Woher Stabilität nehmen, wenn es keinen äußeren Halt gibt?
Geschult werden könnte er durch die Erinnerung an vorausschauende und kreative Köpfe, die auf Nummer sicher gehen und keine Draufgänger sind, die nicht unbedacht losfliegen und alles auf eine Karte setzen. Als Grenzgänger tasten sie sich lediglich bis zum Rand einer Klippe vor und berechnen die Fallgeschwindigkeit, ja checken ihren Fallschirm lieber mehrmals und haben unten sogar noch ein Sicherheitsnetz gespannt – für den Fall der Fälle. Der Managementexperte Adam Grant führt in seinem Buch „Nonkonformisten“ etliche Beispiele dafür an, dass viele Unternehmer zwar große Risiken eingehen – aber das sind nicht solche mit einer nachhaltigen Erfolgsgeschichte. Die Besten zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich in einem Bereich für das Risiko entscheiden, in einem anderen aber vorsichtiger agieren. Edwin Land, der Gründer von Polaroid, bemerkte einmal, dass vermutlich niemand auf einem Gebiet originell sein kann, „wenn er nicht auf allen anderen Gebieten psychische und soziale Stabilität besitzt, die auf einem festen Fundament ruht“.
Sie soll möglichst reingehalten werden, um richtig und schnell auf das reagieren zu können, was von außen auf sie einstürmt. Eigenständiges Denken macht sie selbstständig und bewegt sie dazu, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Weniger ist für sie nicht mit Verzicht verbunden, sondern mit Realitätsgewinn. Er kommt dort zum Vorschein, wo nichts vernebelt ist - deshalb sind die meisten von ihnen auch nicht an Alkohol und Rausch interessiert. Auch Karl Lagerfeld hat nie getrunken, auch wenn ihm „sauertöpfische Puritaner und Calvinisten“ wie er ein Gräuel waren. Durchaus schaute er interessiert auf jene, die dazu geboren sind, sich zu zerstören. Aber er selbst war „fürs Überleben gemacht.“ Sein Selbsterhaltungstrieb war immer stärker, und das hat ihm immer geholfen, in der Wirklichkeit ganz selbst zu sein. Skandale waren auch seiner einstigen Muse Claudia Schiffer immer fremd. In den Neunzigerjahren erledigte sie ihren „Glamour-Job“ absolut zuverlässig. „Nie zu spät, nie betrunken, nie Diva.“ (GALA 31.3.2016, S. 50) Auch der Umweltaktivist und Frontsänger der Popband a-ha, Morten Harket, nahm niemals Drogen. "Ein Rausch bringt mir nichts. Außer, dass er mich runterzieht“, sagte er 2012 in einem Interview. Er raucht nicht, trinkt wenig Alkohol und geht meistens früh ins Bett. Wie Lagerfeld bezeichnete er 2009 sein Leben als „ziemlich langweilig“. Alles, was ihm den „Zugang zu sich selbst“ verbaut, mag er nicht. Auch der Fußballer Miroslav Klose war immer streng mit sich selbst. Kein Alkohol, keine Disco, früh schlafen gehen.
„Jahrhundertelang war das Trinken nämlich auch ein Zwang. Es konnte nicht abgelehnt werden, wenn es ans Zutrinken ging, wie das rituelle Leeren der Becher damals hieß. Geschäfte wurden so besiegelt, Lehnsverhältnisse, Ehren, alles.“ Désirée Nick gehört zu jenen, die nur nippen, weil die Gratwanderung zur Übelkeit bei ihr sehr schmal ist. Auch wenn ihre Ironie der nüchternen Betrachtung des Themas noch eins draufsetzt, so treffen sich alle im Kern der Wahrheit: dass Selbstbestimmung eine klare Sicht braucht: „Schnell empfinde ich den Alkohol als ein Zellgift, das meine sensiblen Nervenzellen schädigt, indem es unkontrollierbar seine toxische Wirkung entfaltet. Ich spüre dann regelrecht, wie das Glas Schnaps durch meinen Körper transportiert wird, sich in meinem zarten Gewebe verkantet und meine gesamte seelische Verfassung auf den Kopf stellt und aus dem Gleichgewicht bringt.“
Auch junge Menschen wie Jonathan Sierck beschäftigt das Thema Alkohol und seine Bedeutung für die Generation Y. „Vorglühen - schütten - zechen - kippen - übelst bechern - sich richtig einen hinter die Birne kippen oder aus der Welt schießen - …“ Die Generation Y könnte fast ein Wörterbuch für die verschiedenen Begriffe erstellen, mit denen sie den Konsum von Alkohol beschreiben. Für unterschiedliche Anlässe und unterschiedliche Mengen gibt es unterschiedliche Wörter dafür. „Das mag schnell so klingen, als wären viele von uns jüngeren Menschen harte Trinker. Doch ist dem keineswegs so“, sagt er. „Neben der ‚Work Hard - Drink Hard‘-Mentalität, die sich einige getriebene und zielstrebige junge (sowie auch ältere) Menschen, von Vorbildern wie u.a. Richard Branson abschauen, gibt es auch viele Verfechter der ‚Don´t Live and Drink‘- Maxime.“
Bei einem gemeinsamen Frühstück in Johannesburg lernte er ihn etwas besser kennen und erhielt einen Einblick in seine „fast schon unmenschliche Arbeitsethik gewinnen“. Selten ist er jemandem begegnet, der härter, intensiver und fokussierter arbeitet als er. Auf die Frage, ob er gelegentlich auch mal einen entspannten Abend macht, sich zurücklehnt und gemütlich ein Glas Wein oder etwas anderes trinkt, meinte er nur mit einem Lächeln im Gesicht: „Das letzte Mal, dass ich einen Schluck Wein oder Alkohol getrunken habe, liegt mehr als 30 Jahre zurück. Meine Frau wollte damals, dass ich etwas Wein mit ihr trinke. Das habe ich auch getan. Doch am nächsten Morgen habe ich mich in meinem Denken nicht so klar und frisch gefühlt, wie es sonst der Fall ist. Das war ein Preis, den ich nicht zu zahlen bereit bin und war, weswegen ich es seitdem gelassen habe.“ Die in sich Gefestigten, die wissen, was sie wollen und sich nicht von äußeren Stimmen beeinflussen lassen, die selbstbestimmt und mit einer bewussten Kontrolle über sich und ihre Gedanken durchs Leben gehen, trinken höchstens einmal aus Genuss oder gar nicht. Der Preis, dass die eigene Kreativität darunter leiden könnte, ist ein Preis, den sie nicht bereit sind zu zahlen – egal welcher Generation sie angehören.
Bauchgefühl im Management. Die Rolle der Intuition in Wirtschaft, Gesellschaft und Sport. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. SpringerGabler Verlag 2021.
Adam Grant: Nonkonformisten. Warum Originalität die Welt bewegt. Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München 2016.
Morten Harket: My take on me: Autobiografie. Edel Germany, Hamburg 2016.
Karl Lagerfeld: Karl über die Welt und das Leben. Hg. von Jean-Christophe Napias und Sandrine Gulbenkian. Edel Germany GmbH, Hamburg 2014.
Désirée Nick: Säger und Rammler und andere Begegnungen mit der Männerwelt. Heyne Verlag 2016.
Jonathan Sierck: Das meiste aus sich machen. In: Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Inspirationen und Impulse für Unternehmer. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. SpringerGabler Verlag 2018.