TASCHEN

Zum Sterben schön: Die Rückkehr von Tausendundeiner Nacht

Märchenhafte Entdeckung

Anlässlich seiner Haute Couture-Kollektion von Fendi sagte Karl Lagerfeld im Jahre 2016: „Es ist alles wie in einem Märchen. Ich habe mich von jemandem inspirieren lassen, der in Vergessenheit geraten ist. Zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts lebte ein Däne mit dem Namen Kay Nielsen. Er war ein wundervoller Illustrator. Sein Stil ist minimalistisch, ein bisschen seltsam, sehr nordisch – ganz anders als im Jugendstil oder bei Art déco. Ich habe ihn ganz per Zufall wiederentdeckt, man hatte ihn vergessen … von ihm habe ich mich also bei Farben und Mustern inspirieren lassen.“

1958 fand man einen großen und schweren, luftdicht verschlossenen Kasten in Los Angeles. Es waren unveröffentlichte Illustrationen zu Tausendundeine Nacht, die zwischen 1917 und 1919 entstanden – gefertigt vom dänischen Buchillustrator Kay Rasmus Nielsen (1886–1957). Es ist die einzige vollständig erhaltene Serie an Originalen aus seiner Hand. Dieses letzte Relikt seiner erfolgreichen Frühzeit stand im Gegensatz zu seinem traurigen Lebensende in Armut. Die Truhe sollte im Rahmen einer behördlich durchgeführten Haushaltsauflösung verkauft werden. Das betraf auch andere Arbeiten des Künstlers. Seine Frau war nur wenige Zeit nach ihm verstorben. Das anonyme Verkaufsritual wiederholte sich dann in Süddänemark, wo Nielsens Familie ein kleines Landhaus besaß. Hier schuf er während des Ersten Weltkriegs die Illustrationen zu Tausendundeine Nacht. Da es keine Erben mehr gab, wurde der Schatz an persönlichen Dokumenten und künstlerischen Arbeiten „aufgelöst“: verkauft, verschenkt oder verbrannt.

Nielsen entstammte der Kopenhagener Theaterszene, hatte in Paris Kunst studiert und lebte seit 1911 in England. Von Londons Verlagsbranche erhielt er zahlreiche Aufträge. Er übertrug die ästhetischen Prinzipen des Jugenstil und Art Nouveau auf die Kunst der Illustration. Mit Nielsens Adaption der Märchen aus Tausendundeiner Nacht wurde 2018 ein lang verschollenes Juwel der Jugendstilgrafik präsentiert: eine limitierte und nummerierte Ausgabe - gedruckt in fünf Farben, inklusive Gold - von 5.000 Exemplaren.

Ende der 1910er-Jahre legte Nielsen letzte Hand an seine Illustrationen, die den Zauber dieser legendären Sammlung persischer Volksmärchen heraufbeschwören, die zwischen dem 8. und 13. Jahrhundert zusammengetragen wurden: Zuerst tauchte in Tunesien eine arabische 1001 Nacht-Handschrift auf, dann brachten deutsche Orientalisten eine Edition des arabischen Textes und eine neue 15-bändige deutsche Übersetzung heraus. 1701 gelangten die ersten Bände einer ehemals vermutlich zwölfbändigen Handschrift des 15. Jahrhunderts aus Aleppo nach Paris. Ihre Übersetzung und Fortschreibung durch den französischen Orientalisten Antoine Galland (1646-1715) markiert den Beginn eines Triumphzuges des Werkes in Europa. Dieser hatte in Paris die „Sindbad der Seefahrer“-Geschichten publiziert – ein bemerkenswerter Erfolg. Deshalb ließ er nach ähnlichen Geschichten suchen. Seine Agenten entdeckten ein Manuskript von „Tausendundeine Nacht“, das etwa aus dem Jahr 1500 stammt (es endet abrupt nach der 282. Nacht). 1704 erschien der erste Band davon in Gallands Übersetzung. 1706 erschien eine erste Weiterübersetzung ins Deutsche. Viele weitere in alle europäischen Sprachen folgten. Alle waren süchtig nach diesem Kultbuch.

Die Arbeit von Galland wird von Experten jedoch als eine freie, von Interpretationen und Aussparungen geprägte, Version angesehen. Dennoch diente vielen der nachfolgenden Übersetzungen die Version Gallands als Vorlage. Auch Goethe war mit dessen Werk seit Kindheitstagen vertraut – und berauscht von der Magie der orientalischen Erzählkunst. 1823 schenkte ihm der Breslauer Verleger Cotta, der von seiner Orientliebe wusste, die erste vollständige, deutsche Übersetzung der orientalischen Märchen, die Goethe regelrecht verschlang, um sich dann dem zweiten Teil seines Faust-Dramas zu widmen.

Tausendundeine Nacht spielt im Inselreich von Indien und China, am Königshof von Samarkand oder in der Stadt Chorasan und dem Land Babel. Schon die Rahmenhandlung, welche die einzelnen Erzählungen zusammenhält, ist so beeindruckend, dass sie die Märchensammlung zu einem der bekanntesten Werke der Weltliteratur gemacht hat: In dieser Geschichte sind König Schahriyar (Herrscher von Indien und China) und sein jüngerer Bruder Schahsaman (Herrscher von Samarkand in Persien) von ihren Ehefrauen betrogen worden. Sie entsagen ihrer Herrschaft und machen sich auf Weltreise. Zurück in seinem Königreich fasst Schahriyar den Entschluss, jede Nacht eine neue Frau zu heiraten und sie am Morgen nach der Hochzeitsnacht hinrichten zu lassen, weil es auf Erden „keine einzige anständige Frau" gibt. Nachdem im Volk schon fast alle jungen Frauen Opfer seiner grausamen Rache geworden sind, meldet sich Schahrasad, die kluge Tochter seines Wesirs, freiwillig für die Hochzeit mit dem Massenmörder. Sie wünscht sich allerdings, dass sie ihre kleine Schwester mit zum König ins Brautgemach nehmen darf. In der Nacht, als alle schlafen gehen wollen, fordert die Schwester, von Schahrasad (Scheherazade) eine Geschichte zu hören.

Da der König die Fortsetzung wissen wollte, verschob er ihre Hinrichtung auf die zweite Nacht. Als sie gekommen war, erzählte sie ihm wieder eine Geschichte von spannenden Abenteuern und fernen Ländern, die noch aufregender war als die erste. Wieder brach sie mitten im Erzählen ab. Der König ließ von ihr ab und verschonte sie bis zur nächsten Nacht, um das Ende der Geschichte zu hören und sie danach zu töten. Doch sie hält ihn im Bann ihrer Worte. Er liebte das schöne Mädchen und ging als gerechter Herrscher aus den Erzählnächten hervor.

Viele Künstler haben sich diesen Schatz angeeignet und daraus „Großes“ entstehen lassen (Goethe im Dezember 1824 in einem Gespräch mit Friedrich von Müller). Auch Kay Rasmus Nielsen ließ sich davon inspirieren, er saugte Motive und Narrative in sich auf, um daraus etwas Neues hervorzubringen. Während des Ersten Weltkriegs musste er die Arbeit unterbrechen. Aufgrund finanzieller Engpässe in den Nachkriegsjahren nahm sein Verlag Abstand davon, und die Bilder in Tusche und Wasserfarben blieben vierzig Jahre lang unter Verschluss.

In den 1930-er Jahren wanderte Nielsen nach Los Angeles aus und arbeitete als Zeichner in den neuen Trickfilmstudios von Walt Disney. Nach Amerika nahm er auch den Kasten mit seinen Originalgouachen zu Tausendundeine Nacht samt den Schwarz-Weiß-Zeichnungen und Bordüren für das einst geplante Buch mit. Seine Zeit bei Disney, in der er die berühmte Sequenz „Nacht auf dem kahlen Berge“ für „Fantasia“ (1940) schuf, endete nach nur wenigen Jahren. Es folgten einige unternehmerische Fehlschläge, unter anderem als Hühnerzüchter. Nielsen starb verarmt 1957 im Alter von 71 Jahren.

1958 wurde das Behältnis samt Inhalt bei jenem schicksalhaften Verkauf von Freunden erworben. Zwei Illustrationen und die Schwarz-Weiß-Zeichnungen befanden sich in Privatbesitz, eine Gouache hatte das Kunstinstitut von Chicago noch zu Lebzeiten Nielsens erworben. Die übrigen 18 Illustrationen gingen als Schenkung an das Los Angeles County Museum of Art, das die Serie Jahre später aus dem Bestand nahm, woraufhin sich das Grunwald Center für grafische Kunst in Los Angeles ihrer annahm. TASCHEN ließ alle 21 Illustrationen dieser Reihe wiederaufleben und zeigt zudem große Schwarz-Weiß-Illustrationen, die Nielsen speziell für die ursprünglich geplante Veröffentlichung anfertigte - und die erst kürzlich wiederentdeckt wurden.

Wann immer die Welt aus den Fugen ist, sollten wir das Ende dieser Geschichten vor Augen haben – und den Wert des Erzählens, das auch dem Überleben dient.

Weiterführende Informationen:

Noel Daniel, Cynthia Burlingham, Margaret Sironval, Colin White: Kay Nielsens Tausendundeine Nacht. Hardcover mit 21 Kunstdrucken. Mehrsprachige Ausgabe: Deutsch, Englisch, Französisch. TASCHEN Verlag, Köln 2018.

Claudia Ott über die ältesten Versionen von „Tausendundeine Nacht“ in: Reinhard Brembeck: Der Eros im Detail. In: Süddeutsche Zeitung (7.6.2018), S. 46.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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