Fachkräftemangel führt zu Stillstand – nicht nur auf Baustellen | © Getty Images

Zehn Monate warten auf den neuen Kollegen: Wie der Fachkräftemangel unseren Alltag bremst

Es dauert immer länger, bis offene Stellen besetzt sind. Was Unternehmen tun können, um begehrte Talente an sich zu binden.

Wir alle freuen uns über ein schönes Zuhause, in dem wir uns wohlfühlen, gern mit einem schönen Bad und Fenstern, die viel Licht hereinlassen. Wir mögen unser Auto und unsere zahlreichen Elektrogeräte von Computer bis Spülmaschine. Und wir setzen darauf, dass sich jemand um uns kümmert, wenn wir mal älter sind. All das halten wir für selbstverständlich. Sollten wir aber nicht. Denn es ist wahrscheinlich, dass künftig noch mehr Fachkräfte fehlen, die diese Jobs machen.

Es dauert schon heute immer länger, bis offene Stellen besetzt sind. Die aktuelle Statistik zu Vakanzzeiten – also die Dauer von dem Zeitpunkt, zu dem eine gewünschte Stellenbesetzung erfolgen sollte, bis zu ihrer tatsächlichen Abmeldung bei der Arbeitsvermittlung – gibt darüber Aufschluss. Die Berufe mit den aktuell höchsten Vakanzzeiten sind:

  • Aus- und Trockenbau (302 Tage)

  • Altenpflege (288)

  • Bodenverlegung (279)

  • Glasherstellung und -verarbeitung (278)

  • Metallerzeugung (271)

  • Metallbau und Schweißtechnik (262)

  • Sanitär, Heizung und Klima (257)

Das ist aber nur die Spitze des Eisbergs. Quer über alle Branchen hinweg liegt die Vakanzzeit bei rund 150 Tagen.

Mit anderen Worten: Es dauert im Regelfall fünf und im Extremfall bis zu zehn Monate, bis eine ausgeschriebene Stelle neu besetzt ist. Der Fachkräftemangel findet überall um uns herum statt. Und er spitzt sich täglich zu. Daran ändern auch die derzeitige Rezession und die gestiegenen Arbeitslosenzahlen nichts – obwohl Pläne für Personalabbau in größerem Stil, beispielsweise bei einem großen deutschen Autohersteller, gerade medial sehr präsent sind.

Der demografische Wandel ist ein riesiger Teil des Problems. Bis 2035 werden rund 1000 Beschäftigte pro Werktag altersbedingt den Arbeitsmarkt verlassen. Diese Lücke werden wir in absehbarer Zeit nicht füllen können, es sei denn durch Einwanderung.

Müssen wir Arbeit anders verteilen?

Es ist verlockend, hier die Politik in die Verantwortung zu nehmen, und natürlich hat sie zahlreiche Möglichkeiten zur Justierung von Stellschrauben. Mit der sogenannten Aufschubprämie als zentralem Element wird aktuell ein Maßnahmenpaket auf den Weg gebracht, das bürokratische Hürden abbaut und Menschen dazu bewegen soll, später in Rente zu gehen.

Und tatsächlich: Die vor einigen Monaten von uns durchgeführte Diversity-Studie zeigt: Mehr als die Hälfte der Beschäftigten über 50 kann und will über das Rentenalter hinaus arbeiten. Hier schlummert ein bislang nur unzureichend genutztes Potenzial. In meinem vorherigen Insider-Beitrag ging es darum, wie ich persönlich das Thema bewerte (Spoiler: Ohne die Älteren geht es nicht!).

Gleichzeitig sehen wir, dass rund die Hälfte der Beschäftigten in Deutschland (49 Prozent) gern weniger arbeiten und ein Drittel für mehr Urlaub auch Gehaltseinbußen hinnehmen würde – und das, obwohl sie die Auswirkungen der unbesetzten Stellen schon heute in ihrem Alltag spüren, beispielsweise durch erhöhte Arbeitsbelastung. Das geht aus dem XING Arbeitsmarktreport 2024 hervor, aus dem wir kürzlich erste Ergebnisse veröffentlicht haben.

Interessanterweise sehen die jüngeren Generationen sehr viel klarer als die Älteren, dass Mehrarbeit ein Gegenmittel zu einem drohenden Wohlstandsverlust sein kann – sie sind jedoch deutlich weniger bereit als die Älteren, sie zu leisten. Willkommen beim gordischen Knoten der Arbeitswelt. Die gute Nachricht: 9 Prozent der Befragten würden gern mehr arbeiten. Was sich erst einmal nicht viel anhört, addiert sich bei zurzeit rund 46 Mio. Beschäftigten dann doch auf ein rundes Sümmchen, wenn man die richtigen Bedingungen dafür schaffen würde.

Viele Denker, (zu) wenig Macher

„Handwerk hat goldenen Boden“, heißt es immer. Nur machen will es kaum noch jemand. Seit dem Jahr 2007 hat sich die Zahl der angebotenen Studiengänge fast verdoppelt und liegt jetzt bei über 20.300 für rund 2,9 Mio. Studierende (Quelle: Destatis 2024), die sich übrigens am liebsten für BWL einschreiben. Die gute Nachricht: Informatik liegt auf Platz 2 – das macht Hoffnung in Sachen Digitalisierung, einem Bereich, in dem Deutschland erwiesenermaßen hinterherhinkt.

Dem gegenüber stehen (Stand 2023) rund 1,2 Mio. Auszubildende. Obwohl das noch nicht einmal die Hälfte der Studierenden ist, ist die Zahl das erste Mal seit Corona wieder leicht gestiegen, nachdem sie lange Jahre rückläufig war. Und ich frage mich: Warum scheint es einen gesellschaftlichen Konsens zu geben, dass Ausbildungsberufe die schlechtere Wahl sind? Wie funktioniert eine Gesellschaft, in der eine Mehrheit lieber einen Schreibtischjob macht, statt mit den Händen zu arbeiten?

Wenn es keine Trockenbauer gibt, stehen unsere Schreibtische irgendwann im Freien.
Petra von Strombeck, CEO, New Work SE

Nun sitze ich als CEO eines Unternehmens, dessen Geschäftsmodell aus Büroarbeit besteht, bei diesem Thema natürlich im Glashaus und werfe munter mit Steinen. Trotzdem müssen wir diese Entwicklung in wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht im Auge behalten. Denn wenn es keine Trockenbauer gibt, stehen unsere Schreibtische irgendwann im Freien.

Keine Lösung funktioniert für alle, aber viele Lösungen funktionieren für viele

Viele der Maßnahmen, mit denen Unternehmen versuchen, Fachkräfte an sich zu binden, fokussieren sich allerdings auf die Bürowelt. Hunde zum Job mitnehmen ist super, funktioniert aber nicht, wenn man auf der Baustelle arbeitet. Remotearbeit als KrankenpflegerIn? Fehlanzeige. Das heißt jedoch nicht, dass Unternehmen keine Hebel haben, um die Problematik zumindest für sich selbst zu entschärfen.

Dazu gehört die Modernisierung von Recruitingprozessen, um qualifizierte Talente gezielt anzusprechen. Die meisten Kandidaten sind zu Recht genervt, wenn Bewerbungsprozesse zu lange dauern und sie keine Rückmeldung bekommen. Viele Recruiter sind gestresst, weil nicht nur der Druck wächst, sondern auch der administrative Aufwand. KI-gestützte Automatisierungslösungen verhelfen hier zu mehr Schnelligkeit und erlauben HR-Verantwortlichen, sich wieder auf ihre Kernaufgaben zu konzentrieren.

Viele Recruiter sind gestresst, weil nicht nur der Druck wächst, sondern auch der administrative Aufwand.
Petra von Strombeck, CEO, New Work SE

Aber auch die Angebote für potenzielle und existierende Mitarbeitende müssen stimmen: Flexibilität bei Arbeitszeitmodellen und Arbeitsplatzwahl, also Optionen wie Teilzeit, Jahresarbeitszeit oder die Möglichkeit für Remote Work, können den Unterschied machen, ob sich ein Bewerber für ein Unternehmen entscheidet.

Zudem ist es wichtig, eine positive Unternehmenskultur zu fördern, die Entwicklungsmöglichkeiten bietet. Durch Investitionen in Weiterbildung und Umschulung können Unternehmen interne Potenziale besser nutzen und stille Reserven mobilisieren. Gerade in Branchen, in denen tariflich gezahlt wird, kann auch die Etablierung von attraktiveren Arbeitsbedingungen dazu beitragen, bestimmte Berufsfelder wieder mehr in den Fokus zu rücken.

Letztendlich liegt es aber an jedem Unternehmen, über den eigenen Tellerrand zu schauen und kreativ zu werden. Mitarbeitende werben Mitarbeitende? Viele Unternehmen zahlen dafür inzwischen eine Prämie, die dann allerdings wieder versteuert werden muss. Warum nicht mal anbieten, dass für jedes Teammitglied, das man erfolgreich anwirbt, die eigene Arbeitszeit reduziert wird?

Es gibt jetzt schon viele großartige Ideen zur Mitarbeiter-Retention, aber ich glaube, wir müssen versuchen, noch viel mehr auf individuelle Bedürfnisse einzugehen. In einem Arbeitsmarkt, in dem es mittelfristig schlicht und einfach zu wenige Menschen für die anfallenden Aufgaben gibt, können wir keine herbeizaubern. Aber wir können dafür sorgen, dass die, die bei uns sind, auch gern bei uns bleiben.

Wie erleben Sie das Thema Fachkräftemangel? Welche Lösungsansätze haben Sie? Ich freue mich auf den Austausch mit Ihnen!

Petra von Strombeck schreibt über Führungskultur + NEW WORK

Petra von Strombeck leitet als Vorstandsvorsitzende das börsennotierte Unternehmen NEW WORK SE mit 1.400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Sie liebt es, Teams und Menschen zu entwickeln. Sie berichtet als Insiderin über Ihre Erfahrungen als CEO in einer sich stetig wandelnden Branche.

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