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Zettelwirtschaft: Ausrisse aus dem Alltag der Welt

Twitter in analog: Zettel und ihre Geschichten

Wir brauchen, um die heutige Welt begreifen und verstehen zu können, das Fassbare und die Rückbesinnung auf die Resonanzqualitäten der Dinge. Es sind vor allem die kleinen Dinge und Details, die uns wie ein letzter wertvoller Rest erscheinen, der eine Gegenmacht zur Digitalisierung und Rationalisierung der Gesellschaft darstellt. Zettel sind ein Ausdruck unserer Welt und Gesellschaft: Sie sind Gedächtnisstützen, Liebesbeweise, Ordnungsanker oder einfach nur Lebensbegleiter - flüchtig wie ein Blatt im Wind. An ihnen lässt sich ablesen, was unser Leben heute ausmacht, wer wir sind und was wir wollen.

Viele Menschen fragen sich heute, ob der Verlust ihrer Merkfähigkeit mit dem Älterwerden zu tun hat oder mit dem blinden Vertrauen in neue Technologien, die etliche „alltägliche Leistungen des Merkens, zugleich aber die tägliche Übung der Merkfähigkeit abnehmen" (Karl-Markus Gauß). Auch wenn das Internet eine nie versiegende Quelle für schnelle Antworten ist, bleibt das Wissen an der Oberfläche, wenn es sich nicht mit Selbstdenken und Entnetzung verbindet. Begreifen ist nur durch begreifbare Dinge zu haben, deren Funktion sichtbar und gedanklich nachvollziehbar ist.

Es sind vor allem zweifelnde Menschen mit einem scharfen Verstand, die ihren Geist nicht stumpf werden lassen wollen durch neue Technologien, die nur auf Effizienz setzen. Richtiges Denken und Schreiben brauchen Struktur und Präzision. Deshalb ist der Zettel für viele Menschen auch im Digitalisierungszeitalter unverzichtbar und ein Zeichen nachhaltiger Restkultur, die sich allerorten findet. So machte ein Reddit-User während eines Besuchs bei seinem Cousin eine erstaunliche Entdeckung im Badezimmer (die er gleich abfotografierte): Sein Cousin erhält von seiner Freundin die originellsten Liebesbekundungen per Post. Winzige Klebezettel zieren auch die Glasfenster zweier Bürohäuser im Zentrum von Budapest. Auf ihnen zu sehen sind u.a. Fische mit Sprechblasen, Bierkrüge oder Meerjungfrauen, die ein „Mosaik" der Gesellschaft sind.

Die Macht der Zettel offenbarte sich auch im Oktober 2014, als Studenten eine Woche die Straßen im Herzen von Hongkong besetzten. Bei der Protestaktion der Pro-Demokratie-Bewegung war jede freie Fläche mit bunten Post-its übersät, auf denen die Menschen „ihre Gedanken und Wünsche niedergeschrieben haben".

Im manager magazin stand vor einigen Jahren ein vergilbter und unscheinbarer, 10,5 Mal sieben Zentimeter großer Zettel im Mittelpunkt, der aus den 1970-er Jahren von einer Führungskraft bei Philips stammt. Der Zettel beinhaltete lediglich ein paar einfache Regeln zum Mitarbeiterdialog (damals wurde noch nicht von Meetings gesprochen). Als er auf der Facebook und Twitter gezeigt wurde, gab es begeisterte Reaktionen: „... vielleicht würde der unbekannte Autor des Zettels heute noch eine knappe Regel zum Thema Smartphones hinzufügen. Sonst aber ist mit den sechs Regeln eigentlich noch immer alles gesagt, was man für ein effektives Treffen braucht."

Der Wunsch nach Ordnung in unübersichtlichen Zeiten wird in diesem Beitrag besonders deutlich. Der Begriff „Ordnung“ ist über die Architektur ins moderne Denken gekommen, wo es ursprünglich für ein Ganzes stand: Alle Teile passten zueinander, so dass keines ersetzt werden konnte, ohne die Harmonie zu zerstören. Für die Nachhaltigkeitsexpertin Claudia Silber, die beim Ökoversender memo AG die Unternehmenskommunikation leitet, fühlt sich Ordnung erleichternd, geerdet und bodenständig an. Das hat für sie auch mit Minimalismus (auch ein Kriterium des Notizzettels) zu tun: „Dabei geht es dann auch wieder um das Thema Konzentration, die uns den Blick auf das Wesentliche richten lässt. Die Konzentration auf die wesentlichen Dinge (und Menschen) im Leben machen uns glücklich, und wir fühlen uns ‚sortiert', gut aufgehoben", sagt sie.

Für Frauke Lüpke-Narberhaus sind die alten Zettel echte Schätze, weil sie erzählen, „wie Deutschland lebt, liebt, flucht, fühlt - sie sind Twitter in analog". Auf ihnen suchen Menschen nach dem verlorenen Schlüsselbund, nach verlorenen Tieren oder der großen Liebe. In ihrem aktuellen Buch „Herz verloren - Hund gefunden. Zettel und ihre Geschichten" erzählt die Hamburger Journalistin die Geschichten hinter Zetteln: „Wer genau hinschaut und nachfragt, erfährt Geschichten über uns, unsere Nachbarn und die vielen fremden Menschen, denen wir täglich auf der Straße begegnen."

Für ihr Buch hat die Autorin Dutzende Zettel gesammelt, die sie über das ganze Land verteilt gefunden hat: Wer hat sie geschrieben und warum? Was sollen sie bewirken? Was sagen sie über unsere Werte, unseren Alltag und unsere Gesellschaft aus? Sie beinhalten Alltagsweisheiten, Ideen, Beobachtungen, drücken Protest aus oder klare Anweisungen, Verzweiflung, Sehnsucht oder dienen einfach nur als Medium gegen das Vergessen - ein von allen geteiltes Gedächtnis. Die Autorin ließ sich von Experten berichten, wie Zettel eine Stadt verändern, die über sie kommuniziert - und wofür es Papier braucht, wenn es doch das Internet gibt. Sie beschloss, einen Blog darüber zu machen: "Zettelgold" . Hier werden diese Fundstücke geborgen und danach gefragt, was die Aushänge bewirkt haben.

Zettel: Ausrisse der Welt im Internet

Generell ist zu beobachten, dass Zettel heute ihren Weg auch immer mehr ins Internet finden: Wenn Menschen einen Zettel finden, fotografieren sie ihn und teilen ihn hier. Das Medium Zettel gehört wie das Notizbuch zu den Dingen, die einfach nicht aus unserem Leben verschwinden, obwohl es immer mehr von der Digitalisierung geprägt ist. „Zettel sind wie Ausrisse einer viel größeren Geschichte. Sehr oft erzählen diese Geschichten vom Suchen. Nicht immer auch vom Finden", schreibt der Journalist Thomas Hahn in der Süddeutschen Zeitung.

Das, was Zettel beinhalten, will weitergedacht werden. Kein Zettel sagt: „Ich bin unvollkommen". Es geht um die Dimensionen des Unzureichenden und das „Mach weiter". Entsprechend ist auch das Buch von Frauke Lüpke-Narberhaus zu lesen: Es öffnet die Augen für das, was wir sonst vielleicht übersehen und überlesen würden.

Von der Sehnsucht nach den guten alten Dingen, auf die Menschen auch im Digitalisierungszeitalter nicht verzichten möchten, profitiert auch die Wirtschaft: So boomt das Geschäft mit Schreibmaschinen, mit Stiften, Notizbüchern und Zetteln. So ist die Zettelbox als Werbemittel längst ein bekannter Klassiker und beliebtes Give-away. Viele Beispiele nachhaltiger „Zettelwirtschaft“ werden im Herausgeberband „CSR und Digitalisierung“ vorgestellt, in dem auch auf den Medientheoretikers Friedrich Kittler (1943-2011) verwiesen wird, der lebenslang nach den Regeln der Kunst und des Denkens suchte. Kultur wurde bei ihm zu einem großen Datenverarbeitungsapparat. Kittler sammelte eigene Zettel über Dinge, die zu Zettelstößen wurden. Typoskripte, die sich ihrer Form nach ähnelten, bewahrte er in einer Schublade auf, die er als „Zettelkasten“ bezeichnete. Er bewahrte ihn davor, sich nicht im Chaos der Welt zu verlieren.

Denken im Zettelkasten

Die großen Denker der Geschichte wie Descartes, Ernst Cassirer, Talcott Parsons oder Niklas Luhmann sammelten und ordneten ihre verstreuten Notizen. In den 1950-er Jahren baute der Soziologe, von dem man das vergleichende Denken in Alternativen und Möglichkeiten lernen kann, einen Zettelkasten auf, der zuerst eine reine Ansammlung von Exzerpten und Literaturhinweisen war, aber bald zu einem dynamischen nummerierten Katalog wurde.

Wer die Zettelwirtschaft liebt, liebt auch das Denken, das wir heute, wo alles immer schneller und unüberschaubarer wird, wieder neu lernen müssen. Dazu gehört es, Dinge in Beziehung zu setzen, sich von ihrem Arrangement überraschen zu lassen und neue Ideen zu finden. Auch ein Zettelkasten kann im Digitalisierungszeitalter ein hervorragendes Zweitgedächtnis sein.

Weiterführende Informationen:

CSR und Digitalisierung. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Landhäußer. Springer Gabler Verlag, Berlin und Heidelberg 2017.

Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Von Lebensdingen: Eine verantwortungsvolle Auswahl. Amazon Media EU S.à r.l. 2017.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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