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Wut tut auch mal gut: Darum sollten wir manchmal unser eigenes Ding machen

Wie wir die richtige Balance zwischen Selbstverwirklichung und unserem Wunsch nach Nähe finden.

In jedem Menschen sind mit dem Wunsch nach Bindung einerseits und dem Willen zur Autonomie andererseits zwei psychische Grundbedürfnisse angelegt, die sich zu widersprechen scheinen. In dem Moment, in dem ich mich an andere Menschen binde und deshalb an sie anpasse, kann ich mich nicht gleichzeitig selbst behaupten. Beide Grundbedürfnisse sind allerdings elementar für uns.

So wie ich mich am Ende eines Jahres für das Stimmungsbild der Deutschen interessiere, so möchte ich nach dem Jahreswechsel auch immer gerne wissen, mit welchen Vorsätzen die Menschen um mich herum ins neue Jahr starten. Und da kommt eine repräsentative Umfrage der norisbank zu einem, wie ich finde, erstaunlichen Ergebnis. So lautet Vorsatz 5 der „Top 8 der Neujahrsvorsätze 2024“ Träume erfüllen und Platz 8 Sich etwas Gutes gönnen.

Beide Vorsätze beschreiben den Wunsch, selbstbestimmt unser Leben zu gestalten und unser eigenes Ding zu machen, also unser psychisches Grundbedürfnis nach Autonomie zu bedienen. Dem gegenüber steht das genauso elementare Bedürfnis nach Bindung. Bindung und Autonomie sind ein Gegensatzpaar, denn in dem Moment, in dem ich mich anpasse, kann ich mich nicht gleichzeitig selbst behaupten und einfach mal meine Träume erfüllen. Das geht nur im Wechsel. Im Grunde genommen besteht darin unser tägliches und lebenslanges Dilemma. Denn auch wenn wir wissen, was wir wollen und wohin die Reise gehen soll, heißt das ja noch lange nicht, dass unsere Wünsche mit denjenigen unserer Umgebung konform gehen. Ständig stoßen unterschiedliche Interessen aufeinander.

Sandra etwa kam Anfang vergangenen Jahres das erste Mal zu mir in die Praxis und erzählte mir damals schon, dass sie sich für den Sommer 2023 eine Reise nach Kreta wünsche. Sandra leidet unter einem starken Kontrollzwang und war der Meinung, dass ihr eine Auszeit im Süden vielleicht guttun und ihre angestrengte Psyche etwas beruhigen könnte. Als ich dann im August einmal nachfrage, wie es denn um ihre Kreta-Pläne stünde, schüttelte Sandra den Kopf und erklärte, dass ihr Mann lieber Urlaub an der Ostsee machen würde, weil er weder Hitze noch Flugreisen schätze und sie schließlich auch noch einen Hund hätten. Vor einer Woche hatten Sandra und ich wieder eine Therapie-Sitzung und wieder erzählt sie mir von ihrem Traum vom Süden, den sie auch in ihrem ersten Tagebucheintrag 2024 dokumentiert hat. Sie steht also abermals vor der Frage, passe ich mich an oder setze ich mich durch? Und sie muss abermals eine Entscheidung treffen.

Die Qual der Wahl

Was gegen Zögern und Zaudern hilft

Die moderne Hirnforschung spricht bei Entscheidungen von der Königsdisziplin des Gehirns, denn mit jeder Entscheidung ist ein Prozess verbunden, der sowohl rationale als auch emotionale Abwägungen beinhaltet. Dabei werden auf der einen Seite persönliche Ziele geprüft, auf der anderen die Erwartungen der Umwelt begutachtet und bewertet. Es mag in vielen Situationen bequemer anmuten, erstmal abzuwarten, wie sie die Dinge so entwickeln, doch wer häufig Entscheidungen aus dem Weg geht, verliert bald die Kontrolle über sein Leben. Lebensführung ist schließlich nichts anderes, als ständig neue Entscheidungen zu treffen, weshalb wir von uns selbst erwarten sollten, dass wir eine Meinung haben und eine Wahl treffen. Was gegen aufkommendes Zögern und Zaudern hilft? Wir sollten uns von dem Anspruch verabschieden, jedes Mal eine perfekte Entscheidung treffen zu müssen. Gut reicht völlig aus, insbesondere, wenn sich die gewählte Option für uns richtig anfühlt.

Während es für die Bindung wichtig ist, dass wir unsere eigenen Bedürfnisse ab und zu nach hinten schieben, damit wir uns besser anpassen können, so benötigen wir für die Autonomie einen guten Draht zu unseren Gefühlen. Ansonsten fällt es uns schwer, eine Entscheidung zu treffen. Gefühle verleihen dem, was ich tue, und dem, was mir widerfährt, eine Bedeutung, sie zeigen die Richtung an, in die ich gehen möchte. Gefühle signalisieren, dass ich mich annähern kann, wenn sich etwas gut anfühlt, sie warnen mich, dass ich etwas vermeiden sollte, wenn es sich schlecht anfühlt.

Wobei unser Gefühl hier keine Herzensangelegenheit ist, sondern Kopfsache. Es ist die Summe einer gigantischen, unbewussten Rechenleistung des Gehirns und deshalb eine äußerst hilfreiche Richtschnur für Entscheidungen, fand der niederländische Sozialpsychologe Prof. Ap Dijksterhuis von der Radboud University Nijmegen heraus. Der unbewusste Teil unseres Gehirns verarbeitet nämlich Informationen etwa 300.000-mal schneller als unser Bewusstsein.

Die zwei Seiten der Aggression

Für ein selbstbestimmtes Leben

Der eine Partner schläft sonntags gern aus und lässt den Tag auf sich zukommen, den anderen treibt es frühmorgens zu Aktivitäten wie sonntäglichen Ausflügen. Die Mutter will, dass das Kind ins Bett geht, das Kind will aber noch spielen. Das Unternehmen führt eine Umstrukturierung durch, die den Mitarbeitern gar nicht gefällt. In den unterschiedlichsten Situationen stehen wir vor der Frage: Passe ich mich an oder setze ich mich durch?

Damit ich für mich eintreten, meine Interessen behaupten und ein selbstbestimmtes Leben führen kann, benötige ich außer eigenen Zielen auch eine gewisse Durchsetzungskraft. Ich benötige eine gewisse Kampfbereitschaft, die im ersten Schritt voraussetzt, dass ich überhaupt weiß, was ich will. Denn während es bei der Bindung immer um die Frage geht „Was haben wir gemeinsam?“, geht es bei der Autonomie um die Frage „Was unterscheidet uns?“ Es geht also um meine individuellen Bedürfnisse und Ziele, die mich von einem anderen Menschen oder der Gemeinschaft trennen.

Nun hat uns die Natur zwar viele Gefühle mitgegeben, damit wir uns an andere Menschen binden, für die Durchsetzung unserer autonomen Interessen aber, hat sie nur ein Gefühl reserviert: die Aggression. Ohne ein gewisses Maß an gesunder Aggression bin ich nicht in der Lage, für mich einzutreten. Aggression und Wut aber haben gesellschaftlich betrachtet keinen guten Ruf, weil Wut Menschen – zumindest vorübergehend – voneinander trennt. Denn niemand bekommt gern die Wut eines anderen zu spüren. Psychologisch betrachtet ist Wut jedoch ein unbedingt notwendiges Gefühl. Es ermöglicht uns, unsere Grenzen und Interessen zu schützen. Wer einen guten Umgang mit seiner Wut erlernt hat, ist vital und durchsetzungsfähig. Wut verleiht uns Stärke und Lebendigkeit.

„Kein Mensch fasst willentlich den Entschluss, sich zu ärgern; niemand denkt: ,Jetzt will ich wütend werden.‘ Ebenso wenig plant die Wut ihr Entstehen“, sagt der Dalai Lama und macht damit deutlich, dass die Wut eben kommt, wenn sie empfunden werden will. Das gleiche gilt für die allermeisten anderen, von uns als weniger angenehmen Gefühle wie Angst, Trauer, Scham oder Schuldgefühle. Sie alle erinnern uns daran, dass das Leben kostbar ist, denn ein JA zu unseren Emotionen ist schließlich auch ein JA zum Leben.

Als ich das zu Sandra sage, erzählt sie mir von ihrer Wut, die sie verspürt hatte, als sie ihren letzten Urlaub mit Mann und Hund bei Kälte und Dauerregen an der Ostsee verbracht hat. Natürlich hätte sie damals ihre Aggressionen für sich behalten, da sie ein harmoniebedürftiger Mensch sei und mit ihrem Kontrollzwang schließlich schon genug Schwierigkeiten in die Beziehung brächte. Ich denke "Oh, nein." und führe aus, dass Aggressionen eben nicht nur eine zerstörerische, verletzende Seite haben, sondern auch als Energie eingesetzt werden können, um Probleme zu lösen oder eben, um seine Träume zu verwirklichen und sich regelmäßig mal etwas Gutes zu gönnen. Ohne ein JA zu unseren Emotionen, könnten wir nicht auch mal unser eigenes Ding machen – im Vertrauen darauf, dass unsere Wünsche beim nächsten Mal wieder mit unserer Umwelt konform gehen werden.

Stefanie Stahl schreibt über Gesundheit & Soziales, Job & Karriere

Stefanie Stahl ist Deutschlands bekannteste Psychotherapeutin. Ihr Ratgeber „Das Kind in dir muss Heimat finden“ steht seit 2016 auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste. Stahl ist eine gefragte Keynote Speakerin. Sie gilt als DIE Expertin, wenn es um Liebe, Bindungsangst und Selbstwertgefühl geht.

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