einer liberalen Demokratie als hochgradig übergriffig angesehen werden würden. So nutzt beispielsweise die Stadt Rongcheng die Möglichkeiten von Big Data – unter anderem aus der staatlichen Überwachung –, um das Verhalten ihrer Bewohner über ein Sozialpunktesystem zu bewerten. Auf dieser Grundlage werden Bürgerinnen und Bürger für ihr politisches und finanzielles Engagement belohnt oder für Fehltritte bestraft.
Die Incentives sind sowohl finanzieller als auch sozialer Natur. Wer sich wohlverhält und eine entsprechende Beurteilung hat, bekommt Zugang zu besonders günstigen Wohnungsbaukrediten oder die Erlaubnis, eine Fahrkarte für die neuen Hochgeschwindigkeitszüge zu kaufen. Wer einen niedrigen Wert hat, bekommt weder Flugtickets noch Partner auf Dating-Apps. Für freiheitlich orientierte Menschen in China und anderswo sind das entsetzliche Zustände. Für viele Chinesinnen und Chinesen ist es jedoch ein selbstverständlicher Bestandteil des Gesellschaftsvertrags.
All dies scheint sich grundlegend von den konfuzianischen Konzepten der Güte und der Harmonie zu unterschieden, mit denen sich China gerade dem englischsprachigen Ausland sehr gern präsentiert. Doch auch diese Konzepte führen im Westen häufig zu erheblichen Missverständnissen. Der Westen reduziert den Konfuzianismus auf idealisierte Vorstellungen von Frieden und Kooperation. Für Chinesinnen und Chinesen liegt der Schlüssel zu den konfuzianischen Zielen hingegen im Respektieren einer natürlichen und rechtmäßigen Hierarchie, die für sich genommen bereits ein Kontrollmechanismus ist. Im Westen mögen Hierarchie und Gleichberechtigung seit der Aufklärung als gegensätzlich gelten, in China sind es zwei Konzepte, die sich vollkommen natürlich ergänzen.
Wer im Westen in Politik oder Wirtschaft realistische langfristige Entscheidungen über den Umgang mit China oder Investitionen dort treffen will, sollte sich vor allem Folgendes klarmachen: Das Gros der chinesischen Bevölkerung begreift das autoritäre marxistisch-leninistische System nicht nur als rechtmäßig und akzeptiert es, die allermeisten Chinesinnen und Chinesen nehmen das System auch als sehr effektiv und als überaus erfolgreich wahr.
Chinas jüngste Geschichte hat zur Folge, dass sowohl die Bevölkerung als auch der Staat einen völlig anderen Entscheidungsansatz haben als die Menschen und Regierungen im Westen. Und dies nicht nur in Bezug auf die Zeithorizonte, sondern auch auf potenzielle Risiken. Weil wir Menschen aber zu der Annahme neigen, dass andere ähnlich entscheiden wie wir selbst, könnte sich dieser Trugschluss als besonders hartnäckig erweisen.
Stellen Sie sich eine Chinesin vor, die heute 66 Jahre alt ist. Sie wurde 1955 geboren und überlebte als Kind die durch Mao Tse-tungs politische Initiative "Großer Sprung nach vorn" ausgelöste Hungersnot. Damals starben mindestens 20 Millionen Menschen an Unterernährung und Entkräftung. Als Teenager gehörte sie zu den Roten Garden und verehrte Mao Tse-tung. Ihre Eltern wurden zu Umerziehungsmaßnahmen gezwungen, weil sie Akademiker waren. In den 80er Jahren gehörte sie zur ersten Generation, die wieder zur Universität ging. Sie nahm sogar an den Demonstrationen auf dem Platz des Himmlischen Friedens teil.
Später, in den 90er Jahren, nutzte sie die neuen wirtschaftlichen Freiheiten und gründete im Alter von fast 40 Jahren ein Unternehmen in einer der neuen Sonderwirtschaftszonen. Sie kaufte eine Wohnung und war damit die Erste in ihrer Familie, die über Immobilienbesitz verfügte. Auf der Suche nach zusätzlicher Berufserfahrung nahm sie eine Stelle als Investmentanalystin bei einem Vermögensverwalter in Shanghai an. Trotz eines langfristig orientierten Weiterentwicklungsangebots ihres Arbeitgebers wechselte sie zu einem Wettbewerber, der ihr kurzfristig etwas mehr Gehalt bot. 2008 kaufte sie sich mithilfe ihres stark gestiegenen Einkommens eine ganze Reihe von Konsumgütern, von denen ihre Eltern nur hatten träumen können. Anfang der 2010er Jahre mäßigte sie ihre zuvor sehr offenen politischen Kommentare auf Weibo, Chinas größtem Microblogging-Dienst, weil die Zensur schärfer wurde. Ab 2020 richtete sie ihren Fokus auf ihre Familie. Wichtig ist ihr vor allem, dass es ihrem siebenjährigen Enkelsohn und der gerade geborenen Enkeltochter gut geht.
Viele Chinesinnen und Chinesen setzen kein großes Vertrauen in langfristige Prognosen – oder in die Stabilität politischer Rahmenbedingungen.
Wäre die Frau 1955 irgendwo anders auf die Welt gekommen, hätte ihr Leben vermutlich nicht so viele überraschende Wendungen genommen. Ihr Lebensweg zeigt, warum auch heute noch viele Chinesinnen und Chinesen kein großes Vertrauen in langfristige Prognosen setzen – oder in die Stabilität politischer Rahmenbedingungen.
Wenn das Leben schwer vorhersehbar ist, beurteilen Menschen potenzielle Entwicklungen, die weit in der Zukunft liegen, auf Basis eines höheren Abzinsungsfaktors. (Die Abzinsung kommt aus der Finanzmathematik. Berechnet wird hierbei die Höhe einer zukünftigen Zahlung oder eines Ergebnisses – Anm. d. Red.) Wenn ein Ereignis näher an der Gegenwart liegt, fällt der Abzinsungsfaktor niedriger aus. Im Vergleich zu Menschen, die in stabileren Gesellschaften leben, wählen Menschen in unsicheren Umfeldern einen erheblich höheren Abzinsungsfaktor. Praktisch bedeutet dies, dass sie sich bei längeren Planungshorizonten äußerst ungern auf Prognosen verlassen und ihre Risikoscheu steigt. Es liegt auf der Hand, dass dies beeinflusst, ob und wie Menschen langfristige Verpflichtungen eingehen. Vor allem wenn damit in der Gegenwart Kompromisse oder Verluste verbunden sind.
Deshalb ziehen viele chinesische Verbraucher kurzfristige Gewinne auf Aktienmärkten langfristigen Sparprodukten vor. Die Marktforschung zeigt: Die meisten chinesischen Privatanleger verhalten sich eher wie Wertpapierhändler. Eine Umfrage von 2015 ergab, dass 81 Prozent von ihnen mindestens einmal im Monat mit Aktien handeln, obwohl allzu häufiges Verkaufen und Kaufen dem Portfoliowert langfristig fast immer schadet.
Dieses Verhalten ist viel stärker ausgeprägt als in westlichen Ländern. In den USA engagieren sich zum Beispiel nur 53 Prozent der Privatanleger so häufig. Sogar im benachbarten Hongkong traden Privatanleger weniger – obgleich die dortigen Han-Chinesen eine Vorliebe fürs Glücksspiel haben und das Steuersystem wie in China ohne Kapitalertragsteuern auskommt. Dies legt den Schluss nahe, dass das Verhalten der Festlandchinesen auf eine Besonderheit ihres Landes zurückgeht: eine lange Phase hoher Unberechenbarkeit, die noch gar nicht weit zurückliegt. Die meisten, die heute in China Aktien kaufen, haben diese Zeit der Unsicherheit noch selbst erlebt oder kennen sie aus den Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern.
Der Fokus auf den kurzfristigen Gewinn ist der Grund, warum die Frau in unserem Beispiel ihren guten, langfristigen Job für eine kleine, aber sofortige Gehaltserhöhung aufgegeben hat. Mit diesem Muster haben viele Unternehmen in China zu kämpfen, die ihre Mitarbeiter halten möchten, um eine Nachfolgepipeline aufzubauen und zu steuern. Diejenigen, die tatsächlich langfristige Karriererisiken eingehen, tun dies oft erst, wenn sie den Eindruck haben, dass ihre Sicherheit zumindest kurzfristig gewährleistet ist.
Wir haben zum Beispiel mit etlichen Paaren gesprochen, bei denen sich die Ehefrau selbstständig gemacht hat und zu einer der vielen chinesischen Gründerinnen geworden ist. Das Gros der Frauen geht dieses Risiko nur dann ein, wenn der Ehemann einen sicheren, wenn auch weniger gut bezahlten Job beim Staat hat, der die Familie ernähren kann. Das hohe Sicherheitsbedürfnis ist auch der Grund dafür, dass Wohnimmobilien überaus beliebt sind. Sie sind die einzige langfristige Anlageklasse, in die immer mehr Chinesinnen und Chinesen investieren: 1988 verfügten 14 Prozent der 25- bis 69-Jährigen über Wohneigentum, 2008 waren es 93 Prozent. Anders als alle anderen Investments sichert die eigene Immobilie im Notfall ein Dach über dem Kopf – in einem System mit begrenzten Sozialleistungen und einer durch schnelle Politikwechsel geprägten Geschichte ist das enorm viel wert.
Fünfjahresplan zur Ökozivilisation
Im Gegensatz zu den Menschen arbeitet die Regierung mit einem deutlich niedrigeren Abzinsungsfaktor. Das liegt zum Teil an der leninistischen Fokussierung auf Kontrolle und zum anderen an der bewussten Konzentration auf langfristige Ergebnisse. Ein Großteil der staatlichen Investitionen wird nach wie vor im Fünfjahresplan der Kommunistischen Partei Chinas festgeschrieben – ein Instrument nach sowjetischem Vorbild. Der aktuelle Plan sieht unter anderem die Entwicklung einer, wie Xi es nennt, "Ökozivilisation" auf der Basis von Solarenergietechnik, Smart Citys und hochverdichtetem, energieeffizientem Wohnen vor. Solche Ziele werden in China relativ zeitnah und konsequent verfolgt, zumal die staatlichen Institutionen bei der Umsetzung nicht zimperlich sind. Im Vergleich dazu kommt der Westen bei diesen Themen extrem langsam voran.
Investitionsentscheidungen haben immer denselben Zweck – ganz gleich, ob Staaten oder Einzelpersonen sie treffen: Sie sollen in einer unberechenbaren Welt Sicherheit und Stabilität bieten. Im Westen scheinen viele zu glauben, China gehe es bei seinen globalen Plänen für das 21. Jahrhundert um die Nutzung von Chancen und Potenzial. Die Motivation des Landes ist jedoch eine ganz andere.
China wurde in seiner modernen Geschichte oftmals von ausländischen Mächten bedroht – allen voran von Japan und Mitte des 19. Jahrhunderts von Großbritannien und Frankreich. Chinas Machthaber betrachten ausländisches Engagement deshalb nicht so sehr als Chance, sondern vielmehr als Bedrohung und Quelle von Unsicherheit oder gar Demütigung. Noch heute machen viele Chinesen die Einmischung des Auslands für etliches verantwortlich, was in der Vergangenheit schiefgelaufen ist. Dabei spielt es keine Rolle, dass dies oft mehr als ein Jahrhundert her ist.
Ein Beispiel sind die Opiumkriege, die 1839 begannen. Das Verhalten der Briten damals läutete eine 100-jährige Periode ein, die in China immer noch als das Jahrhundert der Demütigung bezeichnet wird. Chinas Blick auf internationale Beziehungen ist nach wie vor stark von seinen Erfahrungen in der Geschichte geprägt. Das ist einer der wichtigsten Gründe für die Fixierung des Landes auf nationale Souveränität.
Die Historie erklärt auch, wieso Staat und Bürger in China mit völlig unterschiedlichen Planungshorizonten arbeiten. Chinesinnen und Chinesen, die schwere Zeiten und Kontrollverlust durchlebt haben, planen aufgrund dieser Erfahrung bei wichtigen Entscheidungen viel kurzfristiger als Menschen im Westen. Die politische Führung hingegen sucht nach Möglichkeiten, ihre Kontrolle und Souveränität auch in der Zukunft weiter auszuüben und auszudehnen. Sie plant daher viel langfristiger als die Staaten im Westen. Der Wunsch nach Planbarkeit und Verlässlichkeit eint Staat und Bevölkerung – und erklärt die ungebrochene Attraktivität, die das autoritäre System für beide Seiten hat. Schließlich verheißt dieses System größtmögliche Kontrolle.
Im Westen nehmen viele Chinas Selbstdarstellung für bare Münze. Demnach hat die Reform- und Öffnungsperiode, die Deng Xiaoping 1978 als Gegenreaktion auf die radikale und gewalttätige Kulturrevolution initiierte, dazu geführt, dass Ideologie in China keine Rolle mehr spielt. Doch die Realität sieht ganz anders aus. Die Kommunistische Partei Chinas hat seit 1949 für Institutionen, Gesellschaft und den Alltag im Land eine zentrale Bedeutung. Die Partei glaubt an den überragenden Einfluss der chinesischen Geschichte und der marxistisch-leninistischen Lehre – mit allem, was dazugehört und daraus folgt. Solange der Westen dies nicht erkennt, wird er China falsch einschätzen. © HBP 2021
Die Autoren
Rana Mitter ist Professor für Geschichte und Politik des modernen China an der Universität Oxford. Er ist Autor mehrerer Bücher. Sein aktuelles trägt den Titel: "China's Good War: How World War II Is Shaping a New Nationalism" (Harvard University Press 2020).
Elsbeth Johnson ist ehemalige Strategiechefin für das Asien-Geschäft des britischen Versicherungs- und Finanzkonzerns Prudential. Sie lehrt an der Sloan School of Management des MIT und ist Gründerin des Beratungsunternehmens Systemshift.
Kompakt
Das Problem Der Westen deutet Chinas Strategie und Politik nach wie vor falsch. Die Ursache sind drei plausible, aber falsche Annahmen. Erstens: Demokratie ist eine unweigerliche Folge der wirtschaftlichen Entwicklung. Zweitens: Ein autoritäres Regime kann in den Augen der Bevölkerung keine Legitimation haben. Und drittens: Chinesinnen und Chinesen denken, handeln und investieren wie Menschen im Westen.
Die Lösung Akzeptieren Sie, dass die wirtschaftliche Entwicklung in China nicht zwangsläufig zu Demokratie führt und die Bevölkerung ihre Regierung als legitim und effektiv betrachtet. Für Unternehmen ist zudem wichtig zu verstehen, dass Chinesinnen und Chinesen bei wichtigen Entscheidungen wie zum Beispiel einem Arbeitsplatzwechsel oder Geldanlage sehr kurzfristig denken, während sich die politische Führung auf die langfristige Sicherheit des Landes konzentriert.
