Die Altrozentriker kommen
Georg Vielmetter -
Kann es sein, dass sich die Welt gerade ziemlich verändert? Der Computer, auf dem ich schreibe, hätte vor einigen Jahren IBM geheißen und wäre ein amerikanisches Produkt gewesen. Heute heißt er Lenovo und ist chinesisch. Der Wagen, den ich fuhr, als ich noch einen besaß, war ein in Belgien hergestellter Volvo - der Stolz der schwedischen Autoindustrie. Dort wird er immer noch hergestellt, doch nun ist er der Stolz des chinesischen Produzenten Geely. Und der Fernseher des letzten großen europäischen Herstellers, den ich kürzlich kaufte, war bereits am Tag seiner Anlieferung ein - na? richtig! - chinesisches Produkt. Philips sah für diese Division keine Zukunft mehr.
Auch die Art, wie wir Leben und Arbeit organisieren, ist im Umbruch: Die Finanzchefin, die ich im Rahmen eines Private-Equity-Deals interviewte, arbeitet nur 60 Prozent, um mehr Zeit mit ihrem Kind zu verbringen. Nicht einmal die Dealmaker waren davon irritiert, sondern lobten ihre gute Arbeit unter schwierigen Umständen. Der Leiter einer wichtigen Geschäftseinheit, den ich in Norwegen einstellte, teilte mir noch vor der Unterschrift mit, dass er jetzt erst einmal vier Monate in Elternzeit gehe. Ehrlich gesagt, war ich schon überrascht - was wiederum meine skandinavischen Kollegen überraschte.
Konkurrenten, seit Jahrzehnten in Abneigung verbunden, forschen im belgischen Löwen gemeinsam daran, nanotechnologisch Chips zu stapeln. Autohersteller, die früher den Namen des anderen nicht in den Mund genommen hätten, entwickeln gemeinsam Motoren. Nahrungsmittelhersteller kaufen Pharmafirmen.
Wenn Sie wollen, können Sie im Internet Ihren Chef bewerten, am besten mit Foto und im Vergleich mit anderen. Danach könnten Sie sich eine funktionsfähige Pistole ausdrucken. Oder die Freundschaftsanfrage Ihres Praktikanten auf Facebook annehmen.
Wir alle nehmen wahr, dass sich Machtverhältnisse verschieben und Arbeitspraktiken massiv verändern. Eine Vielzahl tief greifender, sich wechselseitig verstärkender Megatrends beeinflusst Wirtschaft und Unternehmen; Führung und Organisation sind im Umbruch. Aber was geschieht da eigentlich genau? Und was bedeutet das für uns als Unternehmenschefs und Führungskräfte? Wie wird sich Führung in den kommenden 15 bis 20 Jahren verändern müssen, um mit den vielfältigen, komplexen Umwälzungen umzugehen?
Das wollten wir genauer herausfinden und haben in der Hay Group ein entsprechendes Forschungsprojekt aufgesetzt. Am Anfang stand naturgemäß die Frage, wie man konzeptionell Licht ins Dunkel bringen könne. Dabei erschien der von John Naisbitt in den 80er Jahren eingeführte Begriff des Megatrends besonders hilfreich. Megatrends sind durch drei Merkmale charakterisiert: Sie sind 1. langfristige Transformationsprozesse von 2. globaler, die Gesellschaft und alle Subsysteme umfassender Reichweite, auf die sie 3. massive Wirkung entfalten (siehe Kasten "Was sind Megatrends?") .
Gemeinsam mit der Kölner Zukunftsforschungsagentur Z_punkt analysierten wir zunächst die etwa 20 Megatrends, denen in Studien regelmäßig ein erheblicher Einfluss auf Gesellschaft und Wirtschaft zugeschrieben wird. Diese Analyse war die Grundlage für unsere weitere Arbeit, in der wir uns schließlich auf jene sechs Megatrends fokussierten, die eine massive Transformation in der Wirtschaft und insbesondere beim Thema Führung bewirken:
1. Globalisierung 2.0 Wirtschaftsmacht verschiebt sich von West nach Ost. Dort wächst die Mittelschicht.
2. Umweltkrisen Es kommt verstärkt zu Extremwetterereignissen, anderen Auswirkungen des Klimawandels und Rohstoffknappheit.
3. Individualisierung und Wertepluralismus Infolge wachsenden Wohlstands steigt die Vielfalt. Kunden- und Mitarbeiterloyalität nehmen ab.
4. Digitale Lebens- und Arbeitsweise Arbeitspraktiken verändern sich; die Grenzen zwischen Privat- und Berufsleben verschwimmen.
5. Demografischer Wandel Mitarbeiter werden knapp; Migration verstärkt sich; Diversität wächst; die Anforderungen an Arbeit ändern sich; der "War for Talents" wird intensiver.
6. Technologische Konvergenz Die Annäherung zwischen Nano-, Bio-, Informations- und Kognitiven Wissenschaften verlangt eine enge Zusammenarbeit zwischen bislang unabhängigen Einheiten und führt zu neuartigen Produkten, die Aspekte unseres Alltags komplett verändern können.
Um diese Trends weiter zu validieren, führten wir Hunderte von Gesprächen mit Managern, Wissenschaftlern und Beraterkollegen, hielten Dutzende Vorträge und veranstalteten Workshops, in denen wir den Megatrends auf den Grund gingen. Außerdem griffen wir auf unsere hausinternen Datenbanken zu und analysierten die Sichtweisen Tausender Mitarbeiter zur Führungskultur in ihren Unternehmen. Dadurch waren wir in der Lage, die Konsequenzen jedes Megatrends genau zu verstehen.
Die nächste Forschungsphase bestand darin, die sechs Megatrends im Zusammenspiel zu analysieren. Was haben sie gemeinsam? Gibt es Konvergenzen? Wo verstärken sie sich wechselseitig, wo widersprechen sie sich? Daraus ergab sich für uns die grundlegende Frage: Was müssen Unternehmen und ihre Führungskräfte tun, um in einer von konvergierenden Megatrends charakterisierten Welt zu bestehen und wettbewerbsfähig zu bleiben?
Ausführlich analysiere ich die Megatrends und ihre Auswirkungen in dem Buch "Leadership 2030: The Six Megatrends You Need to Understand to Lead Your Company into the Future", das ich gemeinsam mit meiner Kollegin Yvonne Sell aus dem Londoner Büro der Hay Group geschrieben habe.
Hier nun eine kurze Darstellung der Megatrends und ihrer dramatischen Auswirkungen:
Wir befinden uns am Anfang einer neuen Weltwirtschaftsordnung, die ich Globalisierung 2.0 nenne: Der Osten geht nach Westen. In der bis vor Kurzem vorherrschenden Form der Globalisierung gab es die umgekehrte Bewegung: Westliche Gesellschaften dominierten, und westliche Unternehmen gingen nach Osten, um Lohnkostenvorteile zu nutzen - China, Pakistan, Bangladesch als Sweatshops des Westens.
Das ist heute immer noch so. Doch gleichzeitig werden wir Zeuge einer gewaltigen Verschiebung von Wirtschaftsmacht nach Osten. Wie die anfangs erwähnten Beispiele von Volvo, Lenovo und Philips zeigen, ist Asien nicht mehr ausschließlich billige Produktionsstätte des Westens. Vielmehr ist China im Begriff, die USA als größte Volkswirtschaft zu überholen. Allein in Deutschland haben chinesische Unternehmen seit 2008 rund 300 Investitionsvorhaben durchgeführt; das Land ist damit der drittgrößte Investor. 2013 kamen bereits ein Viertel aller ausländischen Direktinvestitionen in Deutschland aus Asien. Gleichzeitig boomt der Handel zwischen aufstrebenden Volkswirtschaften. So löste China schon 2009 die USA als wichtigster Handelspartner Brasiliens ab. Und die BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) sind zunehmend bemüht, ihren Einfluss auf die globalen Finanzmärkte auszubauen. Dafür haben sie im Sommer 2014 eine neue Entwicklungsbank und einen Reservefonds gegründet - auch um sich unabhängiger vom US-Dollar und dem Westen zu machen. Dominanter Akteur ist wiederum China.
Mit dieser raschen ökonomischen Entwicklung besonders der asiatischen Länder ist ein weiteres Phänomen verbunden, das massive Auswirkungen auf Unternehmen hat: das explosionsartige Wachstum der Mittelschicht. Sie wird sich in den nächsten 15 bis 20 Jahren von aktuell etwa 1,5 Milliarden auf voraussichtlich etwa 3,5 Milliarden Menschen mehr als verdoppeln. Dabei wird sich der Schwerpunkt der Kaufkraft eindeutig nach Asien verschieben. Dies führt zu einem intensiven Wettbewerb um neue Märkte, die von starken lokalen Merkmalen und neuen Kaufmustern geprägt sind.
Das alte Motto "Think globally, act locally" war daher niemals relevanter als heute. Eine einzige zentralisierte Strategie für alle Märkte funktioniert unter den Bedingungen von Globalisierung 2.0 nicht mehr. Unternehmen müssen daher eine "glokalisierte" Strategie entwickeln und sehr agil werden, um lokalen Präferenzen gerecht zu werden und wettbewerbsfähig zu bleiben.
Die Zeichen einer globalen Umweltkrise sind erschreckend real. Der Klimawandel löst extreme Wetterereignisse aus, die jedes Jahr mehr Opfer fordern und mehr Geld verschlingen. So schlagen beispielweise in China die Kosten für Krankheiten, die durch Luft-und Wasserverschmutzung ausgelöst wurden, mit etwa 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu Buche. Hinzu kommt, dass viele Rohstoffe - Öl, Gas, Seltene Erden - auf lange Sicht knapp werden, gleichzeitig aber in den aufstrebenden Volkswirtschaften eine verstärkte Nachfrage nach ihnen entsteht. Die beiden zentralen Elemente der Umweltkrise - Klimawandel und Ressourcenknappheit - führen damit zu Dilemmata, die eigentlich nach radikalen Lösungen verlangen.
So wird die Umweltkrise höhere Kosten, reduzierte Margen und größere Volatilität mit sich bringen. Sie zu bewältigen erfordert komplexe, innovative Strategien und neue Formen der Zusammenarbeit - auch mit Wettbewerbern. Nachhaltigkeit wird zu einer Frage der Wettbewerbs-, ja sogar der Überlebensfähigkeit von Unternehmen; CO2-Reduktion ist in Zukunft unerlässlich. Der gesellschaftliche Druck, Unternehmen nach dem Gebot der Nachhaltigkeit zu strukturieren und zu führen, wird stark ansteigen. Nachhaltigkeit ist damit kein Thema mehr für bunte Corporate-Social-Responsibility-Broschüren, sondern entscheidend für Gewinn oder Verlust.
Eine zentrale Aufgabe für Führungskräfte wird darin bestehen, eine Struktur und Kultur der Nachhaltigkeit zu entwickeln, umzusetzen und diesen Wandel klar und entschieden zu kommunizieren.
Wir befinden uns in einer Phase wachsender Individualisierung, die auch den Wertepluralismus in unserer Gesellschaft verstärkt. Wesentliche Treiber hierfür sind die massiv wachsende Mittelschicht und die zunehmende Digitalisierung.
Hunderte Millionen Menschen in aufstrebenden Ökonomien werden bald neue Lebens- und Karriereoptionen entdecken. Zum ersten Mal haben sie dann die Chance, Entscheidungen zu treffen, die nicht unter materiellem Zwang entstehen, sondern ihre individuellen Werte berücksichtigen: Lebensstil, Anerkennung, Selbstverwirklichung, Überzeugungen werden für viele mittelfristig wichtiger als die drei Ps "Price", "Pay" und "Promotion". Dieser Trend, den wir in den reifen Volkswirtschaften schon länger wahrnehmen, wird sich hierzulande noch verstärken. Work-Life-Balance wird zu einem zentralen Konzept werden, genauso wie wertorientiertes Arbeiten. Traditionelle Karrieren sind nach wie vor eine Option, aber eben nur noch eine unter vielen. Individuen möchten individuell behandelt werden und erwarten von ihren Arbeitgebern, ihre spezifischen Bedürfnisse und Erwartungen anzuerkennen. Auch als Konsumenten wünschen sie sich von Unternehmen Produkte und Dienstleistungen, die auf ihre individuellen Bedürfnisse abgestimmt sind.
In einer individualisierten Welt können Unternehmen nicht erwarten, dass ihre Mitarbeiter über lange Zeit loyal bleiben. So wird auch Loyalität einen individuellen Charakter bekommen. Mitarbeiter sind dann weniger gegenüber Unternehmen loyal, sondern vielmehr gegenüber einzelnen Personen. Wenn Unternehmen lokale Marktopportunitäten identifizieren und mit maßgeschneiderten Produkten bedienen wollen, müssen sie außerdem ihre Reaktionsgeschwindigkeit erhöhen. Zukünftige Manager werden Organisationen so gestalten, dass sie den Arbeitsbedürfnissen der Mitarbeiter entgegenkommen. Dies führt zu flacheren, flexibleren, dezentralen Strukturen.
Digitale Technologien werden die Machtbalance zwischen Unternehmen, ihren Mitarbeitern und ihren Kunden massiv verschieben. Im digitalen Zeitalter können Konsumenten schnell und flexibel Anbieter vergleichen, aber sie können genauso gut auch untereinander handeln. Viele Mitarbeiter werden zukünftig zu jeder Zeit, von überall, auf welchem technischen Gerät auch immer arbeiten können, was traditionelle Arbeitsplätze und Hierarchien infrage stellt.
Arbeit wird zunehmend virtuell, und soziale Medien lassen die Grenzen zwischen Privatleben, öffentlichem Leben und Arbeit verschwimmen. Damit kommt dem Thema Reputation eine neue Bedeutung zu: Der Ruf sowohl von Individuen als auch von Unternehmen wird fragil; sie können schnell Schaden nehmen oder gar einen Shitstorm erleben, wenn diskreditierende Vorfälle in die Öffentlichkeit gelangen.
Die virtuelle Welt spricht vor allem die sogenannten Digital Natives ("Millennials", "Generation Y") an. Hier haben sie einen klaren Vorteil gegenüber älteren Kollegen, der ebenfalls zu einer Machtverschiebung führt. Gleichzeitig sind es gerade die Digital Natives, die bisweilen wenig Sinn und Respekt für gewachsene Unternehmenskulturen, Hierarchien und Konventionen haben. Unternehmen müssen beiden Generationen gerecht werden und wechselseitiges Lernen ermöglichen; generationenübergreifendes Management rückt in den Fokus (siehe dazu auch den Kasten rechts).
Führungskräfte der Zukunft stehen vor der Aufgabe, Menschen zu führen, die sich an verschiedenen Orten befinden und sich im Hinblick auf Werte, Ethnie, Alter und digitales Wissen deutlich unterscheiden. Diese für das digitale Zeitalter typischen losen Teams sollen trotzdem eine Einheit bilden und engagiert zusammenarbeiten. Dabei erfordert die digitale Transparenz höchste Standards bei Integrität und Aufrichtigkeit.
Die alternde Bevölkerung verändert die Arbeitswelt dramatisch. Zwar wächst die Weltbevölkerung insgesamt, aber im Westen (und in China) schrumpft sie und altert zugleich stark. Das bedeutet chronischen Nachwuchsmangel, Kompetenzen und Fähigkeiten verknappen. Bereits jetzt befürchten 64 Prozent der deutschen Mittelständler für die kommenden Jahre Umsatzeinbußen durch Fachkräftemangel. Jedes zweite IT-Unternehmen hält diesen sogar für existenzbedrohend.
Der "War for Talents" wird dadurch weiter zunehmen. Unternehmen müssen alles tun, um möglichst viele und unterschiedliche Talente anzuziehen, zu entwickeln und zu halten. Diversität wird zu einer Schlüsselkompetenz. Führungskräfte müssen lernen, genau zuzuhören und Empathie zu entwickeln, auch und gerade gegenüber Mitarbeitern, die ihnen kulturell ferner stehen. Schon heute beschäftigen 13 Prozent aller Unternehmen in Deutschland Fachkräfte aus dem Ausland. Und weil auch die Migration in westliche Länder deutlich zunehmen wird, müssen sich Unternehmen auf viele weitere Arbeitskräfte aus anderen Kulturen einstellen.
Wir werden gerade Zeuge extremer technischer Innovationen, die unser Alltagsleben in einer Weise verändern, die wir uns noch gar nicht richtig vorstellen können.
Das Hauptmerkmal dieser Innovationen ist die technologische Annäherung zwischen Nano-, Bio-, Informations- und Kognitiven Wissenschaften (auch bekannt als NBIC), die neuartige Entwicklungen in Gesundheit, Medizin, Produktion, Kommunikation, Energie oder Nahrung bringen soll. Einige Beispiele:
das "Wundermaterial" Graphen - extrem dünn und elastisch, aber 200-mal robuster als Stahl;
Nanobots - winzige, in die Blutbahn injizierte Roboter, die Krankheiten entdecken und eliminieren könnten;
RNA-Interferenz - eine Technik, mit der sich Gene, die für Krankheiten und Alterung verantwortlich sind, möglicherweise ausschalten lassen;
3-D-Printing - eine Technik, die es erlaubt, mithilfe inzwischen preiswerter Drucker dreidimensionale Strukturen auszudrucken.
Diese Entwicklungen sind forschungsintensiv und teuer. Wettbewerb führt zu immer größerem Innovationszwang, der ohne "Big Collaboration" - die enge Zusammenarbeit zwischen Unternehmensbereichen, verschiedenen Organisationen und unterschiedlichsten Forschungsdisziplinen - nicht möglich ist. Coopetition, die anstrengende, aber notwendige Zusammenarbeit mit Wettbewerbern, wird zunehmen. Für Unternehmen bedeutet das, neue, offenere Strukturen und Kulturen zu entwickeln, die das gemeinsame Erarbeiten und Teilen von Wissen ermöglichen.
Führungskräfte müssen die richtige Balance finden zwischen dem Übertragen von Verantwortung und Kontrolle, zwischen Freiräumen für Grundlagenforschung und gezielten Produktentwicklungen. Das verlangt besondere Fähigkeiten der Zusammenarbeit und Einflussnahme. Ohne selbst wirkliche Experten sein zu können, müssen Führungskräfte genug über die unterschiedlichen Forschungsdisziplinen wissen, um Mitarbeitern Sprache und Denkweise der jeweils anderen Seite nahezubringen. Dabei müssen sie so behutsam vorgehen, dass sie die kreative Spannung zwischen den unterschiedlichen Disziplinen nicht zerstören. Starke kognitive Fähigkeiten, intellektuelle Neugier und emotionale Offenheit sind dafür unerlässlich.
Zudem brauchen Manager die Souveränität, mit Unsicherheit und Mehrdeutigkeit umzugehen, weil die Ergebnisse der NBIC-Konvergenzen nur sehr schwer vorhersagbar sind - ganz zu schweigen von den ethischen Problemen vieler dieser Forschungen im Grenzbereich, mit denen sie gesellschaftlich verantwortungsvoll umgehen müssen.
Jeder einzelne Megatrend wird dramatische Auswirkungen auf Unternehmen und ihre Führungskräfte haben. Diese Effekte entwickeln sich zeitlich parallel, nehmen Bezug aufeinander und intensivieren sich zum Teil gegenseitig. Darum ist es wichtig, die Wechselwirkungen der Megatrends zu analysieren.
Für unser Buch haben wir diese Analyse erstmals durchgeführt und herausgefunden, dass die Megatrends in der Gesamtschau sowohl sich wechselseitig verstärkende Effekte produzieren als auch zu widersprüchlichen Konsequenzen führen - wir nennen sie "Verstärker" und "Dilemmata":
Führungskräfte müssen sich auf die Ansprüche, Bedürfnisse und Forderungen einer wachsenden Zahl von Anspruchsberechtigten (Stakeholder) einstellen. Dazu zählen neben Eigentümern und Investorn auch Mitarbeitergruppen mit unterschiedlichen Erwartungen, Managergruppen, Kunden, externe Partner (einschließlich Wettbewerbern) sowie gesellschaftliche und politische Akteure.
In Zukunft wird sich die Macht in Unternehmen deutlich verschieben - weg von den Topmanagern, hin zu verschiedenen Stakeholder-Gruppen. Positionale Macht wird damit gerade dann geschwächt, wenn Führungskräfte durch die Megatrends vor besonderen Herausforderungen stehen.
Der Arbeitsalltag vieler Mitarbeiter wird sich massiv verändern. Arbeitsplätze werden virtueller und mobiler; die Grenzen zwischen Arbeit, Privatleben und Öffentlichkeit verschwimmen. Immer öfter findet Führung in räumlicher Distanz zu den Mitarbeitern statt. Der Unwille vieler Menschen gegenüber formaler Autorität nimmt zu.
Die mit der Geschäftstätigkeit verbundenen Kosten werden massiv ansteigen. Gründe dafür sind der Mangel an hoch qualifizierten Mitarbeitern, knappe Rohstoffe, wachsende Komplexität durch die Globalisierung sowie hohe Forschungs- und Entwicklungskosten der NBIC-Innovationen.
Umweltkrisen machen nicht vor dem Werkstor halt, NBIC-Innovationen werfen neue moralische Fragen auf, und die Digitalisierung erfordert erheblich größere Transparenz. Daher müssen Führungskräfte die ethischen Aspekte ihrer Entscheidungen genau bedenken, wenn sie von den Kunden und der Gesellschaft akzeptiert werden und damit konkurrenzfähig bleiben wollen.
Einerseits lässt die zunehmende Globalisierung eine deutlich steigende Mobilität von Arbeitskräften und erheblich mehr Reisen erwarten. Andererseits verlangen Umweltschutz, knappe Ressourcen und dadurch steigende Kosten eine drastische Reduzierung solcher Reisetätigkeit.
Zunehmende Rohstoffknappheit fällt zusammen mit zunehmendem Bedarf an Rohstoffen, ausgelöst vor allem durch Globalisierung 2.0 und Digitalisierung.
Steigende Komplexität führt meist auch zu komplexeren Strukturen. Doch der zunehmende Individualismus verlangt nach flachen Organisationsstrukturen.
Auch hier herrscht ein auffälliges Missverhältnis vor: Das digitale Zeitalter ist von einer Kultur der Unmittelbarkeit geprägt; unsere Aufmerksamkeitsspanne sinkt. Gleichzeitig erfordern der Klimawandel und andere globale Probleme, dass wir langfristig denken, um nachhaltige Lösungen zu finden.
Die komplexen, sich wechselseitig verstärkenden Effekte der Megatrends stellen Führungskräfte vor gewaltige Herausforderungen. So müssen sie beispielsweise aus ganz unterschiedlichen, oft unabhängigen, irgendwo im virtuellen Raum arbeitenden Mitarbeitern ein loyales Team schaffen - und das, ohne viel direkte Macht über sie zu besitzen. (Siehe dazu auch das Beispiel von Arvi, dem Programmierer, im Kasten oben.) Stellen wir uns eine typische Arbeitsgruppe in 20 Jahren vor: Sehr wahrscheinlich werden einige der Teammitglieder um die 70 Jahre alt sein, andere Digital Natives in den Vierzigern und Fünfzigern, weitere - für die wir noch keinen Namen haben - in den Zwanzigern. Dieser bunte Mix an Mitarbeitern ist über vier Kontinente verteilt, hat verschiedene Nationalitäten, Hintergründe, Kulturen, Werte und Überzeugungen. Wahrscheinlich sprechen alle ihre Muttersprachen, die simultan von Computern übersetzt werden.
Ein traditionell direktiver, auf Kontrolle aufbauender Führungsstil kann in einer solchen Umgebung nur versagen. Er ist schon heute zumeist nicht effektiv, aber in der nahen Zukunft wird er als völlig überholt gelten. Die Führungskräfte der Zukunft brauchen daher ein anderes Selbstverständnis von sich als Leader und müssen bereit sein, nicht ihren persönlichen Machtzuwachs in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen zu stellen, sondern die Ermächtigung anderer. Macht darf dann nicht mehr in erster Linie personalisiert verstanden werden, sondern sozialisiert. Das bedeutet: Das Zeitalter der egozentrischen Alphamännchen ist vorbei. Führungskräfte der Zukunft müssen ihr Ego unter Kontrolle halten. Ich nenne dieses Verhalten altrozentrisch. (Der Begriff ist dem Lateinischen entlehnt und bedeutet so viel wie "den anderen [Menschen] ins Zentrum stellend".)
Altrozentrikern ist - im Gegensatz zu Egozentrikern - bewusst, dass sie als Führungskraft immer in einer Beziehung zu anderen stehen und dass Führung kontextabhängig ist. Sie wissen, dass sie mit ihrer Macht und ihrem Einfluss von anderen abhängen. Nur wenn sie andere stark machen, werden sie selbst stark. Altrozentriker weisen ein beachtliches Maß an Empathie, emotionaler Reife, Integrität, Offenheit und emotionaler Intelligenz auf. Sie können gut zuhören. Sie behandeln andere als Individuen - als Menschen, nicht als Ressourcen - und haben hohe ethische Standards.
Altrozentriker denken strategisch. Sie verstehen, dass sich die Wirtschaft und ihr Geschäftsumfeld gerade massiv verändern. Sie sind in der Lage, andere durch die damit verbundene Ungewissheit zu führen. Gleichzeitig schaffen sie die Bedingungen dafür, dass Mitarbeiter in ihrer Arbeit Sinn und Bedeutung finden.
Altrozentrischen Führungskräften ist bewusst, dass Unternehmen andere Strukturen und Kulturen benötigen, um in einer Welt der oben beschriebenen Megatrends zu bestehen. Wachsende Komplexität verleitet viele von ihnen dazu, mehr Kontrolle auszuüben und Mitarbeiter direkter zu führen. Aber in einer globalisierten, digitalisierten und individualisierten Welt funktioniert das nicht: Mitarbeiter werden darauf bestehen, größere Handlungsfreiheit und mehr Eigenkontrolle über ihr Leben und ihre Arbeit zu erhalten. Die räumliche Distanz und technischen Möglichkeiten tragen ihr Übriges zu der Entwicklung bei.
Altrozentrischen Führungskräften kann die Quadratur des Kreises gelingen, wenn sie in der Lage sind, begrenzte Autonomie ("Bounded Autonomy") herzustellen: Weitgehende Eigenständigkeit des einzelnen Mitarbeiters, die aber eine klare Richtung und wahrnehmbare Grenzen hat. Um Mitarbeitern Entscheidungsbefugnis zu geben und ihnen die Richtung zu weisen, werden Führungskräfte selbst vorleben müssen, für welche Verhaltensweisen, Werte und Kompetenzen das Unternehmen steht.
Ob Unternehmen künftig aufsteigen oder untergehen werden, hängt davon ab, ob sie die Konsequenzen der Megatrends wirklich verstehen und entsprechende Bewältigungsstrategien entwickeln. Diese werden für jedes Unternehmen anders aussehen, daher ist jede einzelne Führungskraft gefordert, Lösungen zu finden. Meiner Meinung nach ist dies nur mit einem altrozentrischen Führungsverständnis zu schaffen.
Für Unternehmen gilt: Sie müssen künftig auch die Welt außerhalb ihrer Organisation und ihrer Branche einbeziehen. Sie müssen ungewöhnlich und in Szenarien denken. Ihnen muss klar sein, dass eine einzelne dominante Persönlichkeit an der Spitze - und sei sie noch so begabt und strategisch gewieft - dazu nicht in der Lage ist. Die Zeit der Helden ist vorbei. Altrozentriker arbeiten in starken, echten Teams.
Jeder massive Wandel erzeugt Unbehagen, Sorge, vielleicht Furcht oder sogar Angst. Aber er kann auch aufregend sein. Abraham Lincoln hat gesagt, die beste Art, die Zukunft vorherzusagen, sei, sie selbst zu gestalten. Vielleicht fangen wir einfach mal an. © 2014 Harvard Business Manager
Von Georg Vielmetter
Georg Vielmetter ist Mitglied der europäischen Geschäftsleitung der globalen Managementberatung Hay Group. Er leitet die Leadership and Talent Practice in Europa und ist der Koordinator der anderen Beratungsbereiche. Er berät und coacht Spitzenmanager sowie Topteams und publiziert und spricht zu Fragen der Führung.
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Service Literatur
Georg Vielmetter, Yvonne Sell: Leadership 2030. The Six Megatrends You Need to Understand to Lead Your Company into the Future, Amacom 2014. John Naisbitt: Megatrends. Ten New Directions Transforming Our Lives, Warner Books 1982. HBM Online David A. Lubin, Daniel C. Esty: Megatrend Nachhaltigkeit, in: Harvard Business Manager, Juli 2010, Seite 74, Nachdrucknummer 201007074.
Internet
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In einem Blogbeitrag erklären Georg Vielmetter und Yvonne Sell, warum Führung in Zukunft sehr viel ungemütlicher wird: bit.ly/1pH8kUT
Video: Vielmetter und Sell über das Konzept altrozentrischer Führung: bit.ly/1twSxZG
Wie Stephen Elop bei Nokia altrozentrische Führung bewies und den Konzern neu aufstellte: bit.ly/1AWNV13
Warum wir alle von Digital Natives lernen müssen: bit.ly/1fKmZHH Kontakt georg.vielmetter@haygroup.com
© 2014 Harvard Business Manager
