Manch ein Japaner pflückt neben seinem eigentlichen Job noch Früchte. - Getty Images
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Zweitjob in Japan: Karriere am Kakibaum: Warum Japaner nebenher Früchte pflücken

Japaner übernehmen immer häufiger einen Zweitjob. Was in den meisten deutschen Unternehmen eher Argwohn weckt, ist durchaus im Interesse des Arbeitgebers.

Noch vor Kurzem ließ sich Mio Yamauchi nach Feierabend aufs Sofa fallen und schaute sich Serien an, um von ihrem Vollzeitjob bei Panasonic Connect abzuschalten. Nun sitzt sie zwei bis drei Mal die Woche zwischen 20 und 22 Uhr am Küchentisch und wartet aus der Ferne das IT-System einer Hochzeitsagentur. Tagsüber beschäftigt sie sich mit IT-Hardware und passt Durchsagesysteme für die Evakuierung von Gebäuden an Kundenbedürfnisse an. Abends, im Zweitjob, sind andere Kenntnisse erforderlich, etwa über Cloud-Dienste. „Ich erwerbe so eine Zusatzqualifikation, weil vieles heutzutage über Netzwerke läuft“, erklärt Yamauchi ihre Motivation für die Extraarbeit – und zugleich, warum der Zweitjob auch im Interesse ihres Arbeitgebers ist.

Panasonic Connect, die Elektroniksparte der Gruppe, erlaubt ihren fast 30.000 Mitarbeitern seit über einem Jahr ausdrücklich solch einen Nebenjob. „Das Schlüsselwort lautet ‚Eigenverantwortung für die Karriere‘, jeder Mitarbeiter soll seine beruflichen Fähigkeiten autonom gestalten“, sagt Personalmanager Satoshi Horie.

Die im Zweitjob erworbenen Kenntnisse kommen wiederum Panasonic zugute, weil sich solche Mitarbeiter flexibler einsetzen lassen. Yamauchi könnte mit ihrem neuen Know-how zum Beispiel in andere Konzernsparten wechseln. Hunderte Angestellte probieren das Angebot schon aus und arbeiten etwa als Dozenten, Ingenieure und Musiklehrer, aber auch für andere Tochterfirmen des Konzerns.

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Hat der nichts zu tun?

In den meisten deutschen Unternehmen wecken Mitarbeiter, die sich nach der Möglichkeit einer Nebentätigkeit erkundigen, eher Argwohn: Langweilen die sich etwa? Dann arbeiten sie wohl nicht genug! Wollen die sich stärker einbringen? Dann doch, bitte schön, bei mir!

In Japan ist das inzwischen anders. Wie Panasonic Connect stellen immer mehr Firmen ihren Angestellten die Aufnahme von Zweitjobs frei – und immer mehr Mitarbeiter ergreifen diese Chance: Im Jahr 2022 zählte das Innenministerium drei Millionen Beschäftigte mit einem Neben- oder Zweitjob, weitere fünf Millionen suchten danach.

Noch vor ein paar Jahren argwöhnten auch japanische Manager. Doch 2018 änderte die Regierung die Leitlinien für Unternehmen. Zweitjobs waren fortan grundsätzlich genehmigt. Weil sich daraufhin wenig tat, verlangte das Arbeitsministerium, dass Unternehmen ihre Bedingungen für die Aufnahme einer Nebentätigkeit veröffentlichen. Das Kalkül dahinter: Japans starrer Arbeitsmarkt, auf dem viele vom Berufseinstieg bis zum Renteneintritt beim gleichen Arbeitgeber bleiben, sollte durchlässiger werden. Unternehmen aus neueren Branchen sollte der Zugang zu erfahrenem Personal erleichtert werden.

Ein weiterer Gedanke der Regierung: Wer über Nebenjobs zusätzliche Berufserfahrung sammelt, senkt das Risiko längerer Arbeitslosigkeit, wenn das einst Erlernte nicht mehr gebraucht wird. Und er erhöht zugleich die Aussichten, sich in solch einem Fall selbstständig zu machen. Diese Logik skizziert das Grundsatzpapier zum „neuen Kapitalismus“ von Premierminister Fumio Kishida. Auf diese Weise würden Arbeitnehmer schneller von siechenden Wirtschaftszweigen in Wachstumsbranchen wechseln.

„Im alten System waren die Angestellten das exklusive Eigentum der Unternehmen“, sagt Keitaro Kawakami vom Shufu Job-Forschungsinstitut. „Die Zulassung von Zweitjobs bedeutet, dass die Angestellten vom privaten zum gesellschaftlichen Eigentum werden.“

Mithilfe der Zweitjobs will der Staat auch den Mangel an Fachkräften lindern, indem Festangestellte in Städten aus dem Homeoffice heraus für kleinere Unternehmen auf dem Land arbeiten. Wer mit den Stichworten „lokal“ und „Nebenbeschäftigung“ online sucht, findet ein halbes Dutzend Webportale, die sich gezielt an Erwerbstätige mit Vollzeitstelle richten: Der Pflaumenverarbeiter Umehikari aus Wakayama im ländlichen Westen sucht Unterstützung beim Export seiner Produkte. Der Fass-Sauna-Hersteller Tohowood braucht jemanden, der bei der Kostenkontrolle hilft.

Neue Erfahrungen sammeln

Mehr als 11.000 Festangestellte mit einem deutlich überdurchschnittlichen Einkommen haben sich etwa auf dem Portal Skill Shift als Zweitjobsucher registriert. Rund 70 Prozent davon sind zwischen 30 und 40 Jahre alt. Etwa Tsuyoshi Mizuno, Marketingmanager in einem Thermalbad-Hotel, der zwei Mal im Monat einen Betrieb in seiner Heimatstadt dabei berät, Abläufe effizienter zu gestalten und neue PR-Ideen zu entwickeln. So wolle er Erfahrung im Management sammeln, um den eigenen Familienbetrieb bald übernehmen zu können, daher begrüße sein Chef und Vater den Nebenjob.

Laut einer Umfrage des Forschungsinstituts vom Personalvermittler Persol aus dem vergangenen Sommer erlauben über 60 Prozent der 1500 befragten Unternehmen Nebenjobs. Mehr als 40 Prozent der 57.000 befragten Arbeitnehmer suchen eine Zusatztätigkeit, aber nur 7 Prozent üben sie aus. Die Diskrepanz resultiere aus der Sorge vieler Beschäftigen, die Ansprüche zweier Arbeitgeber nicht vereinbaren zu können, erzählte jemand, der nebenher als Autor arbeitet, dem Wirtschaftsmagazin „Toyo Keizai“. „Die einen“, beschreibt er das Dilemma, „fürchten, durch einen Zweitjob nicht mehr genug Zeit für ihre Hauptarbeit zu haben, und die anderen, nicht mehr genügend Zeit für sich selbst.“ Die Ingenieurin Yamauchi belastet die abendliche Extraarbeit weniger als erwartet. „Es sind ja nur fünf, sechs Stunden in der Woche“, erzählt die 30-Jährige.

Neben dem Einkommen und den Karrierechancen steigert der Nebenjob offenbar auch die Leistung. Das legt zumindest eine Umfrage von Persol unter 2000 Zweitjobbern nahe. Mehr als zwei Drittel der Befragten gaben an, einen „positiven Effekt“ auf ihre Hauptarbeit zu spüren. Rund 30 Prozent „erweiterten ihre Perspektive“ und jeweils 19 Prozent „lernten neue Fähigkeiten“ und „vergrößerten ihre Motivation“. „Diese deutliche Wirkung spricht dafür, dass die Unternehmen Nebentätigkeiten fördern sollten“, sagt Persol-Forscher Ryota Nakamata.

Auch bei Yamauchi sorgt der Zweitarbeitgeber für einen emotionalen Bonus. „Hochzeiten sind ein spezielles Geschäft, bei dem die Kunden ihre Hoffnungen und Träume offenlegen. Die Agentur arbeitet mit Leidenschaft, Tempo und Aufgeschlossenheit – diese Gefühle kann ich aus der Nähe miterleben“, erzählt sie.

Allerdings geben viele Firmen strenge Regeln für die Genehmigung des Nebenjobs vor. So dürfen Arbeitnehmer in den allermeisten Fällen nicht für einen Wettbewerber arbeiten. Auch begrenzen viele Arbeitgeber das Zweitengagement zeitlich. Panasonic Connect zum Beispiel beschränkt den maximalen Aufwand auf 60 Stunden im Monat oder drei Stunden täglich, mindestens ein Tag am Wochenende muss frei bleiben. Einige Unternehmen achten explizit darauf, dass die erworbenen Fähigkeiten zu den eigenen Anforderungsprofilen passen. Das Handelshaus Mitsui untersagt seinen recht üppig bezahlten Mitarbeitern, Zweitjobs aus finanziellen Gründen anzunehmen. Erlaubt aber Nebentätigkeit als Berater für Tech-Start-ups oder als YouTube-Influencer.

Andere Arbeitgeber gehen die Sache pragmatischer an: Weil die Bauern sonst nicht genug Erntehelfer gefunden hätten, erlaubte die Stadtverwaltung von Gojo ihren Angestellten, die Landwirte zu unterstützen und nach der Arbeit Kakis zu pflücken.

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