Zu wenig Fachkräfte? Oder zu viele überflüssige Aufgaben? Anregung zum Löschen!
Wertlose Aufgaben und ungesunde Arbeit im Überfluss! Nutzen wir Arbeitszeit weise? Arbeit wird von uns erfunden, was können wir ausmisten, streichen und ersetzen? Was brauchen wir wirklich?
2018 schrieb ich hier auf XING über den Mythos Fachkräftemangel: „Sie entscheiden, ob Sie Fachkräftemangel haben wollen. Seit 1984 in den Medien. Da kann man wohl nichts machen“, und 2017 fragte ich: „Warum bekommen die meisten GUTEN Bewerber Absagen? Warum kooperieren nicht längst ALLE Betriebe?“ Solange den meisten guten Bewerberinnen und Bewerbern – im Sport wäre es Silber und Bronze – abgesagt wird, sind die Prozesse vielleicht veraltet?
Was sagen die Fakten 2024?
Seit 30 Jahren ist die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland kontinuierlich gestiegen. 2023 feierten wir sogar einen Rekord mit 45,9 Millionen erwerbstätigen Menschen. Ja, einen positiven Rekord! Ich nenne das Fachkräfte-Reichtum.
Zudem ist der Anteil Erwerbstätiger an der Gesamtbevölkerung in Deutschland sehr hoch im Vergleich zu anderen europäischen Ländern. Das bringt uns einen dreifachen Rekord:
1) eine sehr hohe Erwerbsquote – Platz fünf in Europa
2) eine der niedrigsten Arbeitslosenquoten – viertletzter Platz
3) 45,9 Millionen Erwerbstätige, absoluter Rekord in Deutschland
Warum wird darüber so wenig berichtet? Das sind richtig gute Nachrichten. Wir könnten das feiern. Stattdessen dominieren Schlagzeilen über den „Freizeitpark Deutschland“. Öffentlich wird meinungsstark posaunt, die Deutschen seien nicht mehr leistungsbereit und immer fauler. „Haben die Deutschen ihre berühmte Arbeitsmoral vergessen?“, fragt Bloomberg-Kolumnist Chris Bryant im April 2024. Er ergänzt: Eigentlich sei es ein „Tabuthema“, den Deutschen ihre Arbeitsbereitschaft abzusprechen. Fest gemacht wird die Kritik an immer kürzeren Arbeitszeiten.
Tatsächlich sinkt die durchschnittliche Arbeitszeit – doch „insgesamt werden in Deutschland mehr Stunden denn je gearbeitet“, stellt Arbeitsmarktexperte Bernd Fitzenberger, Direktor des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung klar.
Woher dieser Vorwurf der Faulheit? Er passt nicht zu den realen Zahlen. Die fünfthöchste Erwerbsquote in Europa ist möglich, weil in Deutschland besonders viele Frauen und Senioren arbeiten, und viele von ihnen arbeiten in Teilzeit. Die stark gestiegene Beschäftigung in beiden Gruppen führt also zu dem Effekt, dass durch die hohe Teilzeitquote pro Kopf gerechnet durchschnittlich kürzer gearbeitet wird. Doch die klassische Vollzeit liegt in Deutschland seit 50 Jahren unverändert (!) bei über 40 Stunden.
Hast du mitbekommen, dass 2023 beim Europäischen Patentamt so viele Anmeldungen eingegangen wie nie zuvor: 199.275. Das sind 2,9 Prozent mehr als 2022. Aus Deutschland kommen 24.966 Patente, 1,4 Prozent mehr (MEHR!) als 2022. Deutschland steht damit auf Platz zwei beim Europäischen Patentamt. Ist dir das bekannt? Vor allem im Kampf gegen Krebs ist Deutschland bei den Patentanmeldungen führend in Europa.
Händeringende Suche nach Fachkräften
Meinungen basieren auf Geschichten, die massentauglich weitererzählt werden. Reißerische Schlagzeilen wie „Fachkräftemangel“ und „Freizeitpark" verkaufen sich besser. Natürlich suchen viele Betriebe händeringend Mitarbeitende. Doch die 45,9 Millionen Erwerbstätigen haben sich einen Arbeitgeber ausgewählt. Wer zieht an?
Löschen wir zunächst das Märchen vom Niedergang des Arbeitsmarktes. Auch die Zahl der Erzieherinnen und Erzieher hat sich in den letzten 10 Jahren fast verdoppelt in Deutschland. Sogar die Zahl der Pflegekräfte steigt kontinuierlich an. 1,69 Millionen Pflegekräfte arbeiteten 2023 in Deutschland, 1,67 Millionen waren es 2021 , und die Zahlen steigen schon viele Jahre kontinuierlich, plus 18 Prozent in Kliniken seit 2011 und plus 40 Prozent in ambulanten Diensten und Heimen seit 2009.
Nutzen wir Arbeitszeit weise?
Das Problem ist die unfassbar große Zeitverschwendung durch Bürokratie. Bereits 2015 berichtete das Ärzteblatt, dass Klinikärzte 44 Prozent ihrer Zeit für das Dokumentieren aufwenden müssten. Pflegekräfte verbringen laut Ärztezeitung 2020 mehr als 30 Prozent ihrer Arbeitszeit mit Dokumentationen.
Haben wir zu wenig Pflegekräfte oder zu viele Vorschriften zur Dokumentation? Milliarden Stunden werden verschwendet. Das ist völlig irre! Würde diese Bürokratie halbiert werden, hätten wir für gute Pflege ad hoc zusätzlich Zeit im Wert von 100.000 Menschen in Vollzeit. Diese Menschen sind bereits da und arbeiten in dem Beruf. Wir vergeuden ihre wertvolle Arbeitszeit und rufen „Fachkräftemangel“.
100.000 zusätzliche Pflegekräfte wären bereits da, wenn die Aufgaben der Dokumentation halbiert würden. Unfassbar oder? Der Vorsitzende des Hartmannbunds, Dr. Thomas Lipp, sagt: „Wir haben in Deutschland nicht zu wenig Pfleger. Das Problem ist, dass das vorhandene Personal kaum zum Pflegen kommt.“ Zu wenig Fachkräfte oder zu viel Zeit verschwendet?
Flucht aus ungesunder Arbeit
Viele der ausgebildeten Fachkräfte haben den „Pflexit“ vollzogen. In Deutschland haben bereits Hunderttausende Pflegefachkräfte die Branche verlassen — sie sind geflüchtet! Sie haben einen Strich unter den schlechten, krank machenden Arbeitsbedingungen gezogen.
Überlastete Fachkräfte halten das System am Laufen. Der Krankenstand in der Pflege ist in den vergangenen elf Jahren um 44,2 Prozent gestiegen. „Mit durchschnittlich 28,8 Fehltagen 2022 lagen die Pflegekräfte zudem rund 57 Prozent (10,5 Tage) über dem Durchschnitt aller bei der Techniker Krankenkasse versicherten Beschäftigten.“
Viele Pflegefachkräfte können sich eine Rückkehr in die Pflege vorstellen — bei deutlich besseren Arbeitsbedingungen: „Ein rechnerisches Potenzial von 300.000 Pflegekräften in Vollzeit“, errechnet die Böckler-Stiftung. Verbesserte Arbeitsbedingungen + halbierte Dokumentation würde Zeit bei 1,67 Millionen Pflegefachkräften für sinnvolle Arbeit freisetzen. Aber statt auszumisten und wertlose Arbeit zu löschen, wird öffentlich nur gejammert. Zu Recht will 2022 jede vierte Pflegekraft den Job wechseln.
Kein Naturgesetz
Wir produzieren ungesunde Arbeit im Überfluss. Das ist kein Unfall oder das Werk einer höheren Macht. Arbeitsbedingungen werden von uns erfunden und umgesetzt, daher sind sie jederzeit änderbar. Krankheiten, die durch ungesunde Arbeit entstehen, sollten wir uns nicht mehr leisten.
Alles, was Gesundheit im Weg steht, sollten wir löschen. Schaffen wir Platz für die nächste, bessere Version gesunder und smarter Arbeit. Die Kernfrage lautet: Was können wir weglassen? Welche Verschwendung wollen wir uns nicht mehr leisten?
Ich meine kein zusätzliches Zeitmanagement, keine Hacks für Effizienz und zur Selbstoptimierung. Statt der „Zu viel von allem und noch mehr“-Logik schlage ich eine andere Denkweise vor: ZUERST löschen, entmüllen, streichen und weglassen. Nicht mehr Aufgaben und mehr Projekte, sondern: Was lassen wir weg? Löschen für gesunde Arbeit.
Was lassen wir weg, um zu entlasten?
Wir sollten smart daran arbeiten, überflüssige, teure und wertlose Aufgaben zu löschen. Fokus setzt Ressourcen frei. Entlastung verbessert den Service und Umsatz.
In einer Steuerkanzlei gibt es „Stille Stunden“, das sind drei Stunden pro Tag, in denen kein Telefon klingelt. Die Kunden wissen Bescheid. Außerdem sind die Server so eingestellt, dass E-Mails intern nur zweimal pro Tag zugestellt werden. Statt vom Team zu erwarten, sich nicht von jeder E-Mail ablenken zu lassen, wird die Struktur für alle angepasst. In 34 Stunden schaffen die Mitarbeitenden jetzt STRESSFREIER mehr Arbeit als zuvor in 40 Stunden. Umsatz gestiegen.
Ein Hotel hat die Arbeitszeit von 40 auf 36 Stunden reduziert, bei vollem Lohn. Das Hotel fordert nicht mehr Leistung, sondern geht in Vorleistung und entlastet die Crew. Die 1400 Online-Bewertungen von Gästen sind deutlich besser als vorher. Erholte Menschen sind entspannter. Die Gäste erleben einen besseren Service und schreiben bessere Bewertungen. Das bringt dem Hotel mehr Gäste, mehr Umsatz und mehr Bewerbungen. Attraktive Arbeitsbedingungen ziehen an.
Ein Arbeitsbeginn um 3 Uhr ist für viele Menschen unattraktiv. Muss ein Bäcker nachts mit dem Backen anfangen? Bäckermeister Till Gurka bricht mit traditionellen Strukturen und trotzt dem Fachkräftemangel. Seine Bäckerei „Till und Brot“ öffnet um 11 Uhr vormittags, gebacken wird ab 6 oder 7 Uhr. Er stellt fest: „Ich bekomme mehr Bewerbungen, als ich einstellen kann.“
Wer einen Mangel an Fachkräften hat – besonders aktuell beim Rekord an Erwerbstätigen in Deutschland, Österreich und der Schweiz –, sollte sein Angebot ändern. Streichen alter Annahmen, Löschen gewohnter Standards, Entmüllen wertloser Tätigkeiten, Ausmisten von Bürokratie. All das schafft GROSSE Freiräume!
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Mein neues Buch: Smart Arbeiten mit der Delete-Strategie: Überflüssiges streichen, Produktivität steigern, kreatives Potenzial freisetzen.
Ich erzähle 244 Geschichten, wie Firmen im Mittelstand und Handwerk konkret Platz schaffen. Dazu zeige ich 40 Übungen, die du für dich allein oder im Team anwenden kannst. Wird regelmäßig gelöscht, wird stressfreier gearbeitet. Aufgeräumte Unternehmen machen auch mehr Umsatz und gewinnen mehr Fachkräfte. Ich zeige konkrete Löschlisten aus Firmen. Sie zeigen, wie viele überflüssige Aufgaben und Störungen in den Müll können. Wer entmüllt, kann sich auf das Wesentliche konzentrieren.