Nicht aufribbeln: Stricken als Trend sagt viel über unsere Zeit aus - Pixabay

Wolltreffer der Geschichte! Darum boomt Stricken in Krisenzeiten

Jean-Claude Juncker, ehemaliger Präsident der Europäischen Kommission, hat vor einigen Jahren das politische Gebilde EU mit einem "alten Pullover" verglichen, der droht sich aufzuribbeln, wenn man ihm einen Faden zieht. Mit dem Brexit, so seine Befürchtung, „könnte das eben dieser erste Faden sein.“ Dass das Stricken heute allerorten boomt, sagt viel über unsere Zeit und unsere Gesellschaft aus. Es scheint, als würde der äußeren Unruhe „handgreiflich“ eine innere Ordnung entgegengesetzt, die uns hilft, des Chaos Herr zu werden.

Millionen Menschen bieten heute ihre selbstgestrickten oder designten Produkte auf Online-Plattformen an, auch die Nachhaltigkeitscommunity kommt an den „Maschen zum Glück“ nicht vorbei. Auf Handarbeits- und DIY-Portalen können Strickmuster, Wolle, Stoffe und andere Materialien erworben und selbstgemachte Strickware verkauft werden. Bereits im zweiten oder dritten Jahrhundert nach Christi wurde das Stricken von Vorderasiaten erfunden. In den folgenden Jahrhunderten geriet es vielfach in Vergessenheit, bis die gewerbliche Form des Strickens im 13. Jahrhundert in Paris entstand und innerhalb weniger Jahrhunderte zu einer der wichtigsten Handwerksgilden in Frankreich wurde. Während der Kriege des 19. und 20. Jahrhunderts wurde diese Tätigkeit vor allem von Frauen ausgeübt, die sich durch den Verkauf wärmender Kleidung ihren Lebensunterhalt sicherten. Als dann Maschinen statt Menschen zunehmend Kleidung produzierten, geriet das Stricken als Hobby und Broterwerb vorübergehend in den Hintergrund.

Heute erfreut sich das Stricken neuer Beliebtheit. In einer Zeit der Massenproduktion und Konformität durch Massenkonsum möchten immer mehr Menschen ihrer Individualität Ausdruck verleihen, indem sie selbst designen, stricken, häkeln. All dies ermöglicht die Erfahrung von Selbstwirksamkeit, die hier auch als Mittel der Rückeroberung gesellschaftlicher Teilhabe gelesen werden kann. DIY gilt heute als „Mitmach-Revolution“. Das Endprodukt des Selbermachens, das viel Aufmerksamkeit erforderte, ist zugleich ein sichtbares Zeugnis über den eigenen Zeitgebrauch.

Hinzu kommt das Thema Achtsamkeit: Zahlreiche Studien belegen, dass Stricken ähnlich erholsam ist wie Meditation oder Yoga. Das Harvard Medical Institut fand beispielsweise heraus, dass es durch die Wiederholung der immer selben Tätigkeit zu einem vollkommenen Entspannungszustand führt. Indem das „nicht Denken“ aneinandergereiht wird, reihen sich beim Stricken die Maschen aneinander. Der Geist kommt zur Ruhe, was Stress mindert und sogar blutdrucksenkend sein kann. Auch wird das durch die eigenen Hände geschaffene Produkt vom Gehirn mit der Ausschüttung von Glückhormonen belohnt. Stricken trainiert das Gehirn, weil beide Hirnhälften beansprucht werden: Es wird die manuelle Koordinationsfähigkeit trainiert, es bedarf aber auch Kreativität und Entscheidungsfreudigkeit bei der Umsetzung. Außerdem wird die Konzentrationsfähigkeit gestärkt und einem Gedächtnisverlust im Alter wird vorgebeugt.

Auch unter den Intellektuellen finden sich buchstäblich zahlreiche „Verstrickungen“, die immer mit Krisenzeiten verwoben sind. Von besonderem Interesse sind heute Tagebücher, Briefe und Notizen, die vor dem Ersten Weltkrieg beginnen. Bekanntlich blieb vom „goldenen Zeitalter der Sicherheit", das Stefan Zweig beschrieb, nichts übrig. Die Welt geriet immer wieder aus den Fugen. Darüber berichtet auch Volker Weidermann in seinem Buch "Ostende. 1936, Sommer der Freundschaft": 2014 macht Stefan Zweig zum ersten Mal Urlaub im belgischen Strandbad in Ostende – kurz vor dem Weltenbrand, der sich 1936 zu wiederholen scheint. Auch diesmal ist Zweig hier – in einer Gemeinschaft von Flüchtlingen. Immer wieder setzt er sich zwischen die Dichter ins Café Flore: „Hermann Kesten frotzelt da mit Joseph Roth über den Schriftstellerbetrieb, Ernst Toller schimpft über Thomas Mann, Liqueur de Verveine fließt und Tollers Frau Christiane strickt (!) wie eine Besessene.“ Das Stricken hilft ihr, Krisenzeiten besser zu überstehen, weil es scheinbar im Kleinen dem Lebensfaden eine Richtung gibt. Auch gute Literatur gehört zu allen Zeiten für viele Menschen dazu, weil sie daraus geistige Reserven für die Zukunft schöpfen können.

Die im Wallstein Verlag erschienenen Tagebücher von Hedwig Pringsheim, der Mutter von Katia Mann und Schwiegermutter von Thomas Mann, gehören ebenfalls in diesen Kontext. Herausgegeben wurde die Buchreihe von Cristina Herbst, die sich seit 1999 ausschließlich mit der Edition der Tagebücher von Hedwig Pringsheim befasst. Anstoß zu ihrem Interesse für die Tagebücher von Hedwig Pringsheim gab Heinrich Breloer, als er bei Recherchen für seine Fernseh-Dokumentation „Die Manns“ auf das Konvolut der Tagebücher stieß und sie bat, für ihn darin nach bestimmten Informationen zu suchen.

Band 5 umfasst die Jahre 1911 bis 1916: Die Aufzeichnungen kreisen um die schwer erkrankte Tochter Katia Mann, die monatelang von zu Hause abwesend ist. Hedwig Pringsheim bangt um ihre Genesung und betreut in dieser Zeit den Mannschen Haushalt mit. Von der allgemeinen Euphorie bei Ausbruch des ersten Weltkrieges ist im Tagebuch kaum etwas zu finden. Im Mittelpunkt steht die Sorge um ihre Familie: „um den im Feld stehenden Heinz, um den in Australien internierten Peter, um Klaus, dessen Verdienstmöglichkeiten als Dirigent sich minimieren und der mit seiner Familie ebenfalls ihre Hilfe braucht.“

Mit Beginn des Krieges beginnt Hedwig Pringsheim wieder mit dem Stricken – und das, obwohl sie jede Art von Handarbeit hasst. Es muss sie wohl viel Überwindung gekostet haben, sich nun dem „allgemeinen Trend“ anzuschließen. Denn überall wird nun gestrickt. Wenn sie in Berlin beim „Mim“ (ihrer Mutter Hedwig Dohm) ist, finden sogar täglich „Strickkränzchen“ statt. Am 11.2.1915 hat Hedwig ihr „erstes Paar Strümpfe fertig gestrickt“, am 25.3.1915 erhält sie ein „Briefchen von Else mit Strickvorschriften“.

Silvester 1915 notiert sie ihre Verzweiflung über die dunklen Zeiten: „Denn der Krieg scheint auf einem toten Punkt angelangt, die andern kommen nicht vorwärts, aber wir auch kaum, und man fragt sich trost- und hoffnungslos, wie und wann dieser schreckliche Krieg überhaupt je enden soll, wenn keiner nachgibt, jeder auf seinem Standpunkt beharrt, jeder Recht hat und der maß- und sinnlose Haß der Völker sich immer mehr steigert. Ein schlimmes, furchtbares Ja(h)r, das wir verlassen, ein schwarzverhängtes, in das wir eintreten.“

Neben der trostlosen Politik ist die zunehmende Wirtschaftsnot ein ständiges Thema in ihren Tagebüchern. Um in diesen Zeiten zu überleben, braucht sie das Stricken genauso wie gute Lektüre, Turnen und Normalität im Alltag.

Der Rest ist Geschichte.

Weiterführende Literatur:

  • Hedwig Pringsheim: Tagebücher. Band 5, 1911-1916. Hg. und kommentiert von Cristina Herbst. Wallstein Verlag, Göttingen 2016.

  • Alexandra Hildebrandt: TUN! Warum wir Könner brauchen, um die Zukunft meisterlich zu gestalten. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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