Zahlendemie: Wie messen, zählen und bewerten unser Leben beeinflusst
Der Begriff „klimaneutral“ klingt sehr lasch, nicht heiß und nicht kalt – eben neutral. Der Chemiker und Verfahrenstechniker Michael Braungart, der das Cradle to Cradle-Prinzip entwickelte, sagte einmal: „Menschen sind ja nicht gerne neutral oder negativ – wir wollen doch positiv werden.“ Dieser Haltung sollten wir nicht neutral gegenüberstehen. Durch unser Handeln können wir einen positiven Beitrag dazu leisten, unsere Lebensgrundlagen zu sichern oder zu verbessern. Wir können in der Lage sein, „biologische Systeme wieder aufzubauen, Produkte zu designen, die in der Herstellung und Nutzung gesund sind und deren Bestandteile in ewigen Materialkreisläufen zirkulieren können und somit niemals zu wertlosem Müll werden. Nützlinge, die damit für eine wachsende Weltbevölkerung soziale und wirtschaftliche Mehrwerte schaffen. Doch das gelingt nur, wenn wir uns positive Ziele setzen, Ressourcen- und Klimaschutz zusammendenken und ganzheitliche Lösungen für die komplexen und zusammenhängenden Probleme unserer Zeit finden“, schreiben Nora Sophie Griefahn und Tim Janßen in ihrem Vorwort zum Buch „Klimaneutralität in der Industrie“. Das Umdenken, von dem sie sprechen, ist Kern der Cradle to Cradle-Denkschule und es wird, zumindest teilweise, bereits in politischen Beschlüssen der Europäischen Union sichtbar (z. B. dem Green Deal). Die Märkte der Zukunft gehören Unternehmen, die klimaneutral bzw. besser noch klimapositiv wirtschaften.
Zahlen schaffen Transparenz, Verlässlichkeit und Beweise. Zumindest denken das viele. Doch Michael Braungart sagt: „Träume, was du willst, um die Zahlen kümmere dich später." Wer sich nur an Zahlen orientiert, schränkt sein Sichtfeld ein und richtet seinen Blick nicht mehr auf die Möglichkeiten und Chancen, sondern nur auf „den Acker der Realitäten vor seinen Füßen, den er umzupflügen hat". Dadurch wird auch das eigene Handeln auf ein Ziel hin eingeschränkt. Inzwischen haben sich Zahlen in immer mehr Bereiche unseres Lebens eingeschlichen. Sie beeinflussen unser Verhalten, unsere Entscheidungen, unser Denken und Fühlen. Wir zählen fast alles: Kalorien, Schritte, Likes, Freunde. In politischen Debatten „gewinnt“ meistens derjenige, der die entscheidende Zahl einwirft. Aber stimmt das? Die Wirtschaftsprofessoren Micael Dahlen und Helge Thorbjørnsen zeigen in ihrem Buch „Mehr. Zahlen. Jeden. Tag.“, wie berechenbar wir geworden sind, und wie uns die Zahlen durch die Geschichte folgen (Buchführung, Kultur, Religion, Sprache, Zeitrechnung und Zivilisation).
In ihrem Vorwort behaupten sie, dass wir auf dem besten Weg seien, zu „Zahlenkapitalisten“ zu werden, was die Anzahl der Likes und Follower, Herzschläge und Schritte, Bonuspunkte und Restaurant-Rankings angeht. Micael Dahlen ist ein schwedischer Autor, Redner und Professor an der Stockholm School of Economics. Helge Thorbjørnsen ist Autor und Professor für Marketing an der Norwegian School of Commerce. Er erforscht seit vielen Jahren, wie Menschen Entscheidungen treffen, wovon wir beeinflusst werden und was uns glücklich macht. In ihrem Buch geht es ihnen nicht darum, dass keine Zahlen mehr verwendet werden sollen. Sie lieben Zahlen, sonst hätten sie Wirtschaftswissenschaftler nie so lange überlebt. Vielmehr geht es ihnen darum zu zeigen, dass es sich um eine Entwicklung „epidemischen“ Ausmaßes handelt. Sie glauben, dass es uns allen besser ginge, wenn wir gegen die Zahlendemie geimpft wären, damit wir uns bewusst dafür entscheiden können, wie wir mit ihnen umgehen wollen. Diese Publikation bereichert damit auch die anhaltende Debatte um das Thema Bauchgefühl und Rationalität. Zahlen können uns körperlich beeinflussen und uns sowohl stärker als auch schwächer, jünger und älter machen können und uns dazu bringen, uns in unterschiedliche Richtungen zu bewegen. Sie können schaden und helfen, weil sie instinktive, tierische Reaktionen mit Dingen verknüpfen, die eigentlich nie dafür gedacht waren, mit ihnen verbunden zu werden.
Zahlen können verzerren und verführen, spalten und herrschen.
Messen und Zählen kann unsere Motivation dämpfen und zu Selbstbetrug führen.
Sie führen dazu, sich mit anderen zu vergleichen. Das kann auch zu vorschneller Beurteilung führen.
Zahlen können das eigene Selbstbild schädigen (niedrige können das Selbstvertrauen schwächen, die hohen lassen Menschen selbstbezogen und narzisstisch werden)
Zahlen wirken sich (unbemerkt) auf unsere Identität aus (z.B. setzen viele Likes Dopamin frei, die das Selbstbild stärken).
Zahlen mindern auch unser Glücksempfinden. Sie rauben den Erlebnissen den Reiz und das Einzigartige und bringen uns dazu zu denken, alles sei genau und vergleichbar.
Sie können dazu beitragen, dass unser Vertrauen in die Menschen um uns herum sinken, und sie können unsere Empathie füreinander verringern.
Zahlen und Geld können Menschen berechnender, egoistischer und selbstbezogener machen.
Zahlen (besonders in Social Media) können süchtig machen.
Sie beeinflussen uns, können uns täuschen und tragen sie zur Verfestigung unserer (von ihnen dennoch beeinflussten) Sicht auf die Wahrheit bei.
Zahlen werden oft so gelesen, dass sie die eigenen Sichtweisen bestätigen.
Zahlen vermitteln ein Gefühl für Veränderungen und Unterschiede, die wir sonst nicht wahrnehmen würden. Sie können aus Situationen retten, in der Unsicherheit und Vorurteile herrschen. Zahlen sind ein vereinfachendes Hilfsmittel, um sich der Realität anzunähern, aber nicht, um sie abzubilden.
Es sollte sich Zeit zum Nachdenken genommen werden, wenn man instinktiv auf Zahlen reagiert.
Jeder sollte selbst über seine Zahlen bestimmen können.
Es sollte sorgfältiger darauf geachtet werden, mit welchen Zahlen jede/r im Alltag umgeht.
Zahlen sollten nicht bestimmen, wer man ist.
Es sollte vorher gut überlegt werden, bevor Zahlen gegen Geld getauscht werden.
Sind die Zahlen der eigenen Social-Media-Kanäle wichtiger geworden als die Inhalte, sollten die Apps gelöscht werden.
Es sollte auf den Ankereffekt geachtet werden: Zahlen, die sich in unserem Kopf festgesetzt haben und unsere Entscheidungen beeinflussen, können sich für andere negativ auswirken.
Der ehemalige Adidas-Chef Herbert Hainer, sagte in seinem Abschiedsinterview in der Süddeutschen Zeitung (1./2./3.10.2016): „Erfolg ist mehr als nur Kennzahlen und schiere Größe.“ Viele deutsche Unternehmen und Organisationen gaben sich in den vergangenen Jahren fortschrittlich und innovativ, indem sie Labs gründen, ihre Führungskräfte und Mitarbeitenden ins Silicon Valley schicken oder die Eliteuniversität Stanford besuchten. Zu einer verheißungsvollen Zukunft gehört auch die „Vermessung des Fußballs“: Leistungen von Spielern, Trainern, Scouts und Schiedsrichtern sollen gemessen, ausgewertet und vor allem verbessert werden. In TechLabs geht es um das Finden neuer Algorithmen und Auswertungsfaktoren. Es geht um Sichtbarkeit, die Analyse und die Weiterverarbeitung von Daten in Echtzeit. Algorithmische Formeln können allerdings nur Muster deuten, sie arbeiten schematisch. Von der Liebe zum Fußballspiel, das auch von Zufällen und Überraschungen lebt, wird kaum gesprochen. Die Aussagen über den modernen Fußball erinnern an Google Maps, wo eine bis ins Letzte vermessene Welt präsentiert wird.
Gewiss wird der Stellenwert von Wissen in Unternehmen und Organisationen künftig immer wichtiger: Wissenschaftler gehen davon aus, dass mehr als die Hälfte allen Wissens hier verpufft, wenn es nicht systematisch erfasst und organisiert wird. Das gilt auch für das Nachhaltigkeits- und Klimamanagement, wo es vor allem ums Messen, Bewerten und Ressourcen sparen geht. Es werden Nachhaltigkeitskennzahlen wie Wasserverbrauch, Lösungsmittelintensität, Energieverbrauch oder CO2-Emissionen benötigt, um nachhaltige Entscheidungen treffen zu können. Dennoch: Wer Klimaneutralität und Nachhaltigkeit nur mit der Zahlenbrille sieht, wird es nicht „erfühlen“ und auf lebendige Weise vermitteln können. Der Satz von Michael Braungart, sich später um die Zahlen zu kümmern, meint genau das: Zuerst geht es darum, ein Thema zu unserer Sache zu machen, zu träumen, aufzubrechen und eine positive Haltung einzunehmen.
Dazu gehört auch die deutsche Kinder- und Jugendbuchautorin Cornelia Funke. Sie beschränkt sich nicht auf das, was unsere Augen sehen, sondern auch auf das, was in uns ist und uns Menschen ausmacht: Kreativität, Gefühl und Phantasie. Wenn uns diese Gaben und Fähigkeiten durch die Vermessung der Welt verlorengehen, werden wir uns auch keine andere Realität vorstellen und die Welt nicht nachhaltig verändern können. Vor diesem Hintergrund ist auch der Satz von Micael Dahlen und Helge Thorbjørnsen zu verstehen: „Müssen wir wirklich alles um uns herum messen und quantifizieren, oder ist es an der Zeit, die Welt wieder ein wenig mystischer, unantastbarer und subjektiver zu gestalten?“
Micael Dahlen, Helge Thorbjørnsen: Mehr. Zahlen. Jeden. Tag. Warum wir alles messen, zählen und bewerten und wie das unser Leben beeinflusst. Aus dem Schwedischen von Anja Lerz. Kösel- Verlag, München 2023.
Zum Umgang mit der Klimakrise: Nicht missionieren, sondern informieren
Genauigkeit braucht Seele: Warum der gesunde Menschenverstand heute unverzichtbar ist
Bauchgefühl im Management. Die Rolle der Intuition in Wirtschaft, Gesellschaft und Sport. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. SpringerGabler Verlag 2021.
Nora Sophie Griefahn und Tim Janßen: Klimaneutral – und dann? In: Klimaneutralität in der Industrie. Aktuelle Entwicklungen – Praxisberichte – Handlungsempfehlungen. Hg. von Ulrike Böhm, Alexandra Hildebrandt, Stefanie Kästle. Springer Gabler Verlag, Heidelberg, Berlin 2023.