Dr. Alexandra Hildebrandt

Zeitenwende: Warum wir uns an das Recht auf ein gutes Leben erinnern sollten

„Lebe so wie du denkst. Sonst wirst du irgendwann so denken, wie du lebst.“ (José Mujica)

Was macht mein Leben lebenswert? Was ist ein gelungenes Leben? Aristoteles (384-322 v. Chr.) behauptete, dass es einer Haltung zugrunde liegt: Glücklich ist, wer ein Mittelmaß findet: „Von den Extremen ist das eine schlimmer, als das andere.“ Bereits vor als 400 Jahren vor Christus begann Sokrates damit, Fragen nach dem guten Leben zu stellen. Für die antiken Griechen hatten sie einen so hohen Stellenwert, dass sie eine eigene Disziplin daraus gemacht haben: Die Teleologie ist die Lehre vom höchsten Ziel oder Gut. Der griechische Philosoph Platon stellte sie im vierten Jahrhundert v.Chr. in den Mittelpunkt seines Denkens und glaubte daran, dass es das „Streben nach dem Guten“ sei, was den Menschen zum Handeln antreibt.

Das Streben des Einzelnen nach dem „Bestmöglichen“ stellte einen wichtigen Beitrag für die Gemeinschaft dar und trug zu einer übergeordneten Vorstellung eines guten (sinnhaft und erfüllenden) Lebens bei. Wohlstandsberichte sind vor diesem Hintergrund nicht nur Zahlenwerk, sondern auch ein Weckruf, uns alle Jahre wieder an das Recht auf ein gutes Leben zu erinnern. Damit verbunden sind Selbstbestimmung, soziale Anerkennung und Wertschätzung durch andere. Als Grundhaltung und Werkzeug verschafft Empowerment („Ermächtigung, Bevollmächtigung, Übertragung von Verantwortung“) Zugang zu unseren ungenutzten psychologischen Fähigkeiten und Handlungsweisen, die allerdings aktiviert werden müssen, um ihre Bedingungen zu verbessern und zu erweitern. Mit ihrer Hilfe ist das gute Leben realisierbar.

Empowerment wird durch „Anstöße“ realisiert, die vor allem in aufbauender und gegenseitig anerkennender Ermutigung bestehen sowie auf Dialog und Handeln auf gleicher Augenhöhe. Diese Anstöße erfordern Übung und befördern Selbstwahrnehmung, Selbstkompetenz sowie Selbstbestimmung, die auf der Werteskala der jungen Generation heute weit oben steht, während Macht und Status nur einen geringen Zuspruch erfahren.

Wer über sein Handeln selbstbestimmt entscheiden kann, empfindet weniger Stress und ist nachweislich gesünder.

Arbeit und Leben gehen dabei immer mehr ineinander über. Beides soll Sinn machen, aber das ist nur möglich, wenn es nicht getrennt stattfindet – so wie es Heinrich Böll (1917–1985) in seiner Geschichte vom klugen Fischer und dem erfolgreichen Unternehmer 1963 in seiner „Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“ erzählt: In einer Hafenstadt liegt ein Fischer in seinem Boot und schläft. Ein geschäftiger Tourist steht plötzlich vor ihm an der Hafenkante und fotografiert die idyllische Szene: „Sie werden heute einen guten Fang machen“, sagt er und weckt den Fischer auf und spricht über scheinbar unbegrenzte, wirtschaftliche Wachstumsmöglichkeiten, die der Fischer hätte, wenn er heute noch ein weiteres Mal ausfahren würde.

Schließlich kann er damit seinen Fang verdoppeln oder sogar verdreifachen, argumentiert der Unternehmer, der keine Ruhe kennt und immer aktiv sein muss. Der Fischer nickt, versteht allerdings nicht den Sinn dahinter. Darauf der Unternehmer: „Sie würden sich spätestens in einem Jahr einen Motor kaufen können, in zwei Jahren ein zweites Boot, in drei oder vier Jahren vielleicht einen kleinen Kutter haben, mit zwei Booten und dem Kutter würden sie natürlich viel mehr fangen.“ Der Fischer könne ein Kühlhaus bauen, vielleicht eine Räucherei, später eine Marinadenfabrik, mit einem eigenen Hubschrauber fliegen, die Fischschwärme ausmachen „und ihren Kuttern per Funk Anweisungen geben“. Den Fischer lässt das alles unbeeindruckt – und er fragt: „Was dann?“ - „Dann“, sagt der Urlauber begeistert, „dann könnten Sie beruhigt hier im Hafen sitzen, in der Sonne dösen – und auf das herrliche Meer blicken.“ - „Aber genau das tue er doch längst, antwortet der Fischer völlig unbeeindruckt und fügt hinzu: „nur Ihr Klicken hat mich dabei gestört.“ Er ist die Ruhe selbst und entnimmt der Natur nur das, was er zum Leben benötigt und was auch wieder neu entsteht. Nach getaner Arbeit legt er sich zufrieden in sein kleines Boot und döst er in der Sonne.

Das erinnert auch an den antiken Philosophen Diogenes, von dem berichtet wird, dass er in einer Tonne lebte: An einem sonnigen Tag kam Alexander der Große vorbei und fragte, welchen Wunsch er ihm erfüllen könne. „Geh mir aus der Sonne!“, sagte der Philosoph, der für sein Glück keine Reichtümer, sondern nur das Licht des Augenblicks brauchte. Nichts zu tun und nur zu sein hatte für ihn nicht mit Zeitverschwendung zu tun, sondern mit Lebensgewinn. Diese Einstellung ist vielen Menschen heute fremd – sie müssen immer etwas tun. Sonst scheint ihnen die Zeit ungenutzt und vergeudet.

Das, was viele Menschen davon abhält, das Glück zu erkennen, ist häufig die Jagd nach Anerkennung, mehr Umsatz, mehr Gewinn, mehr Erfolg. Dabei wachsen auch Angst, Aggressivität, Ungleichheit, Unlust an der Politik, Schulden und die Umweltbelastungen. All das hat seinen Preis. Unendliches Wachstum in einer begrenzten Welt kann es auch mit den besten Technologien nicht geben. Nicht ob, sondern wie die Wirtschaft wächst, ist die entscheidende Frage einer Green Economy 2.0, die Gerechtigkeitsfragen, nachhaltiges Wirtschaften und inneres menschliches Wachstum miteinander verbindet.

Die Sehnsucht nach mehr Gemeinsinn, nach Halt, nach einem maßvollen Leben, einer Gesellschaft im Gleichgewicht, nach Natur, nach Sinn, nach Solidarität und nach Verantwortung ist mit einem Universum von Möglichkeiten verbunden.

Niemand kann die Großwetterlage verändern, aber das Klima an dem Ort, wo er gerade ist. Hier kann jeder sein Glück machen.

Weiterführende Informationen:

Alberto Acosta: Buen Vivir. Vom Recht auf ein gutes Leben. oekom verlag München 2015.

Meinrad Armbruster: Selbermachen! Mit Empowerment aus der Krise. Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2015.

Heinrich Böll / Émilie Bravo: Der kluge Fischer. Bilderbuch. Carl Hanser Verlag. München 2014.

Klimawandel in der Wirtschaft. Warum wir ein Bewusstsein für Dringlichkeit brauchen. SpringerGabler Verlag, Heidelberg, Berlin 2020

Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Inspirationen und Impulse für Unternehmer. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2018.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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