„Zukunft beginnt immer hier und bei mir.“
Wir nehmen die Stadt als Differenz zur Umwelt, zur Natur war. Wir sind es gewohnt zu polarisieren. Die Stadt ist jedoch ein System, das nur im Zusammenhang mit der umgebenden Landschaft, mit den Ressourcen, die von außerhalb kommen, existieren kann. Die Stadt ist ein hochenergetisches, gefräßiges Monster und auf dem besten Weg, die eigenen Lebensgrundlagen zu verschlingen. Wenn wir jedoch beginnen, die Stadt als einen Organismus zu verstehen, als ein ganzheitliches, regeneratives System, dann haben wir echte Überlebenschancen.
Ich verstehe die Individualität als einen Durchgang, als einen evolutionären Prozess. Getragen durch die Entlastungen der Moderne haben wir die Möglichkeit bekommen, ein Bild, eine Idee von uns selbst zu entwickeln. Ein Selbst, das nicht nur vom Überlebenskampf gesteuert wird, sondern sich in als einzigartiges, wertvolles und zu Ideen begabtes Wesen erleben kann. Doch die Individualität, die in der Selbstverwirklichung gipfelt, führt uns zu der Erfahrung, dass das Leben nur in Verbindung mit anderen eine Erfüllung ist. Unser Selbsterleben ist abhängig von Resonanz, wir können uns nur in der Spiegelung, im Gegenüber, im Anderen erleben.
Die Selbstwirksamkeit ist ein kräftiger, ein sehr konkreter und positiver Begriff. Ich bin wirksam, ich kann handeln, ich kann Dinge ändern. Das Gegenteil davon ist die Unmündigkeit. Wenn ich mich nur als Konsument, als Bezieher von Dienstleistungen und konfektionierten Angeboten verstehe, dann bin ich dem Markt ausgeliefert. Mein Wirken in dieser Welt ist dann sehr passiv und am Ende destruktiv.
Das Studium der Architektur ist ein Studium Generale. Zwangsläufig beschäftigt man sich mit Geschichte, Kultur, Soziologie, Physik, Musik, Biologie, Phänomenologie, Psychologie … Architekten haben von allem ein bisschen Ahnung, aber immer nur so viel, dass man die Zusammenhänge erahnen kann. Das ist in einer Weise so niederkomplex, dass von da aus Lösungen relativ einfach zu formulieren sind. Und selbstverständlich ist die Beschäftigung mit Architektur eine sehr lösungsorientierte Herangehensweise an die Dinge. Wir wollen schließlich was machen, was bauen. Darin liegen eine schöne Naivität, ein großartiger Antrieb und auch ein dauerndes Scheitern.
Auf einer anderen Ebene betrachtet, müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass der Bausektor und die Art und Weise, wie wir wohnen, für mehr als die Hälfte des ganzen Mülls verantwortlich ist und unglaubliche Mengen an lebensfeindlichen, klimaschädigenden Emissionen erzeugt. Wo sollte man anfangen, wenn nicht im Nachdenken darüber, wie wir zukünftig bauen und wohnen wollen.
Meine These (oder vielmehr meine Beobachtung) ist, dass die projektierte Nutzung für ein Bauwerk oft nur eine sehr kurze Halbwertszeit hat. Ein Gebäude wird mit einer Idee entwickelt und schon nach wenigen Jahren zeigt sich, dass die Planung nicht mehr den Anforderungen der Nutzer, der Zeit oder des Marktes entsprechen. Gleichermaßen wissen wir, wie beliebt all die umgenutzten Gewerbehinterhöfe, sanierten Altbauten und mit neuem Leben erfüllten Stadtquartiere sind. Die Umnutzung und Aneignung von Bestand schafft Räume, die sich mit dem Bestehenden, mit der »Umwelt« arrangieren. Der Neubau orientiert sich allzu oft an den Bedürfnissen des Kapitalmarktes und viel zu wenig an den Bedürfnissen von Stadtgesellschaft. Wo großmaßstäbliche Projekte geplant werden, gibt es keine Nischen, keine Leftovers und keine Vielfalt. Wenn wir den Bestand der Stadt als Aneignungsraum verstehen, als eine Landschaft voll von Möglichkeiten, dann sollte jedes Leben dort einen freundlichen Platz finden.
Das klassische Bauhaus der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts war eine innovative Schule, die wie ein Magnet auf die kreativsten Geister dieser Zeit gewirkt hat. Wenn heute Dinge mit dem Label »Bauhaus« versehen werden, dann geht es in der Regel um das Aushängeschild für guten, zeitlosen Geschmack. Kürzlich wurde das »New European Bauhaus« ausgerufen - das ist der schöne Versuch, dem sogenannten nachhaltigen Bauen durch eine Marketinginitiative zu Schubkraft zu verhelfen und zu einem Marktmotor zu machen. Wir brauchen aber nicht mehr, wir brauchen deutlich weniger Bautätigkeit. Vor allem, was den Neubau betrifft. Die vorhandenen Ressourcen, sowohl materiell als auch personell, sollten in die Sanierung, Verdichtung und Umnutzung des Bestands gesteckt werden. Dafür bedarf es gut ausgebildeter Handwerker. Das Bauen im Bestand ist viel aufwendiger und erfordert viel mehr Expertise als das Errichten eines Neubaus.
Nachhaltig kann Bauen nur dann sein, wenn wir verantwortungsvoll mit den Ressourcen umgehen. Diese sind vor allem der Bestand, aber genauso die Leute, die auf den Baustellen arbeiten. Bei einer ganzheitlichen Betrachtung muss das Bauen vor allem als ein Tätigsein verstanden werden. Wenn wir uns am Bild der Bauhütte orientieren, dann ist die Baustelle ein Baustein im organischen Gefüge der Stadt. Die Baustelle ist nicht eine Störung des Lebens, sondern ist selbst ein Teil des Lebens, ist ein Ausdruck für die Lebendigkeit der Stadt. Wir müssen unser Verhältnis zu den Dingen klären, die unser alltägliches Leben ausmachen. Dazu gehören neben dem Bauen auch die Herstellung und Verarbeitung von Lebensmitteln, unsere Kreislaufwirtschaft (um nicht vom Müll zu sprechen) und all die Menschen, die unsere Dienstleistungsgesellschaft am Laufen halten.
Alles was ist, auch das, was wir Natur nennen, ist von Menschenhand gemacht. Wir leben in einer weitestgehend durchdesignten Umwelt. Nur das Unerwartete, Unkontrollierte - am Ende: die Naturkatastrophen - ist echte Natur. Warum machen wir also die Differenz zwischen begrünter und betonierter Landschaft? Ich nenne das aquarellierten Naturkitsch. Wir sollten unsere umgebende Welt als einen Lebensraum verstehen. Wir können dankbar für die Möglichkeit sein, dass wir diese Räume nutzen und gestalten dürfen. Wir haben Gastrechte und Gastpflichten.
Die Welt brennt, und wir richten uns schön darin ein. Für mich ist es unerträglich geworden, mich über die Farbe und Oberflächenbeschaffenheit von unnötig ressourcenfressenden Projekten zu unterhalten. Ich möchte nicht mehr an Projekten mitwirken, die nur der materiellen Selbstbehauptung dienen. Ich möchte bauen, aber eine schönere Welt. Das können wir auch. Aber dafür müssen wir Stellung beziehen und Grenzen ziehen. In meinem Studium vor 20 Jahren gab es noch so dicke Slogans wie »everything goes« und »less is bore«. Architektur ist immer noch zum größten Teil ein selbstreferentieller Rahmen, in dem die Verschwendung und Opulenz gefeiert wird. Diesen Rahmen möchte ich, möchten viele hinter sich lassen. Wir brauchen eine neue Sprache in Bild und Wort, um Architektur in eine andere Gegenwart zu heben.
Als Erstes würde ich in Frage stellen, ob das Glück an einem Ort zu finden ist, und ob man es überhaupt kaufen kann. Bei diesem Thema ist ganz zentral, dass, wenn wir über Chancengleichheit auf dem Immobilienmarkt sprechen wollen, wir um die Themen Erbschaftssteuer, die Veräußerbarkeit von Grund und Boden und die Tatsache, dass Immobilien ein Substitut für Finanzspekulationen geworden sind, nicht herumkommen. Das ist ein riesiges Thema, zu dem ich keine fachliche Expertise habe.
Die Wortschöpfung leitet sich natürlich vom Minimalismus ab. Der Minimalismus hat in der Regel nicht viel mit Suffizienz und Angemessenheit zu tun, sondern wird als ein Style verstanden. Alles Unnötige oder Störende wird unsichtbar gemacht. Was wir aber wirklich brauchen, ist eine Reduktion von Wohnraumgrößen, eine Verschlankung von Angeboten und Optionen, eine Verkleinerung unserer materiellen Selbstvergewisserung. Seit den 50er Jahren sind die individuell genutzten Wohnflächen um ein Dreifaches gestiegen, wir haben immer mehr Dinge, die wir nicht benötigen und alle Infrastrukturen, Fahrzeuge und Maschinen sind immer größer, stärker, schneller und vor allem mehr geworden. Wir benötigen Bilder, die diesen Zuwachs visualisieren, damit sichtbar wird, dass diese materielle Ausdehnung nicht der Nützlichkeit und Angemessenheit, sondern der Wachstumskurve des Bruttosozialprodukts geschuldet ist.
Wir unterliegen, oder vielleicht kann man schon sagen, unterlagen dem Irrtum, dass Selbstverwirklichung bedeutet, dass wir uns alles kaufen können, und die von Hartmut Rosa so schön beschriebene Weltreichweite bis ins Weltall - in die Unendlichkeit reicht. Wenn doch das Selbst selbst seine Lebensgrundlage zerstört, realisiert es, dass das Selbst sich nicht in materiellen Dingen verwirklichen kann. Das ist der Durchgang: Das Selbst verwirklicht sich in der Transzendenz. Eine Zukunft gibt es nur, wenn wir unser Miteinander auf ein anderes Wertesystem stellen. Wir realisieren, dass es uns nur mit allen anderen zusammen gibt.
Ich glaube nicht, dass es irgendetwas endliches gibt.
Das habe ich versucht, mit meinem Buch herauszufinden. Hartmut Rosa unterscheidet, ob man »ins Leben geworfen« oder »im Leben getragen« ist. Ich bin getragen. Ich weiß aber nicht, ob man sich das aussuchen kann. Ich habe ein großes Gottvertrauen. Aber: Das zu fühlen ist das eine und das zu sagen nochmal etwas ganz anderes. So viel zur Zuversicht.
Optimismus ist vielleicht eine Grundeinstellung, kann aber aus der Erfahrung der Selbstwirksamkeit resultieren. Wir sind den Dingen nicht ausgeliefert. In jedem Moment und jeder Aktion liegt das Potential, grundlegende Richtungswechsel zu vollziehen. Entscheidend ist, was wir jetzt und heute und hier tun. Zukunft beginnt immer hier und bei mir.
Andree Weißert, Jahrgang 1975, ist gelernter Zimmerer und hat in Hamburg Architektur studiert. Nach zweijähriger Mitarbeit bei SAUERBRUCH HUTTON ARCHITEKTEN, hat er 2009 das STUDIO ANDREE WEISSERT (SAW) in Berlin gegründet und arbeitet seither als Gestalter, Handwerker, Autor und Dozent. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Planung von komplexen Umbauten im Bestand sowie die Gestaltung von Möbeln und kompletten Interieurs. In seiner Studiowerkstatt entstehen Prototypen und Einzelstücke - unter anderem für ATELIER HAUßMANN, BASAR NOIR und MAGAZIN. Für den Möbelhersteller TECTA hat Andree Weißert neben der Gestaltung von seriellen Möbeln auch den Umbau der Büros sowie eine neue Lagerhalle geplant, welche für den DAM Architekturpreis 2024 nominiert wurde; für das VITRA DESIGN MUSEUM hat er eine Ausstellung über die Spielzeugentwürfe von Charles und Ray Eames gestaltet, für die NORTH BY NORTHWEST UNIVERSITY (Boston/Berlin) zwei Jahre ein Entwurfsseminar für Wohnungsbau und Nachhaltigkeit betreut und gemeinsam mit Mia Grau die ATOMTELLER erfunden. Im August 2023 ist sein erstes Buch im OEKOM VERLAG erscheinen: ICH BIN DIE STADT, DAS KLIMA UND DIE TRANSFORMATION – Durch Selbstwirksamkeit und Verbundenheit zur Regenerativen Stadt.
„Wir sind die Transformation“: Zur Gestaltung von Gegenwart und Zukunft
Warum wir Nachhaltigkeit neu denken müssen
Andree Weißert: Ich bin die STADT das KLIMA und die TRANSFORMATION. Durch Selbstwirksamkeit und Verbundenheit zur regenerativen Stadt. Oekom Verlag, München 2023.