Trost in einer trostlosen Zeit - Pixabay

Zum Ausmalen: Warum immer weniger Menschen denken und nur der Form folgen wollen

Je unsicherer die äußere Realität heute wahrgenommen wird, desto ausgeprägter ist das Bedürfnis nach Stabilität. Es ist sogar stärker als das nach Veränderung, Innovation und Neugierverhalten, was sich auch im Boom der Ausmalbücher für Erwachsene zeigt, die weltweit die Bestsellerlisten erobern. Viele Menschen fühlen sich in den Illustrationen (Bäumchen und Blümchen, Eulen, Elfen und Kätzchen) der Schwarzweißmaler mittlerweile heimischer als in der Wirklichkeit, in der es nicht nur kompliziert, sondern komplex zugeht, was im Kern Unsicherheit, Unbestimmtheit und Unberechenbarkeit einschließt.

Um die scheinbare Sicherheit und Kontrolle nicht zu verlieren, suchen sie nach „Schemata, Regelmäßigkeiten und Vereinfachungen“. Das erzeugt Wohlbefinden, Stressreduktion und Glück, schreibt der Wirtschaftssoziologe Stefan Brunnhuber in seinem Buch „Die Kunst der Transformation“ und weist nach, dass die Wirklichkeit in unserem Kopf nicht identisch mit der äußeren Realität ist. Das sei kein Problem oder eine Anomalie, sondern lässt sich evolutionsbiologisch begründen: Das Auseinanderfallen von innerer und äußerer Realität hat offenbar einen Selektionsvorteil mit sich gebracht – nämlich, dass Komplexität und Unsicherheit mit dem Bestreben nach Stabilität und Verlustvermeidung verbunden sind. „Der menschliche Geist ist konservativ organisiert.“

Besonders zeigt sich das im Ausmalboom, der mit der Parallelentwicklung des „Verantwortungs-Outsourcings“ einhergeht (niemand möchte noch weitreichende Entscheidungen treffen): Das Gehirn muss nicht denken, sondern nur der Form folgen. Dabei ruhen die Verbindungen zwischen den Gehirnzellen weitgehend, die Frustrationsrate ist gering und das Ergebnis immer bunt.

Für die Journalistin und Buchautorin Heike Winnemuth ist der Malbuch-Hype lediglich „ein Ballerspiel mit Buntstiften – die Zeit wird mit pinkfarbenen Knüppelchen totgeschlagen“ und verzweifelt Trost gesucht“ in einer als trostlos empfundenen Welt“ (stern, 5.11.2015). Die Nachhaltigkeitsexpertin und Leiterin der Unternehmenskommunikation der memo AG, Claudia Silber, sieht Ausmalbücher als Trend – „nicht weniger, aber auch nicht mehr“. Dass derartige Freizeitbeschäftigungen seit Jahren boomen, wundert sie nicht: „Es ist eine Möglichkeit abzuschalten, die dauernde Erreichbarkeit, das andauernde Checken von Mails, die stetige Kontrolle der Sozialen Netzwerke, den Stress und die Hektik hinter sich zu lassen. Durch (Aus-)Malen wird man für eine kurze Zeit in eine andere Welt - vielleicht auch in die Welt der Kindheit - entführt, in der im Moment nichts anderes wichtig ist, als die passende Farbe auszuwählen.“

Auch Verlage verkaufen die Malbücher für Erwachsene als Anti-Stress-Mittel („Malen ist das neue Meditieren“). Sowohl in Großbritannien als auch in Amerika stand die schottische Künstlerin Johanna Basford seit Wochen in der Top-Ten-Bestsellerliste von Amazon. Ihr 2013 veröffentlichtes Erstlingswerk „Secret Garden“ wurde weltweit ein Bestseller. "Ich denke, es ist einfach sehr erholsam, etwas Analoges zu tun und sich selbst abzustöpseln", erklärt sie ihren Erfolg. Ausmalbücher sind für sie „eine Art Entgiftungskur vom Digitalen“.

Für die Werbemittelindustrie ist dieser Trend in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert, sagt der Marketing- und Medienexperte Dr. Klaus Stallbaum: „Zum einen zeigt der Siegeszug der Ausmalbücher, dass die Menschen ihre reale Welt mit ihren berührbaren, Geschichten erzählenden Gegenständen nicht zugunsten einer völlig digitalisierten Lebenswelt eintauschen möchten. Sie wollen beides. Und sie wollen beides auch immer wieder miteinander verbinden. Die Lust der Menschen am Gegenständlichen und am Selbermachen ist aber auch ein deutlicher Hinweis auf eine zunehmend wichtiger werdende Bedeutung von Werbeartikeln. Die Leute greifen nun buchstäblich auch immer stärker nach Fixpunkten im digitalen Tempoalltag.“

Vom Trend zum Ausmalen profitieren auch die Schreibwarenhersteller und Stiftehersteller. Es ist noch nicht lange her, da plagten sie Sorgen über die zunehmende Digitalisierung. Doch jetzt verzeichnen sie unverhofft eine große Nachfrage. Der Hersteller Schwan-Stabilo aus Heroldsberg bei Nürnberg kooperiert mit dem Buchverlag ArsEdition: So gibt es zum Ausmalbuch „Kreative Auszeit“ für Erwachsene gleich 15 Filzstifte im Set dazu. Auch Staedtler bietet spezielle Stifte-Sets für die Malbücher "Johanna Basford Edition" an.

Wenn ein solcher Trend in der Gesellschaft hochgespült wird, kommt freilich immer auch vieles Oberflächliche zum Vorschein – aber ebenso viel Substanzielles, das auf diese Weise gut verteilt wird und sonst vielleicht unbeachtet bliebe. So ist es auch beim Thema Stifte und Nachhaltigkeit. Viele Buntstifte sind aus naturbelassenem Zedernholz und stammen aus kontrolliert nachhaltiger Forstwirtschaft. Ökonorm Buntstifte werden mit einer Ummantelung aus europäischem Lindenholz hergestellt. Sie sind unlackiert und frei von Schwermetallen, Lösemitteln und Weichmachern. Die Minen bestehen aus Fetten, Wachsen, Cellulosederivaten als Bindemittel und mineralischen Füllstoffen wie Talkum oder Kaolin (Quelle: memolife).

Nicht, wer einfach nur ausmalt, sondern wer selber denkt und sich mit übergreifenden Zusammenhängen beschäftigt, lernt, sich und die Welt besser zu verstehen. Es geht nicht um einen Ersatz für Meditation in Form von Malbüchern, sondern um die Frage, wie wir heute mit Stress und Unsicherheit umgehen, was uns wirklich antreibt, und was wir für Umwelt und Gesellschaft konkret tun können. Mit der Fähigkeit zur Selbststeuerung, Selbstwahrnehmung und Selbstwirksamkeit beschäftigt sich Brunnhubers Buch, das zugleich zeigt, wie wir „unser Leben tagtäglich praktisch verändern können“. Die Glücksrendite ist nicht dann am höchsten, wenn wir Malbücher kaufen und ausmalen, „sondern bei altrusitischem Verhalten, bei Sozialkontakten, bei immateriellen Werten und schönen Erlebnissen.“

Weiterführende Literatur:

  • Stefan Brunnhuber: Die Kunst der Transformation. Wie wir lernen, die Welt zu verändern. Verlag Herder, Freiburg 2016.

  • Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Von Lebensdingen: Eine verantwortungsvolle Auswahl. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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