Work-Life-Hack: Wie dieser Geschäftsführer ein Jahr um die Welt segelte
Eine längere Auszeit, davon träumen viele. Auch Chefs. Aber wer ein Unternehmen lenkt, ist schwer entbehrlich. Wie es trotzdem geht.
Einen Moment lang steht für ihn beides gleichzeitig auf dem Spiel: sein Unternehmen und der Traum seiner Familie. Christian Pukelsheim hat die 13 Meter lange Lady Blue gerade in Mindelo angelegt, einer Hafenstadt auf den Kapverden. Vor knapp fünf Monaten ist er mit seiner Frau und den drei Töchtern in Spanien losgesegelt. Seitdem bekommt Pukelsheim jeden Monat ein einseitiges Dokument von seinen Stellvertretern zugeschickt. Ganz oben zeigt darauf eine Ampel den Zustand der Firma an. Nun steht sie zum ersten Mal seit Beginn der einjährigen Auszeit nicht auf Grün – sondern auf Gelb. Für Pukelsheim bedeutet das: Sein Unternehmen Robuso steckt in Schwierigkeiten. Eine rote Ampel hieße, Robuso ist in seiner Existenz gefährdet. Die Weltumseglung wäre vorzeitig zu Ende – sieben Monate früher als geplant. So ist es verabredet.
Später erfährt Pukelsheim, dass seine Stellvertreter im 5000 Kilometer entfernten Solingen lange darüber beraten haben, ob sie die Ampel auf Rot stellen müssen. Robuso, ein mittelständischer Hersteller von Schneidwerkzeugen, hat damals, im November 2021, große Liquiditätsprobleme. Viele Vorprodukte sind infolge der Coronapandemie teurer geworden; die Einnahmen halten nicht Schritt. Doch nach einem Gespräch mit dem Steuerberater entscheiden die drei Mitarbeiter, dass sie die Lage mit höheren Preisen in den Griff kriegen könnten. Also stellen sie die Ampel nicht auf Rot. Sondern auf Gelb.
Der Plan geht auf. Einen Monat später können sie dem Chef auf ihrem Einseiter einen Rekordumsatz vermelden. Da ankern die Pukelsheims mit ihrer Lady Blue schon in der Karibik: Die Familie kann ihren Traum weiterleben.
Einfach mal raus aus dem Büro, dem Alltag entfliehen, eine Auszeit nehmen – wer träumt nicht von Zeit zu Zeit davon? Jedes vierte deutsche Unternehmen ermöglicht Mitarbeitern inzwischen ein Sabbatical, zeigt eine Umfrage im Auftrag des ifo Instituts aus dem Jahr 2023. Aber im Schnitt nutzt nur ein Prozent der Beschäftigten solche Angebote. Den Ausschlag geben vor allem finanzielle Einbußen und die Sorge vor einem Karriereknick. Für Chefs dagegen stellen sich primär andere Fragen: Kommt mein Unternehmen auch ohne mich klar? Und was muss ich dafür tun, dass in meiner Abwesenheit alles prima weiterläuft?
Pukelsheim hat sich mit diesen Fragen lange beschäftigt. Seine Frau hatte ihn bereits fürs Segeln begeistert, als er 2013 das fast 100 Jahre alte Familienunternehmen von seiner Tante übernahm. Damals war Robuso ein für die Messerstadt Solingen typischer Handwerksbetrieb – vorne das Wohnhaus, daran anschließend Büroräume, im Hinterhof die Werkstatt.
2016 verlegte Pukelsheim die Firma in eine zehnmal größere, moderne Werkshalle im Industriegebiet. Und entschied sich zugleich für die einjährige Auszeit auf See, erzählt er: „Meine Frau und ich haben damals auch schon den Tag notiert, an dem wir ablegen würden: 14. Juli 2021.“
Die beiden wollten das klarziehen in ihren Köpfen. Nicht in Versuchung geraten, die Reise immer wieder aufzuschieben. Und haben daher eine Art Vertrag aufgesetzt, von „beiden unterschrieben“.
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Fünf Jahre Vorbereitung
Doch bis zum Abreisedatum musste sich Pukelsheim in der Firma entbehrlich machen. Dem Unternehmer war klar, dass er dafür einen anderen Führungsstil etablieren muss. Jahrzehntelang hatten seine Tante und er alle geschäftlichen Entscheidungen allein getroffen; jetzt war statt der Soloverantwortung der Eigner die Eigenverantwortung der 20 Mitarbeiter gefragt. „Ich wusste: Wenn das funktioniert, dann ist das ein gutes Fundament für die Auszeit“, sagt Pukelsheim.
Also las er sich in die Literatur zu Personalführung ein, besuchte Fortbildungen – und wählte drei Mitarbeiter aus, denen er die Rolle von Stellvertretern zutraute. Er weihte sie noch nicht in die Reisepläne ein. Aber Pukelsheim nahm den Vertriebsleiter auf Messen mit und ließ ihn später allein hinfahren. Er zeigte dem Produktionsleiter, wie die Rohwarenbestellung funktioniert. Und er zog den kaufmännischen Leiter zu Terminen bei der Hausbank hinzu und übertrug ihm Kontobefugnisse. Auch legte Pukelsheim zum ersten Mal schriftlich fest, wie bestimmte Prozesse im Unternehmen ablaufen – und optimierte sie gemeinsam mit einem externen Berater. Ganz schön viel Aufwand. Aber was tut man nicht alles für die Realisierung eines Traums?
Dass eine längere Abwesenheit der Chefin oder des Chefs zu einem Vakuum führen kann, wenn sie nicht gut vorbereitet ist, hat Heidi Stopper oft beobachtet. Die Beraterin und Honorarprofessorin für Leadership an der Hochschule Macromedia in München hat schon mehrere Geschäftsführer und Top-Manager vor einer Auszeit unterstützt. „Sich plötzlich zurückzuziehen, das kann ein Unternehmen ins Chaos stürzen“, meint Stopper. Bei der Vorbereitung gehe es nicht nur darum, Abläufe und Strukturen im Unternehmen zu verändern und Mitarbeiter an neue Aufgaben heranzuführen: „Die größere Herausforderung liegt meist darin, die eigene Haltung zu verändern.“
Viele Chefs sorgen sich vor dem Kontrollverlust – und davor, nicht mehr gebraucht zu werden. Diese Ängste müssen sie überwinden. Für Stopper ist klar: Jeder Chef ist eine Zeit lang ersetzbar. „Der Friedhof ist voll von Unentbehrlichen“, sagt sie ironisch: „Je weniger in einem Unternehmen vom Chef abhängt, je moderner die Führungskultur ist, desto leichter ist der Prozess.“
Jens Kohne leitet so ein Unternehmen mit moderner Führungskultur. Cologne Intelligence ist ein IT-Dienstleister mit knapp 200 Mitarbeitern, verteilt auf vier verschiedene Gesellschaften. Einmal im Monat kommen sie freitags im Foyer zusammen, es gibt belegte Brötchen, Antipasti und Getränke. Kohne steht im grauen Kapuzenpulli am Büffet und unterhält sich mit einem Mitarbeiter. Als Geschäftsführer ist er Chef der Truppe – zugleich gilt umgekehrt: Die Truppe ist auch Kohnes Chef. Denn die Angestellten sind über eine Genossenschaft die Haupteigner von Cologne Intelligence. Die drei Gründer des Unternehmens sind nur noch mit einem kleinen Anteil beteiligt.
Kohne kam 2017 als Vertriebsleiter ins Unternehmen; drei Jahre später zogen sich die Gründer zurück, kürten Kohne zu ihrem Nachfolger. Der war nun Geschäftsführer und Vertriebsleiter, musste sich um die Gründung der Genossenschaft kümmern – und nach Beginn der Coronapandemie auch noch um eine neue Arbeitsweise. „Da bin ich die ersten Jahre schon im roten Bereich gefahren“, erzählt er. Zeit für seine Frau und die beiden Söhne? Sehr wenig. „Deshalb wollte ich meiner Familie etwas zurückgeben.“
Skeptische Kunden
Als er die größten Aufgaben abgearbeitet hatte, bat Kohne die Gesellschafter um eine dreieinhalbmonatige Auszeit – und erhielt eine Zusage für den folgenden Sommer. Bis er mit seiner Familie im Campervan durch Europa reisen konnte, blieb für Kohne noch eine Menge zu tun. Zwar hatte er inzwischen einen Co-Geschäftsführer. Aber noch immer schleppte er Projekte aus seiner Zeit als Vertriebsleiter mit, stand mit vielen Kunden im direkten Austausch. Diese Aufgaben musste er vor der Auszeit übertragen.
„Das hätte ich sowieso irgendwann machen müssen“, sagt Kohne, „das Sabbatical war ein Anlass, es wirklich durchzuziehen.“ Die meisten Geschäftspartner fanden seine Auszeitpläne toll. „Nur bei ein paar konservativeren Kunden habe ich eine gewisse Skepsis gespürt, ob sich ein Geschäftsführer das erlauben kann.“
Chef sein und Ansprüche an ein Privatleben stellen – für viele passt das nicht zusammen: Muss das mit der Auszeit sein? Warum so lange? So etwas bekam Pukelsheim vor der Abreise oft zu hören. Von Lieferanten, Geschäftspartnern, selbst von Freunden und Verwandten. „Drei Generationen bauen das Unternehmen auf, und die vierte geht segeln, das passte ins Klischee“, sagt Pukelsheim. Immer wieder die Frage: „Warum macht ihr das?“ Pukelsheim und seine Frau besprachen mit einem Coach die beste Begründung. „Unsere Standardantwort: weil wir es wollen.“ Bloß den Traum nicht rechtfertigen!
Pukelsheim informierte die Belegschaft von Robuso ein gutes Jahr vor der Reise in einer Vollversammlung. Die Coronapandemie hatte gerade Deutschland erfasst; die Mitarbeiter waren in Kurzarbeit, die Sorgen groß. Doch nach seiner Ankündigung bekam Pukelsheim Applaus: „Die fanden das mutig und wollten ihren Teil dazu beitragen“, erinnert er sich.
Auch die drei Mitarbeiter, die er insgeheim als Stellvertreter auserkoren hatte, reagierten wie erhofft. Pukelsheim übertrug ihnen für die Zeit seiner Abwesenheit die Geschäftsvollmacht. Aber wie sollten sie zu dritt Entscheidungen treffen? Einstimmig? Nach Mehrheitsprinzip? Das war die kniffligste Frage für Pukelsheim.
Einer muss entscheiden
Schließlich entschied er sich für das Modell des konsultativen Einzelentscheids: Jeder der drei Stellvertreter entschied in seinem Arbeitsbereich alleine, musste aber die Meinung der anderen beiden einholen. In kritischen Fällen hätten beide ein Veto einlegen können, um Schaden vom Unternehmen abzuwenden. Einmal im Monat sollten die drei Pukelsheim über die wichtigsten Vorgänge informieren – auf dem Einseiter mit der Ampel.
So kompliziert war es bei Cologne Intelligence nicht. Für die Zeit seiner Reise übertrug Kohne seinem Co-Geschäftsführer die alleinige Prokura. Ab und zu telefonierten sie miteinander, während Kohne in Frankreich, Spanien oder Griechenland am Strand spazieren ging.
Strategische Weichen mussten in den dreieinhalb Monaten nicht gestellt werden. Und trotzdem hat die Auszeit etwas im Unternehmen verändert: Kohne war danach die Aufgaben los, die für ihn als Geschäftsführer zu kleinteilig waren. „Ich hatte den Kopf frei für die strategischen Themen – und nach der Reise auch wieder richtig Lust, etwas zu bewegen.“
Nicht nur der Chef verändert sich also durch eine Auszeit. Sondern auch das Unternehmen. Und zwar zum Besseren, wenn alles gut vorbereitet ist, davon ist Beraterin Stopper überzeugt. Das Ziel und der Effekt: Die Mitarbeiter wachsen mit den Aufgaben, die ihnen in der Zeit übertragen und zugetraut werden – und mit ihnen wächst das Unternehmen.
Hat die Chef-Auszeit also nur Vorteile? Natürlich nicht. Nach seiner Rückkehr merkte Pukelsheim, dass er bei Robuso noch gebraucht wurde. Ja, der Umsatz stimmte, alle Mitarbeiter waren geblieben, sogar eine Neueinstellung hatte es in dem Jahr gegeben. Doch das Betriebsklima habe während der Reise gelitten. Viele Mitarbeiter fühlten sich nicht mehr gesehen: weil die Wertschätzung durch ihn fehlte, meint Pukelsheim: „Man kann sich um Prozesse kümmern, um Führungsverantwortung, um Entscheidungswege, aber am Ende macht schon allein die Präsenz des Chefs einen Unterschied.“
Präsenz also, darum geht es manchmal doch. Auch als Vater. „Wir haben 365 Tage auf einem Boot mit zwölf Quadratmetern verbracht, ohne Waschmaschine, ohne Warmwasser“, resümiert Pukelsheim. „Für uns als Familie war das ein absolutes Geschenk.“
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