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Zweite Chance mit Mitte 50: Es muss nicht immer aufwärts gehen

Die Deutschen sollen am besten möglichst lange arbeiten – doch viele Firmen sind skeptisch. Fünf Menschen über 50 erzählen von ihrem Neustart im Berufsleben.

Guido Wey ist „von Haus aus Optimist“, wie er selbst sagt. Und deshalb ist er bester Dinge, als er im vergangenen Jahr einen neuen Job sucht: „Ruckzuck“ wird er eine Stelle finden, glaubt er. Die Unternehmen „müssen sich um mich reißen“. Jahrzehntelang hat er schließlich große Mittelständler mitgeführt. Gerade hat er seinen alten Job gekündigt, er war sich in manchen Fragen uneins mit dem Aufsichtsrat. Zeit für eine neue Führungsaufgabe: Wer, bitte schön, wartet da draußen auf mich?

Niemand. Als Wey sich vier Mal bewirbt und vier Absagen kassiert, fährt es wie ein Blitz in ihn: „So einfach wird das nicht.“ Von wegen „ruckzuck“.

Eine Absage trifft ihn besonders. „Das Interview war super“, erinnert er sich, „ich verstand mich auf Anhieb mit dem CEO.“ Trotzdem reicht es nicht. Er habe einen prima Eindruck ... aber man habe sich anderweitig ... viel Erfolg auf dem weiteren ... – die üblichen Phrasen. Wey hakt nach. Er will wissen, woran es lag. Und ein Personaler erzählt ihm schließlich, er habe „von ganz oben“ den Auftrag, „den Altersschnitt im Management zu senken“.

Fand was: Guido Wey belieferte Elon Musk – und tat sich doch schwer bei der Jobsuche - Foto: Annette Cardinale
Fand was: Guido Wey belieferte Elon Musk – und tat sich doch schwer bei der Jobsuche - Foto: Annette Cardinale

So einfach ist das also: Wey ist zu alt. Mit 57. Er ist geschockt, gekränkt, gefrustet. Er weiß, was er kann, hat es oft genug bewiesen – nur um auf dem Höhepunkt seiner Reife und Erfahrung aussortiert zu werden: weil er zu reif und zu erfahren ist? Er war stets bereit, ein Schüppchen draufzulegen, um seine Aufgaben zu erfüllen – nur um jetzt an der einzigen Angabe in seinem Lebenslauf zu scheitern, die man ihm nicht als Verdienst anrechnen kann: Geburtsjahr 1966? Er hat in Aachen studiert, einem Vorstand assistiert, Geschäftseinheiten geleitet, Mittelständler mit dreistelligen Millionenumsätzen und Tausenden Mitarbeitern gemanagt und läuft in seiner Freizeit Halbmarathon – nur um auf der Zielgeraden seiner Karriere zu erfahren, dass die Wirtschaft keine Ü-55-Wettbewerbe ausschreibt?

Wey will es nicht wahrhaben. Und engagiert eine Bewerbungsberaterin für Führungskräfte. Er lernt, sich kurzzufassen, „nicht immer einen Schwank aus meinem Leben zu erzählen“. Maximal 90 Sekunden pro Erfolgsgeschichte, das muss reichen. Gar nicht so einfach. Wey kann lang und breit darüber erzählen, wie er etwa Tesla als Kunden für die Fränkische Rohrwerke Gebr. Kirchner GmbH & Co. KG. gewann. Wie er die Ingenieure von Elon Musk in Kalifornien traf und ihnen die neuen Leitungen für die Batteriekühlung präsentierte. Wie er seinen Kollegen immerzu anstupsen musste, weil dieser von „Motoren“, nicht von „Batterien“ sprach.

Stattdessen jetzt also die Kurzform, ruckzuck: „Ich habe Tesla als Großkunden gewonnen. Das Tempo war beachtlich: Zu Beginn lieferten wir Rohrleitungen für 10.000 Model S im Jahr, am Ende für eine Million Model 3. Ich musste knallhart priorisieren. Tesla hatte Vorfahrt vor anderen Kunden. Unsere Automobilsparte, die ich damals leitete, wuchs von 60 auf fast 300 Millionen Euro Umsatz.“ Kurz. Knapp. Knackig. Bei Wey hat’s gewirkt. Seit April dieses Jahres ist er wieder Geschäftsführer.

VIELE VORBEHALTE

Es ist nur ein Beispiel. Aber eines, das sehr viel erzählt über die Ü-50-Generation und den Arbeitsmarkt. Die Politik möchte, dass möglichst viele Arbeitnehmer bis 67 und länger arbeiten, um die Rentenkasse zu entlasten, die demografische Krise zu lindern, den Wohlstand des Landes nicht zu riskieren. Viele Ältere selbst drängen früher aus dem Arbeitsleben, wollen ihre Gesundheit genießen und ihr Vermögen verzehren: vita brevis, carpe diem.

Und die Unternehmen? Sind nicht selten froh, die Älteren loszuwerden, heuern oft sogar die Besten, wie Wey, nicht mehr an. Der Generalverdacht: Wer 30 Jahre und länger im Job ist, giert nicht mehr nach Erfolg und lässt sich nichts sagen, ist nicht mehr leistungsbereit und schon gar nicht technologisch à jour, stattdessen zu teuer und widerwillig, zu divenhaft und abgeklärt, zu umständlich und schwierig, kurz: zu gestrig. Daher müssen, wenn Konzerne wie ZF und SAP, Continental und VW jetzt im großen Stil Personal abbauen, oft die gehen, die ohnehin bald gegangen wären. Die es auf dem Arbeitsmarkt schwer haben – so motiviert sie auch sind.

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Die Generationen auf dem Arbeitsmarkt

  • Baby-Boomer: Die Baby-Boomer (1946 – 1964) sind die älteste Generation auf dem Arbeitsmarkt. Diese Jahrgänge verzeichneten die höchste Geburtenrate, daher rührt auch der Name.

  • Generation X: Die Jahrgänge der Generation X (1965 – 1979) haben einiges miterlebt: Wirtschaftskrisen, Techniksprünge, Arbeitslosigkeit, Umweltkatastrophen. Sie gilt als eine, die vor allem Wert auf ein gutes Einkommen und einen sicheren Arbeitsplatz legt.

  • Generation Y: Die Generation Y, auch Millennials genannt, wurde zwischen 1980 und 1995 geboren. Sie sind die erste Jahrgangskohorte, die als Digital Natives gelten.

  • Generation Z: Sie treten seit einigen Jahren in den Arbeitsmarkt ein: Die Generation Z, geboren von 1996 bis 2010. Sie sind von klein auf mit dem Internet aufgewachsen, digitale Medien haben ihr Leben von Beginn an geprägt.

Wer mit diesen Menschen spricht, spürt so viel Ratlosigkeit wie Tatendrang. Sie wollen noch mal was Neues anpacken, sie wissen, dass Arbeitskräfte fehlen – und rennen doch oft vor verschlossene Türen.

Die Suche nach einem neuen Job dauert bei Menschen über 50 typischerweise deutlich länger als bei Jüngeren, insbesondere aus der Arbeitslosigkeit heraus. Ulrich Walwei, Vizedirektor am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), warnt deshalb: „Eine Stelle freiwillig aufzugeben kann für Ältere ein Spiel mit dem Feuer sein.“ Eine Befragung des Unternehmens Xing bestätigt den Befund: Mehr als jeder dritte Teilnehmer zwischen 50 und 67 gab an, im Bewerbungsprozess aufgrund des Alters schon mal benachteiligt worden zu sein.

Wie ist das möglich? Deutschland braucht die Älteren. In der Altersgruppe der 55- bis 70-Jährigen schlummert die Arbeitskraft von 1,3 Millionen Vollzeitbeschäftigten, hat die Bertelsmann-Stiftung errechnet. Die Bundesregierung hat eben erst frische finanzielle Anreize gesetzt für Menschen, die über ihr Renteneintrittsalter hinaus arbeiten wollen. Und 39 Prozent der Beschäftigten ab 55 Jahren sind genau dazu bereit, zeigt eine Befragung der Jobplattform Stepstone. Überhaupt arbeiten heute bereits mehr ältere Beschäftigte als früher.

Quelle: OECD, IAB-Forschungsbericht 14/2024 - Grafik: Carsten Stollmann
Quelle: OECD, IAB-Forschungsbericht 14/2024 - Grafik: Carsten Stollmann
Quelle: Bundesagentur für Arbeit - Grafik: Carsten Stollmann
Quelle: Bundesagentur für Arbeit - Grafik: Carsten Stollmann
Quelle: Statistisches Bundesamt - Grafik: Carsten Stollmann
Quelle: Statistisches Bundesamt - Grafik: Carsten Stollmann

Das Problem: Für Jobwechsler ist damit noch nichts gewonnen. Die Erwerbstätigkeit der Älteren hat sich vor allem deshalb erhöht, weil sie länger an ihrem Job festhalten – ihre „Einstellungschancen sind dagegen nicht gestiegen“, sagt IAB-Forscher Walwei. Das Ergebnis: Während die Arbeitslosigkeit seit 2005 deutlich zurückgegangen ist, hat sich die Anzahl der über 55-Jährigen ohne Stelle kaum verändert. Wer also mit 55 bleiben kann, wo er ist, hat gute Karten. Wer etwas Neues anfangen muss oder will, sollte sich gut darauf vorbereiten.

Guido Wey entschloss sich irgendwann, sein Alter offensiv anzusprechen: „Sie wissen, wie alt ich bin? Ist das ein Problem, können wir das Ganze gleich beenden.“ So blieben ihm Sätze erspart wie: „Oh, Ihrem Bewerbungsbild nach hatten wir Sie jünger eingeschätzt.“ Oder: „Wir suchen eigentlich jemanden, der den Job noch lange machen kann.“ Wey sieht es so: „Was sollen wir bei dem Thema rumdrucksen? Dafür fehlen mir Zeit und Nerven.“

Natürlich dürfen Unternehmen Bewerber nicht wegen ihres Alters ablehnen. So steht es im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz. Nicolas von Rosty, Deutschlandchef der Personalberatung Heidrick & Struggles, weiß aber, dass es dennoch eine „strukturelle Altersdiskriminierung auf dem Arbeitsmarkt“ gibt. Von Rosty besetzt im Auftrag seiner Kunden Managementpositionen und bekommt von ihnen oft zugeflüstert: „Bitte nur Kandidaten unter 55.“ Er sagt: Ab einem Alter von 57 werde „es wirklich hart, jemanden zu vermitteln“. Und er warnt: „Wir verschenken ein enormes Potenzial.“

Aber was wäre einem Menschen Mitte 50 zu raten, der einen Job sucht? Was kann er selbst tun, um sein Potenzial noch einmal zu entfalten? Wie kann er sich interessant machen für Arbeitgeber – wie einen Personaler von sich und seinen Vorzügen überzeugen?

SEHT HER, ICH BIN FLEXIBEL!

Guido Wey ist heute Geschäftsführer der Impreg GmbH in Ammerbuch bei Tübingen; das Unternehmen stellt Produkte für die Kanalrohrsanierung her. Als Wey 2021 nach seiner Zeit als Tesla-Lieferant schon einmal einen Job suchte, hatte er weniger Druck als 2023: Anderthalb Jahre lief sein Vertrag da noch. Fast ein halbes Jahr davon verbrachte er in Spanien, leitete dort interimsmäßig ein Kunststoffwerk der Schweizer Rehau-Gruppe, „das auf der Kippe stand“, wie er sagt: „Nach meiner Zeit sollte entschieden werden, ob das Werk geschlossen wird oder nicht.“ Drei Monate waren angesetzt, schnell wurden daraus fünf. Heute arbeite das Werk „sehr erfolgreich“, sagt Wey.

Es war ein Job. Aber es war auch ein Signal. Viele Manager und Personaler, so die Erfahrung des Headhunters von Rosty, fragten sich bei älteren Kandidaten: Hat der überhaupt noch Lust und Energie, etwas zu bewegen? Man müsse „glaubhaft Veränderungsbereitschaft, Spontaneität und Innovationswillen signalisieren“. Menschen mit langen Konzernkarrieren hätten es da oft schwer, auch wenn sie regelmäßig Abteilungen gewechselt, im Ausland gearbeitet hätten: „Es prangt über ihrem Lebenslauf dieser eine große Firmenname“, weiß von Rosty: „Das schreckt viele potenzielle Arbeitgeber ab.“

BEWERBUNGEN: 103, ZUSAGEN: 0

Jürgen Weber schlägt sich seit einem Jahr mit dem Problem herum. Manche Absage erreicht ihn so schnell, dass er die Vermutung hat, ein Algorithmus sortiere ihn aus: Trau keinem über 50. Weber ist 54 und heißt eigentlich anders: Er möchte seinen echten Namen lieber nicht preisgeben.

Der gelernte kaufmännische Angestellte und studierte Betriebswirt aus dem Rheinland hat sich in einem Dax-Konzern bis ins mittlere Management hochgearbeitet, 40 Mitarbeiter arbeiteten in seinen Abteilungen. Er kennt sich gut mit dem Bankgeschäft aus, mit IT und Compliance. Und hätte den Job gerne weitergemacht, doch dann kam der Tag, an dem ihn der Bereichsleiter zum Gespräch bat ...

Die Suche nach einem Arbeitsplatz ist seit einem Jahr sein neuer Job. Ein Fulltime-Job. Weber führt Statistik: 103 Bewerbungen hat er verschickt. Fünfmal wurde er zum Gespräch eingeladen. Vergeblich. Zwei Gespräche und 21 Bewerbungen laufen noch: „Die Suche ist schon eine zähe Angelegenheit in dem Alter. Viel Arbeit für die Tonne.“

Ulrike Hattendorff hat den Neuanfang geschafft. Sie arbeitete einige Jahre in der Bankenwelt Frankfurts und bekam später bei der VR Bank Rhein-Neckar schicke Dienstwagen gestellt, wechselte dann als kaufmännische Leiterin zu einer familiengeführten Brauerei, verließ das Unternehmen nach acht Jahren wieder – und stand 2019 mit 55 Jahren vor der Frage: Was nun?

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Hattendorff wollte etwas „Sinnvolles“ tun. Nur wo? Und was? Auf Rat ihres Bruders investierte sie einen Teil ihrer Abfindung in ein Coaching bei Karriereberaterin Claudia Michalski. Die beiden Frauen fanden bei ihren Treffen in Berlin heraus: Eine Stiftung könnte der ideale Arbeitgeber sein. Hattendorff schwebte eine Managementaufgabe vor, in der es darum ging, Geld einzusetzen, um Gutes zu bewirken. „Aber ich hatte Angst, mich dort in meinem Alter zu bewerben“, erinnert sich Hattendorff: „Ohne Erfahrung in dem Bereich.“

Also entschied sich Hattendorff für einen Zwischenschritt. Sie absolvierte an der EBS Executive School Oestrich-Winkel das Intensivstudium „Stiftungsmanagement“: sechs Monate Seminare zum Stiftungs- und Gemeinnützigkeitsrecht, zur Rechnungsstellung, zur Haftung als Stiftungsvorstand. Hattendorff lauschte Vorträgen von Managern großer Stiftungen, schrieb Klausuren – und ließ sich ihre Weiterbildung gut 8000 Euro kosten. Eine Summe, die sie immer wieder investieren würde, sagt sie heute.

Wechselte spät: Ulrike Hattendorff machte bei Banken Karriere – und führt jetzt eine Stiftung. - Foto: Alex Kraus
Wechselte spät: Ulrike Hattendorff machte bei Banken Karriere – und führt jetzt eine Stiftung. - Foto: Alex Kraus

Nach ein paar Monaten bei der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung bewarb sie sich 2021 bei der Aventis Foundation als Vorständin. Das Stiftungskapital: fast 90 Millionen Euro. Später erfuhr Hattendorff, dass sie sich gegen 119 Mitbewerber durchsetzen konnte.

Im Interview konnte sie ihre Erfahrung als Managerin ausspielen. Und „in der zweiten Runde sollten wir eine Präsentation vorbereiten“, erinnert sich Hattendorff. Die Fragestellung: Was wollen Sie in der Stiftung bewirken? Hattendorff gab an, die Prozesse digitalisieren zu wollen, wusste mit konkreten Beispielen (etwa Vertragsunterschriften per Smartphone) zu überzeugen – und betonte, „dass wir viel mehr Aktivitäten in Ostdeutschland fördern müssen“: Die Region sei „für die Aventis Foundation, aber auch viele andere Stiftungen lange ein blinder Fleck“ gewesen. Und Hattendorff empfahl, ein bestehendes Crowdfunding-Projekt – Kulturschaffende können sehr einfach ihre Projekte bewerben; die Stiftung steuert bei erfolgreichen Antragstellern für jeden eingeworbenen Euro 50 Cent zu – auf die Leipziger Kunstszene auszuweiten.

Genau daran arbeitet sie aktuell. Hattendorff spürt neue Förderprojekte auf und pflegt den Kontakt zu den aktuellen Empfängern: „Von den Berliner Philharmonikern bis zur Flüchtlingshilfe in einer kleinen Gemeinde ist alles dabei.“ Sie ist zufrieden. Sie hat ihr Ziel erreicht. Ein Neuanfang. Etwas Sinnvolles tun. Und damit auch etwas für sich: „Die Arbeit hält jung“, sagt Hattendorff. Bis 70 will sie arbeiten. „Mindestens.“

Ein Glücksfall also. Und nicht typisch. Denn der Neuanfang in einer ganz anderen Branche ist besonders herausfordernd. Ältere Beschäftigte wie Hattendorff wissen sehr gut, wie sie Vorträge halten, Teams führen, mit Kunden verhandeln. Aber ihnen fehlt beim Seitenwechsel fachliche Erfahrung. Und die Einarbeitung in ein Thema dauert nun mal einige Zeit – und die ist bei älteren Mitarbeitern knapp bemessen: Viele Firmen fragen sich, wie lange sie noch etwas von ihrem eingearbeiteten Mitarbeiter haben.

Mit ihrem Studium konnte Hattendorff zeigen: Es ist mir ernst. Karriereberaterin Claudia Michalski rät älteren Arbeitnehmern deshalb dringend, regelmäßig in Weiterbildungen zu investieren, insbesondere zu digitalen Themen: „So entkräften Sie das Klischee, Sie seien in Ihrem Alter nicht mehr auf dem aktuellen Stand.“

WER WILL MICH WIRKLICH?

Die Liederhalle in Stuttgart. An einem warmen Herbsttag tummeln sich hier Hunderte Schüler mit ihren Lehrern, Anzugträger mit Bewerbungsmappen, junge Menschen auf der Suche nach einer Arbeitsstelle. Dazwischen, stark vereinzelt, ein paar Ältere. Manche stoppen am Stand von Hermann-Josef Kracht. Eine Frau sagt: „Ich bin 49, darf ich trotzdem zu Ihnen kommen?“ Kracht, 68, ist Vorsitzender des Vereins 50Plus. Er kämpft für einen „nicht wahrgenommenen“ Teil des deutschen Arbeitsmarkts: die Lebenskenner, wie er sie nennt.

Kracht, blaues Businesshemd, 1,85 Meter groß, ist ein Mann der klaren Worte – ein echter Lebenskenner halt. Sein Rat an die Ü-50-Generation: Lamentiert nicht, wenn ihr zum alten Eisen gezählt werdet. Helft euch selbst.

Konkret gehe es etwa darum, aus der Not des Stigmas eine Tugend der Kreativität zu machen, meint Kracht: andere Wege finden, abseits der üblichen Pfade, Standardbewerbungsverfahren vermeiden. Er empfiehlt, persönliche Kontakte zu nutzen, Adressbücher durchzublättern: Wen kenne ich? Und wer kennt mich, der vielleicht eine Stelle frei hat? Wo sind Unternehmer in meinem persönlichen Umfeld, in meiner Stadt, meinem Viertel, meinem Dorf, die ich kennenlernen könnte: beim Tennis, im Schützenverein oder bei Nachbarschaftstreffen?

Besonders engagierte Bürger, meint Kracht, würden auf diese Weise oft schnell fündig: „Im Ehrenamt findet man Leute, die einem helfen können. Die kennen mich, wie ich bin“, also nicht oberflächlich wie nach der Lektüre eines fein formulierten Lebenslaufes oder nach einem formalen Interview – und die kennen andere Leute: „Entweder hat der Angesprochene einen Job im eigenen Unternehmen – oder er kennt jemanden, der einen hat.“ Zumal etliche Arbeitgeber auf ihren Karrierewebseiten damit werben, Diversität in der Belegschaft fördern zu wollen, gezielt Ältere zu suchen – und gerade regional verwurzelte Mittelständler dürften auf dem „kurzen Dienstweg“ empfohlene, durch direkten Kontakt vermittelte Bewerber oft bevorzugen.

Ralf Erlenhoff, 52, ist über einen Tipp bei seinem neuen Arbeitgeber, der Deutschen Bahn, gelandet – und kam dafür von sehr weit her: aus den USA. Er kehrte im August 2023 aus familiären Gründen zurück in seine Heimat, den Ruhrpott, nach Gelsenkirchen-Buer, nach 17 Jahren in Amerika. Seinem ehemaligen Arbeitgeber, dem Elektrotechnikkonzern Schneider Electric, zu kündigen fiel Erlenhoff nicht leicht. Er verkaufte für das Unternehmen Modernisierungen von Umschaltanlagen für Generatoren im Großraum New York City an Krankenhäuser und große Gebäudebetreiber, verdiente sehr gut, hatte Spaß am Job. Aber der scharfe Schnitt musste halt sein.

Und Sorgen, einen neuen Job zu finden – nein, die habe er sich nicht gemacht, sagt Erlenhoff: „Ich verstehe, dass manche Firmen etwas vorsichtiger sind, in Ältere zu investieren, weil irgendwann die Rente kommt. Aber ich habe noch 16 Jahre, bin gut ausgebildet, habe internationale Erfahrung, spreche zwei Sprachen fließend.“

Über eine Bekannte erfuhr Erlenhoff von der Bahn-Tochter DB InfraGO, die das Schienennetz ausbessert und ausbaut. Sie erzählte ihm, die Bahn achte auf einen Altersmix, stelle gerne erfahrenes Personal ein. Und tatsächlich: Im Konzern arbeiten rund 220.000 Menschen, davon knapp 89.000, die über 50 sind. Und allein in diesem Jahr hat die Bahn eigenen Angaben zufolge bisher 2800 neue Ü-50-Mitarbeiter eingestellt.

Zog um: Ralf Erlenhoff tauschte New York gegen Gelsenkirchen – für einen Job bei der Bahn. - Foto: Maximilian Mann
Zog um: Ralf Erlenhoff tauschte New York gegen Gelsenkirchen – für einen Job bei der Bahn. - Foto: Maximilian Mann

Dem passionierten Radfahrer Erlenhoff gefiel die Vorstellung, für ein Unternehmen zu arbeiten, das mehr Verkehr von der Straße auf die Schiene holen will. Er bewarb sich – und bekam eine spezialisierte Stelle zunächst nicht: Das sei eher etwas für Leute, die das Unternehmen bereits gut kennen, hieß es. „Aber dann rief mich der Recruiter an und lud mich zu einem Job-Speeddating in Duisburg ein.“

Das Verfahren: knapp 25 Bewerber, einen Tag Deutsche Bahn kennenlernen, Interviews mit Personalern führen. Die ausgeschriebene Stelle, um die Erlenhoff sich in Duisburg bemühte: Buchführung und Kostenaufstellung für zwei Bauabschnitte zwischen Oberhausen und Emmerich auf der Hauptlinie für den Güterverkehr vom Hafen Rotterdam Richtung Italien.

Und womit hat Erlenhoff seinen neuen Arbeitgeber überzeugen können? Die Bahn-Leute hätten ihn in den Gesprächen gefragt, wie er vorgehen würde, wenn er von einer Abteilung eine Auskunft benötige, aber keine Antwort bekomme. „Ich habe gemerkt: Die wollen jemanden, der ein bisschen älter ist und weiß, wie man mit Leuten reden muss. Ich habe über 20 Jahre Erfahrung und kenne solche Situationen.“ Noch vor Weihnachten, keine vier Monate nach der Landung in Deutschland, legt er bei der Deutschen Bahn los.

MEHR ALS EINE NOTLÖSUNG

Für Ligia Fascioni verläuft die Jobsuche nicht so reibungslos. Die 57-Jährige hat lange als Elektroingenieurin in ihrer Heimat Brasilien gearbeitet – und ließ sich in einem 7000 Euro teuren Bootcamp zur User-Experience-Designerin (UX-Designerin) ausbilden, die sich darauf versteht, Nutzererlebnisse von Kunden digitaler Produkte zu optimieren – hat aber in Berlin noch keinen Job gefunden. „Ich will arbeiten und Steuern zahlen“, sagt Fascioni, „will das Gelernte anwenden.“ Sie hat unentgeltlich ein zweimonatiges Praktikum bei einem Münchner Start-up absolviert, um den Einstieg zu schaffen, aber keinen Anschlussvertrag erhalten. Offizielle Begründung: kein Geld, fehlende Investoren.

Sucht noch: Ligia Fascioni hat sich fortgebildet, tüftelt an einer App – hat aber keine Stelle. - Foto: Julia Steinigeweg
Sucht noch: Ligia Fascioni hat sich fortgebildet, tüftelt an einer App – hat aber keine Stelle. - Foto: Julia Steinigeweg

Nun ertüftelt sie mit drei Mitstreiterinnen Ende 40 und Anfang 30 eine App, die Empfehlungen für Neuankömmlinge in Städten wie Berlin oder New York bündeln soll: Wo gibt es das beste chinesische Essen? Wo finde ich meine Religionsgemeinschaft? Wer wickelt mir Locken? „Das ist alles im Internet zu finden“, sagt Fascioni, liege dort aber sehr verstreut herum: „Wir bringen das an einem Ort zusammen, an dem die Leute ihre Empfehlungen teilen können.“ Das Quartett hat sich mit seiner Idee um eine Finanzierung vom Berlin Start-up Scholarship Women beworben. Allerdings erfolglos. Jetzt muss Fascioni zweigleisig fahren, investieren, in Vorleistung gehen: die App weiterentwickeln – und um finanzielle Mittel werben.

Fascioni hat Altersdiskriminierung erlebt, sagt sie, nicht in Unternehmen, wohl aber in der Arbeitsagentur, die ihr Bootcamp zunächst nicht bezahlen wollte: „Es hat sich so angefühlt, dass sie wegen meines Alters abgelehnt haben.“

Die Bundesagentur für Arbeit (BA) scheint tatsächlich Probleme zu haben, älteren Kundinnen und Kunden adäquat zu helfen, zeigt ein Revisionsbericht der Behörde aus dem Jahr 2022. Darin heißt es, den geprüften Agenturen sei es „nicht ausreichend“ gelungen, „das individuelle Vermittlungspotenzial älterer Kundinnen und Kunden zu erkennen und im Beratungs- und Vermittlungsprozess angemessen zu berücksichtigen“.

Andererseits fällt der BA die Aufgabe zu, sorgsam mit ihrem Geld umzugehen. Deshalb erteilte sie Fascioni vor der Bewilligung die Auflage, Unternehmen zu finden, die ihr bescheinigen würden, mit den neu erlangten Kenntnissen aus dem Bootcamp erhöhe sie ihre Chancen auf einen Job. Fascioni bat daraufhin Bekannte in Unternehmen, die theoretisch an einer UX-Designerin interessiert sein könnten, entsprechende Briefe aufzusetzen – dann zahlte die Behörde ihr die Teilnahme am Bootcamp. Doch die Firmen, bei denen Fascioni sich bewarb, sagten ab: zu wenig Erfahrung.

Der ehemalige Dax-Mittelmanager Jürgen Weber hat seine Ansprüche inzwischen heruntergefahren – und sein potenzielles Einsatzfeld erweitert: Anfangs bewarb er sich nur im Rheinland, jetzt auch in ganz Deutschland. Sogar nach Dublin und London habe er einige seiner 103 Bewerbungen verschickt. Mal sehen. Als Generalist, sagt Weber, habe er es in Deutschland schwer: „Die Headhunter suchen nach wenigen fixen Kriterien, die ihnen die Kunden gegeben haben. Im englischsprachigen Raum sind die Profile ein bisschen breiter angelegt.“ Für einige der Stellen, auf die sich Weber, der ehemalige Chef von 40 Leuten, inzwischen bewirbt, ist keine Personalverantwortung vorgesehen – und ein niedrigeres Gehalt als in seinem jüngsten Job.

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NICHT ZU TIEF STAPELN!

Claudia Michalski weiß, dass viele Arbeitssuchende genauso vorgehen: „Sie würden auf 20 Prozent des Gehalts verzichten oder sich mit einem Posten als Teamleiter zufriedengeben, obwohl sie vorher Bereichsleiter waren.“ Michalski warnt, so vorzugehen. Kandidaten könnten damit Verzweiflung signalisieren – und ihren potenziellen Chef verunsichern: „Er wird denken, Sie wollen auf das alte Level zurück – und damit auf seine Position.“ Dass man freiwillig eine niedrigere Stelle annehme, werde „selten akzeptiert“, sagt Michalski und ergänzt: „Es wirkt oft unglaubwürdig und für zukünftige Chefs eher bedrohlich in Bezug auf die eigene Autorität.“

Stattdessen gelte es, die eigenen Vorzüge als ältere, erfahrene Mitarbeiter zu betonen: „Viele Menschen haben in dieser Lebensphase keine Kinder mehr im Haus, können sich voll auf den Job einlassen und sind es als Babyboomer seit jeher gewohnt, hart zu arbeiten“, sagt Michalski. Damit gilt es zu wuchern.

Erst recht in einer Zeit, in der etliche Unternehmen Werke schließen, Mitarbeiter entlassen und sich selbst eine Transformation verordnen, brauche es Führungskräfte, die gelassen und furchtlos agieren, ergänzt Headhunter Nicolas von Rosty: „Ältere Führungskräfte haben dank ihrer Erfahrungen ein dickeres Fell, schielen nicht mehr so sehr auf den Karriereaufstieg und treffen notwendige Entscheidungen, die viele Jüngere womöglich fürchten.“

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