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Wovor haben die Menschen in Deutschland am meisten Angst?

Weltweit steigen die Fallzahlen der diagnostizierten Angststörungen an. Anlässe dafür gibt es genug: weltweite Konflikte und Krisen, Kriege, Fake News, soziale Ungleichgewichte, gesellschaftliche Destabilisierung und Vertrauensverlust.

Häufig werden Krankheitsmetaphern für die Kommunikation radikaler Einstellungen benutzt und damit weitere Ängste heraufbeschworen. Da heute immer mehr alte Gewissheiten wegbrechen und das Leben weniger planbar ist, wächst auch die Furcht vor Veränderungen, die seit 1863 im fachlichen Sprachgebrauch verankert ist. Der Sprachwissenschaftler und Lexikograf Jakob Heinrich Kaltschmidt taufte sie auf den Namen „Neophobie". Die sogenannte Neuerungsfurcht kann uns in jedem Bereich des Lebens befallen: beim Gedanken an einen Jobwechsel oder Umzug oder bei Beziehungsproblemen.

Der Psychoanalytiker Sigmund Freud beschrieb Angst in zwei Zusammenhängen: als Warnerin vor einer Bedrohung (gesunde Angst), die ein Signalgeber dafür ist, dass sich etwas ändern sollte, und als Ausdruck eines inneren Konflikts zwischen Wünschen und dem Gewissen, das sie unterdrückt. Eine solche Angst kann zur existentiellen Bedrohung werden – dann hat der Mensch nicht die Angst, sondern die Angst den Menschen gefasst.

Ängste zu schüren, ist auch ein effektives politisches Instrument

Das ist kein Phänomen der Gegenwart: In seinem Buch „Fear: An Alternative History oft he World“ (2023) beschreibt der Historiker Robert Peckham, wie immer neu entfachte Ängste bis heute ein wirkungsvolles Machtinstrument sind (das nicht Populisten überlassen werden sollte). Wenn Angstrhetorik dominiert, empfinden Menschen die Welt viel schlechter, als sie eigentlich ist. Das gilt auch für Krisenthemen, die uns häufig nur nur als negative Nachrichten und weniger als Lebensrealität erreichen.

Damit verbunden ist auch Vereinfachung – das Einteilen der Welt in Gut und Böse. Das beeinflusst unser Weltbild und kann dazu führen, dass auch unsere Sicht auf die Welt verfälscht wird. Doch wer alles in einem schlechten Licht betrachtet, sieht auch für die Zukunft schwarz – sie wird dann mehr gefürchtet als gestaltet. Zudem verstärken künstlich geschaffene Ängste das „Gemeine-Welt-Syndrom“.

Terrorismus, Wohlstandsverlust oder Klimawandel: Wovor haben die Menschen in Deutschland am meisten Angst?

Im 20. Jahrhundert wurde eine Vielzahl sozialer Sicherungssysteme geschaffen, die Risiken aller Art abfedern sollten. Der Künstler Markus Lüpertz kritisierte 2014 in einem „Bunte“-Interview jene Welt, die nur von Verträgen und Vorschriften gesteuert wird: „Eheverträge, Erbschaftsverträge, Pflegeverträge. Wir leben in einem verwalteten Frieden, den viele mit Demokratie und Freiheit verwechseln. In Wahrheit aber herrscht Kriegszustand: Wir haben permanent Angst, übervorteilt oder in eine Auseinandersetzung verwickelt zu werden.“ Damit verbunden ist eine Verstärkung der gesellschaftlichen Ängste. Für die repräsentative Studie „Die Ängste der Deutschen“ interviewt das R+V-Infocenter jährlich rund 2400 Männer und Frauen der deutschsprachigen Bevölkerung ab 14 Jahren. In persönlichen Gesprächen werden die Teilnehmenden der Studie nach ihren politischen, wirtschaftlichen, persönlichen und ökologischen Ängsten befragt. Zu den am meisten genannten gehören:

  • finanzielle Ängste

  • Angst vor dem Verlust der liberalen Demokratie

  • schwere Erkrankungen

  • Jobverlust

  • Folgen des Klimawandels

  • Kriege

  • steigende Lebenshaltungskosten

  • Steuererhöhungen/Leistungskürzungen

  • schlechtere Wirtschaftslage (Sorge vor einer Rezession und damit einer Verschlechterung der Wirtschaftskraft Deutschlands)

  • Überforderung der Politiker:innen

  • Belastung durch EU-Schuldenkrise

  • zunehmende Spaltung der Gesellschaft

  • Überforderung des Staats durch Aufnahme von Geflüchteten

  • unbezahlbarer Wohnraum.

Doch wie lässt sich gegen die Angst ankämpfen?

Angst wird uns nicht vor Zusammenbrüchen aller Art bewahren, nicht vor dem Verlust und nicht vor dem Scheitern. Aber wir können lernen, mit ihr umzugehen und mit ihr ein gelungenes Leben zu führen. Dazu müssen wir sie allerdings wahrnehmen und uns in eine Auseinandersetzung mit ihr begeben. In Kierkegaards Credo „Angst ist nichts für Feiglinge" liegt der eigentliche Mut: im Aushalten des Unverständlichen und des Dazwischen. Erst dadurch wird sichtbar, dass es gar nicht so bedeutsam ist, mit welcher Angst wir es zu tun haben, sondern nur das, was wir aus ihr machen.

Dazu brauchen wir auch das, was der Psychologe Gerd Gigerenzer „Risikokompetenz“ nennt: Damit ist die Fähigkeit gemeint, Wahrscheinlichkeiten einzuordnen, mit Ungewissheiten umzugehen, einzusehen, dass es niemals ein Nullrisko geben kann. Viele Sachverhalte sind nur schwer zu durchschauen, doch es muss unter ungewissen Bedingungen entschieden werden. In solchen Situationen funktioniert der gesunde Menschenverstand oft besser als Algorithmen. Häufig wird suggeriert, dass sie für uns alles entscheiden könnten - doch sie funktionieren am besten unter bekannten Risiken, nicht unter Ungewissheit.

Gerd Gigerenzer ist davon überzeugt, dass der Umgang damit auch eine zentrale Aufgabe für das Bildungssystem ist. Schülerinnen und Schülern wird vor allem die Mathematik der Sicherheit (Algebra und Geometrie) beigebracht, doch die Mathematik der Ungewissheit (statistisches Denken) wird vernachlässigt. Studien belegen, dass wir in einer Gesellschaft leben, die nicht darauf vorbereitet ist, statistisch zu denken. Bis zur Corona-Pandemie hätten wir Anlass gehabt zu lernen, Risiken besser zu verstehen, doch für die Bildungspolitik der meisten Länder war Risikokompetenz kaum kein Thema. Schließlich wurden Vertrauen und Ängste zum Spielball von Medien und Politik oder auch von Verschwörungstheorien.

Dabei ist es keineswegs so, dass Menschen in Notsituationen die Vernunft und das Zahlenverständnis automatisch abschalten.

Menschen sind selbst dann in der Lage, Risiken abzuwägen. Es geht heute vor allem darum, sie zu akzeptieren und informiert mit ihnen umzugehen. In seinem Buch „Klick. Wie wir in einer digitalen Welt die Kontrolle behalten und die richtigen Entscheidungen treffen“ zeigt Gigerenzer, in welchen Situationen Algorithmen zu besseren Ergebnissen kommen und in welchen Menschen. Als Beispiel nennt er „predictive policing“, Algorithmen, die Straftaten vorhersagen oder prognostizieren sollen, wer sie begehen wird: „In diesen Bereichen sind die Algorithmen nicht besonders gut und werden sie auch nicht sein.“ Nach seiner Einschätzung führt mehr Einsicht in die Funktionsweise von bestimmten Produkten der Digitalisierung dazu, die Kontrolle über diese zu behalten. Auch sollten Meinungen und Vermutungen von Maschinen nicht pauschal zu Wissen erhoben werden. Eine fruchtbare Kooperation zwischen Mensch und Maschine funktioniert nur, wenn wir über digitale Kompetenzen und Wissen verfügen: „Smart bleiben heißt, die Möglichkeiten und Risiken von digitalen Technologien zu verstehen und entschlossen zu sein, in einer Algorithmen bevölkerten Welt die Kontrolle zu behalten.“ Das gibt eine berechtigte Hoffnung auch in schwierigen Zeiten.

Weiterführende Informationen:

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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