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Die Kraft der Kritik

ROBERTO VERGANTI -

An Ideen für neue Produkte, Dienstleistungen und Geschäftsmodelle mangelt es wahrlich nicht. Moderne Ansätze der Ideenfindung wie Design Thinking und Crowdsourcing machen es Unternehmen unglaublich leicht, für relativ wenig Geld ein großes Reservoir an Konzepten von Kunden, Designern und Wissenschaftlern anzuzapfen. Trotzdem fällt es vielen Unternehmen immer noch schwer, große Chancen zu identifizieren und zu nutzen. Ein Spartenleiter bei einem globalen Unterhaltungselektronikkonzern sagte mir vor Kurzem: "Wir haben jede Menge Ideen, aber ehrlich gesagt wissen wir gar nicht, was wir damit anfangen sollen. Zwar haben wir auch schon ungewöhnliche Dinge ausprobiert, aber letztlich sind wir immer wieder bei den bekannten Ansätzen hängen geblieben." Ich habe die Erfahrung gemacht, dass dieses Unternehmen eher die Regel als die Ausnahme ist.

Woran liegt das? Clayton Christensen, der mit seiner Theorie der disruptiven Innovationen bekannt wurde, W. Chan Kim und Renée Mauborgne, die Begründer der Blue Ocean Strategy, haben gezeigt, dass tief greifende gesellschaftliche oder technische Veränderungen die Vorstellungen davon, was wertvoll ist, grundlegend infrage stellen können. Das wirft dann auch die Kriterien über den Haufen, mit denen Unternehmen entscheiden, welche Kundenprobleme sie lösen könnten. Wenn Manager herausfinden wollen, welche Ideen wirklich Potenzial haben, brauchen sie neue Bewertungskriterien. Ich wollte wissen, welche Kriterien genau das sein könnten, und habe 24 Unternehmen untersucht, die große Chancen erfolgreich genutzt haben – und mit ihnen zusammengearbeitet. Aus den einzelnen Ansätzen habe ich einen vierstufigen Prozess entwickelt, den ich Unternehmen heute empfehle. (Die vier Schritte lassen sich auch einzeln sinnvoll einsetzen.) Mein Prozess ist ein Kompliment an die "strategische Kontur" (englisch Strategy Canvas) von Kim und Mauborgne zum Erschließen blauer Ozeane (also neuer Produktfelder und Märkte) und an Christensens Methode, nach Aufgaben zu suchen, die erledigt werden müssen, um disruptive Innovationen zu finden. Rund ein Dutzend Unternehmen wendet den Prozess inzwischen an; darunter zwei große Lebensmittelkonzerne, ein Premiummodeunternehmen und ein Hersteller von Lichtwellenleiterkabeln.

Anders als Methoden wie Design Thinking und Crowdsourcing, die sich mit der Kunst der Ideenfindung befassen, stellt mein Prozess die Kunst der Kritik in den Mittelpunkt. Statt schon in einem frühen Entwicklungsstadium Feedback von Kunden und anderen externen Parteien einzuholen, bezieht der Prozess die Mitarbeiter des eigenen Unternehmens mit ein. Ziel ist, dass jeder eine Vision formuliert und die Gruppe anschließend die unterschiedlichen Ansätze bespricht und gemeinsam weiterentwickelt. Externe kommen erst am Schluss zu Wort.

Egal ob Produkte, Dienstleistungen, Prozesse oder Geschäftsmodelle – es gibt immer zwei Innovationsebenen: Verbesserungen und neue Richtungen.

Verbesserungen sind neue Lösungen, die einem bestehenden Wertschöpfungskonzept stärker gerecht werden. Sie reichen von kleinen bis zu radikalen Veränderungen, beziehen sich aber immer auf Probleme, die am Markt allgemein anerkannt sind. Thermostate für den Wohnbereich sind ein gutes Beispiel. Die meisten Hersteller sind der Meinung, der Wert dieser Produkte bestehe vor allem darin, dass sie es ermöglichen, die Temperatur in Wohnungen und Häusern besser zu regulieren. Das zeigt sich auch an den Innovationen: Die Branche hat digitale Thermostate entwickelt, bei denen die Verbraucher über Touchscreens und eine Reihe von Menüs mehr Einstellungen vornehmen können als früher: unterschiedliche Zeitschaltungen je nach Wochentag, individuelle Einstellungen für jedes Zimmer und sogar die Programmierung der Deckenventilatoren.

Das Problem lässt sich aber durchaus auch anders betrachten; dann ergeben sich neue Richtungen und eine neue Definition dessen, was die Kunden eigentlich wollen. Nest Labs ist im November 2011 beispielsweise mit einem grundlegend anderen Wertversprechen an den Markt gegangen: Die Menschen sollen sich in ihren Wohnungen und Häusern wohlfühlen, ohne sich um die Raumtemperatur kümmern zu müssen. Die Gründer des Unternehmens haben erkannt, dass der Alltag einer typischen amerikanischen Familie so komplex und unberechenbar ist, dass es praktisch unmöglich ist, ihm mit einer regelmäßigen Heizungsprogrammierung gerecht zu werden. Zudem haben sie festgestellt, dass der technische Fortschritt bei Sensoren und Handys zu diesem Zeitpunkt eine Temperaturregelung über kinderleichte Interaktionen ermöglichte. Und das Unternehmen war sich sicher: Das würde Menschen gefallen, die keine Lust auf Geräte mit komplizierten Bedienoberflächen haben.

Die Nutzer schalten den Thermostat über einen Drehschalter oder ihr Smartphone ganz einfach ein und aus; sie müssen nichts programmieren. Sensoren erkennen, ob jemand im Haus ist, und passen die Temperatur automatisch an. So lässt sich Energie sparen, wenn niemand da ist. In nur wenigen Tagen merkt sich der Thermostat die Gewohnheiten der Bewohner und regelt die Temperatur auf dieser Basis dann automatisch. Die Softwareplattform ist offen, sodass auch andere Anbieter Ergänzungen für die Thermostate auf den Markt bringen können. Nest Labs veröffentlicht keine genauen Verkaufszahlen, hat aber nach eigenen Angaben bereits Millionen dieser Geräte verkauft, die im Handel zwischen 210 und 250 US-Dollar kosten. 2014 hat Google das Unternehmen für 3,2 Milliarden Dollar übernommen.

Hätten die technologiebegeisterten Gründer von Nest, die eigentlich ein Smart Home entwickeln wollten, auf die üblichen Innovationsmethoden gesetzt, wäre wohl kaum ihr Thermostat entstanden. Möglichst viele Ideen zusammenzutragen funktioniert gut, wenn Verbesserungen gefragt sind, zeigt aber keine neuen Richtungen auf. Wenn Unternehmen Ideen nicht aus einer anderen Perspektive bewerten, finden sie nicht die richtigen externen Ansprechpartner, stellen nicht die richtigen Fragen und erkennen nicht, welches die wertvollsten Beiträge sind. Sie werden Kunden und andere externe Ansprechpartner auswählen, die ihre aktuelle Richtung unterstützen, und unkonventionelle Ideen verwerfen. Die meisten Konzepte, die Nest in seinem Thermostat umgesetzt hat, waren in der Branche schon vorher bekannt gewesen, aber keines der etablierten Unternehmen hatte das Potenzial erkannt.

Wer die Chancen durch technische oder gesellschaftliche Veränderungen erkennen und nutzen will, muss die konventionellen Annahmen, was gut oder wertvoll ist, hinterfragen – und durch gründliches Nachdenken eine neue Perspektive für die Bewertung von innovativen Ideen entwickeln. Dieses Hinterfragen und Nachdenken macht die Kunst der Kritik aus.

"Kritik" kommt vom griechischen Wort "krino", was so viel heißt wie "in der Lage zu beurteilen, zu bewerten, zu interpretieren". Kritik ist nicht zwingend negativ. In diesem Kontext bedeutet sie vielmehr, neue Perspektiven aufzuzeigen, die Unterschiede hervorzuheben und eine völlig neue Vision daraus abzuleiten. Das ist eine klare Abkehr von der Ideenfindungsmethodik des vergangenen Jahrzehnts, die Kritik als kreativitätsfeindlich ablehnt. Die Ideenfindung lagert Beurteilungen aus, die Kunst der Kritik nutzt Beurteilungen, um Innovationen zu schaffen.

In meinem vierstufigen Prozess hinterfragen einzelne Personen ihre Annahmen und erarbeiten neue Sichtweisen auf Probleme, die ihr Unternehmen lösen könnte. Anschließend entwickeln sie ihre Visionen in Zweiergruppen weiter, und im nächsten Schritt folgen Besprechungen in größerer Runde. Im letzten Schritt testen Nutzer sowie interne und externe Experten aus unterschiedlichsten Bereichen die besten Ideen. Da keines der 24 Unternehmen, mit denen ich zusammengearbeitet habe, alle Schritte umsetzt, verdeutliche ich das Verfahren an Fallbeispielen. Dazu gehören Vox, ein mittelständischer Möbelhersteller in Polen, Nest, Microsoft und Alfa Romeo.

1. Persönliche Gedanken

Stellen Sie sich vor, Sie sehen als Manager umwälzende Veränderungen heraufziehen, die große Chancen bieten, und Sie fragen sich, wie Ihr Unternehmen Innovationen entwickeln kann, mit denen sich diese Chancen nutzen lassen. Vor dieser Frage stand auch Piotr Voelkel, der Gründer und Vorsitzende von Vox. Große demografische Veränderungen, vor allem die Überalterung der europäischen Bevölkerung, bereiteten ihm Sorgen. Wenn Vox auch in Zukunft erfolgreich sein wollte, musste das Unternehmen neu definieren, was Möbel eigentlich sein sollen. Um diese neue Interpretation zu entwickeln, wählte Voelkel in seinem Unternehmen 19 Personen aus, sich selbst eingeschlossen. Jeder und jede von ihnen sollte sich Gedanken machen, wie Vox neue Angebote für eine alternde Kundschaft entwickeln konnte. Voelkel stellte bewusst eine heterogene Gruppe zusammen: Einige waren hochrangige Mitarbeiter, andere vielversprechende Einsteiger; einige waren Branchenveteranen, andere kamen aus fremden Bereichen; einige waren analytisch veranlagt, andere eher intuitiv. Die Gruppe stellte einen Querschnitt vieler Bereiche und Funktionen dar: Vertrieb, Marketing, Produktentwicklung, Fertigung, Design und Markenführung waren vertreten. Eines hatten alle gemeinsam: Ihre jeweilige Rolle im Unternehmen oder ihre persönlichen Interessen konnten wertvolle Erkenntnisse liefern.

Nach einer ersten Einweisung forderte Voelkel die Mitglieder der Gruppe auf, sich über einen oder mehrere Vorschläge für Produkte, Dienstleistungen oder Geschäftsmodelle Gedanken zu machen. Um sicherzustellen, dass sich die Mitglieder auf neue Richtungen konzentrierten statt auf Verbesserungen, gab er eine klare Anweisung: Lösungen mussten auf völlig neuen Wertkonzepten basieren. Und um die neue Richtung zu verdeutlichen, musste jeder Vorschlag einen Pfeil enthalten, der vom bestehenden Wertversprechen zum neuen wies.

Dieser Ansatz unterscheidet sich von den etablierten Innovationsmethoden sogar in mehrerlei Hinsicht. Erstens ließ Voelkel die Mitglieder der Gruppe nicht mit Vorschlägen von Kunden oder anderen Externen beginnen, sondern mit ihren eigenen. Wir alle spüren, wenn sich in unserem Umfeld etwas verändert, und wir alle haben – bewusst oder unbewusst – Ideen, wie sich die Welt verbessern lässt. Allerdings behalten die meisten von uns ihre Hypothesen in aller Regel eher für sich. Darüber war sich Voelkel im Klaren, deshalb forderte er die Gruppenmitglieder auf, ihre Hypothesen vorzutragen. Wenn sie erst einmal ausgesprochen und hinterfragt wurden, waren diese Ansätze eine wertvolle Grundlage für die Entwicklung neuer Visionen. Diese Vorgehensweise wirkt auch der menschlichen Neigung entgegen, sich bei der Beurteilung von Vorschlägen von der eigenen Intuition beeinflussen zu lassen. Deshalb nahm Voelkel selbst an der Übung teil, denn er wusste, dass er dadurch besser in der Lage sein würde, die Visionen und Vorschläge der anderen klarer und objektiver zu beurteilen.

Zweitens ließ Voelkel die Gruppenmitglieder allein überlegen, nicht im Team. Dadurch würde jeder und jede die eigenen Erkenntnisse gründlich durchforsten und sie nicht anpassen oder zurückhalten, wie es beim Brainstorming in größeren Gruppen oft der Fall ist. Jeder und jede konnte die Aufgabe so ausführen, wie er oder sie es für richtig hielt, ganz gleich, ob es auf der Grundlage einer bestimmten Analysemethode oder eines Datensatzes war oder einfach nur auf Intuition basierte. Das steigerte die Wahrscheinlichkeit, dass die 19 Personen auch tatsächlich unterschiedliche Richtungen vorschlagen würden.

Drittens gab Voelkel der Gruppe einen Monat Zeit. Damit gewährleistete er, dass die Mitarbeiter ihrer regulären Arbeit nachgehen konnten und trotzdem genügend Zeit hatten, Gedanken zu formulieren, ein paar Tage sacken zu lassen, weiterzuentwickeln und neue hinzuzufügen. Das ist besonders wichtig, um provokative und abwegige Hypothesen zu formulieren, denn diese sind in der Anfangsphase oft unscharf und werden sonst schnell verworfen.

Ein Mitarbeiter sagte, Vox solle sich über Schlafzimmer Gedanken machen. In diesem Bereich wurden in den vergangenen Jahrzehnten kaum Innovationen hervorgebracht, aber es ist ein Zimmer, in dem gerade ältere Menschen viel Zeit verbringen, vor allem wenn sie krank sind. Er schlug vor, das Schlafzimmer von einem Ort der Ruhe zu einem Ort der Genesung zu machen: Betten könnten zum Beispiel Vorrichtungen haben, mit denen ältere Menschen einfache gymnastische Übungen machen können. Ein anderes Gruppenmitglied stellte sich vor dem Hintergrund der rückläufigen Geburtenraten und der wachsenden Zahl an älteren Menschen vor, dass Großeltern irgendwann mit ihren wenigen Enkeln um die Zeit der mittleren Generation konkurrieren würden. Sie schlug vor, dass Möbel nicht mehr primär dekorativ und funktional sind, sondern das Zusammenleben der Familie fördern. Das können zum Beispiel Tische sein, die sich mit ein paar Handgriffen für unterschiedliche Verwendungen umrüsten lassen, wie Kochen, Malen oder Spielen. Am Ende des Monats hatten die 19 Mitarbeiter 90 mögliche Richtungen entwickelt (sieben davon stammten von Voelkel selbst).

2. Sparringspartner

Im zweiten Schritt stellt jedes Gruppenmitglied seine Idee einem Kollegen vor, der sie kritisiert. Der Kollege fungiert als eine Art Sparringspartner. Die Zweierkonstellation mit einer Vertrauensperson bietet einen geschützten Raum, in dem die Innovatoren sich trauen, auch abwegige oder unausgegorene Hypothesen vorzustellen.

So eine Beziehung spielte auch für die Gründung von Nest eine entscheidende Rolle. Tony Fadell und Matt Rogers, die Gründer des Unternehmens, hatten zuvor bereits bei Apple zusammengearbeitet. In einem Interview mit Derek Andersen vom Gründerverband Start-up Grind beschrieb Rogers, wie die beiden beim Mittagessen erste Visionen austauschten. Rogers sagte: "Tony, ich will ein Unternehmen gründen, und zwar mit dir." "Was willst du denn machen?", antwortete Fadell. "Ich will einen Anbieter von Smart Homes aufbauen."

Fadell baute damals gerade selbst ein Haus und laborierte insgeheim mit einer ähnlichen, noch unausgereiften Idee. Aber er sagte: "Du bist ein Idiot. Kein Mensch will ein Smart Home kaufen. Das ist doch nur etwas für Spinner."

An dieser Stelle hätte die Unterhaltung zu Ende sein können. Aber weil sich die beiden mochten, einander respektierten und so vertraut miteinander waren, dass sie sich sicher fühlten, redeten sie weiter. Sie gingen den Ideen des anderen weiter auf den Grund und beschlossen irgendwann, sich zuerst auf den Thermostat zu konzentrieren.

Michael P. Farrell zeigt in seinem Buch "Collaborative Circles: Friendship Dynamics and Creative Work", dass Zweierbeziehungen die Grundlage vieler revolutionärer Neuerungen in Kunst und Gesellschaft sind, vor allem wenn es darum geht, die Definition von "guter Kunst" zu hinterfragen. Er erklärt, dass die Zusammenarbeit in Zweierteams ein Umfeld der "förderlichen Vertrautheit" schafft, in dem sich Menschen gegenseitig freundlich und konstruktiv kritisieren können.

Die ersten gewagten Experimente des Impressionismus stammen von Duos – von Claude Monet und Frédéric Bazille sowie von Pierre-Auguste Renoir und Alfred Sisley und später von Monet und Renoir. Farrell erwähnt auch die Autoren J. R. R. Tolkien ("Der Hobbit", "Der Herr der Ringe") und C. S. Lewis ("Die Chroniken von Narnia"), die ein gemeinsames Interesse an "Nordischheit" hatten, wie Lewis es ausdrückte.

Die jüngere Geschichte ist voll von legendären Gründerduos: Steve Jobs und Steve Wozniak, Sergey Brin und Larry Page, Bill Gates und Paul Allen, um nur ein paar zu nennen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Zweierteams auch im Innovationsprozess bei etablierten Unternehmen eine zentrale Rolle spielen können. Ein Beispiel ist der erfolgreiche Einstieg von Microsoft in den Markt für Spielekonsolen mit der Xbox im Jahr 1999. Bis zu jenem Zeitpunkt hatte sich der Konzern auf Software konzentriert, vor allem auf Produktivitätsanwendungen. Der Schwenk auf Hardware, junge Verbraucher und Unterhaltung stellte einen radikalen Kurswechsel dar. Außerdem musste das Unternehmen dafür auch ein Betriebssystem entwickeln, das nicht mit Windows kompatibel war – etwas, das früher einmal als Ketzerei gegolten hätte.

Auslöser für die Xbox-Initiative war Sonys Ankündigung der Playstation 2. Bill Gates erkannte darin eine ernsthafte Bedrohung für Microsoft: Die Verbraucher könnten versucht sein, sich die Welt der Computer über anwenderfreundliche Spielekonsolen zu erschließen statt über den PC. Deshalb forderte Gates seine Mitarbeiter auf, neue Ideen für Microsoft zu präsentieren.

In großen etablierten Unternehmen gibt es immer Menschen, die insgeheim Theorien darüber entwickeln, wie Veränderungen der Welt die Märkte neu definieren könnten. Microsoft ist da keine Ausnahme. Vier drastische Beispiele für solche Mitarbeiter waren Jonathan "Seamus" Blackley, damals ein Neuzugang mit viel Erfahrung bei digitalen Spielen; Kevin Bachus, ein Produktmarketingmanager für DirectX, Microsofts Software für PC-Spieleentwickler; Otto Berkes, ein DirectX-Programmier-Genie; und Ted Hase, ein Manager aus dem Bereich Entwicklerbeziehungen. Die vier arbeiteten zwar in unterschiedlichen Teilen des Konzerns, aber sie hatten eine gemeinsame Vision: eine Welt, in der Gaming als hohe Kunst gilt, Spieleentwickler Künstler sind und Microsoft diesen Künstlern mit den leistungsstärksten Technologien ermöglicht, ihrer Kreativität freien Lauf zu lassen. Voraussetzung dafür war eine eigens für solche Spielekünstler konzipierte Plattform.

Wenn in einem Ideenworkshop jemand so ein radikales Konzept vorgestellt hätte, wäre es vermutlich verworfen, angepasst oder so weit verwässert worden, bis es der bisherigen geschäftlichen Richtung entsprochen hätte. So ist es bei Microsoft aber nicht gelaufen. Die vier Abtrünnigen trafen sich ein paar Wochen lang immer wieder. Mal arbeiteten sie in Duos (Blackley mit Bachus und Berkes mit Hase), mal als Quartett. Blackley und Bachus wurden so enge Freunde, dass sie die Spitznamen Laurel und Hardy bekamen. Bachus war derjenige, der immer an einem überzeugenden Business Case arbeitete. In Dean Takahashis Buch "Opening the Xbox: Inside Microsoft's Plan to Unleash an Entertainment Revolution" erinnert er sich: "Ich habe eine Neuausrichtung angestoßen. Ich sagte: 'Überlegen wir doch mal, für welche Verbraucher wir das Ding bauen, und wie wir die Spieleentwickler an Bord bekommen.'" So entwickelten die vier aus ihren vagen Vorstellungen eine konkrete Vision, die letztlich auch der scharfen Kritik der anderen Mitarbeiter bei Microsoft standhielt – einschließlich der Einwände einiger Topmanager.

Wie finden Sie einen Sparringspartner, der in die gleiche Richtung denkt wie Sie? Dabei sind Sie nicht auf bestehende Beziehungen angewiesen, wie es bei Fadell und Rogers der Fall war. Und Sie müssen auch nicht auf eine glückliche Fügung warten (Blackley war erst wenige Wochen vor der Zusammenarbeit mit Bachus und den anderen zu Microsoft gekommen). Sie können eine Art Speeddating veranstalten, bei dem sich Mitarbeiter mit ähnlichen Visionen finden und ihre Ideen gemeinsam weiterentwickeln. Nach der ersten Phase, in der sich jeder einzeln Gedanken über mögliche neue Richtungen macht, laden Sie alle zu einem Meeting ein. Dort stellt jeder seine Ideen vor, die zum Beispiel auf einer Tafel zusammengetragen werden. Anschließend sucht sich jeder eine Idee der anderen aus, die er gern weiter ergründen würde. Entscheiden sich mehrere für dieselbe Richtung, dann sollen sie eine zweite oder dritte Wahl treffen. Und schon haben Sie ihre Innovationsduos zusammengestellt.

3. Radikale Gruppen

Im dritten Schritt müssen die Hypothesen einer tiefer gehenden Kritik standhalten: Sie werden in einer Gruppe mit 10 bis 20 Personen diskutiert, die sich ebenfalls über neue Richtungen Gedanken gemacht haben. Ich bezeichne sie als "radikale Gruppe". Sinn und Zweck dieses Gremiums ist nicht, zu entscheiden, welche Hypothesen richtig oder falsch sind, sondern zu beurteilen, warum und inwiefern sie sich unterscheiden, welche wichtigen zugrunde liegenden Erkenntnisse womöglich übersehen wurden und ob sich ein Wertversprechen finden lässt, das noch besser ist als die bisher aufgestellten Hypothesen.

Diese Übung, die in intensiven zwei- oder dreitägigen Workshops oder über vier Wochen hinweg stattfinden kann, muss vorsichtig durchgeführt werden, damit sie konstruktiv und nicht destruktiv wirkt. Differenzen sollen die Teilnehmer dazu bringen, noch gründlicher nachzuforschen und noch innovativere Bereiche zu finden, nicht Gedankenspiele einschränken oder gute Ideen behindern.

Achten Sie darauf, dass in diesem Kreis Mitarbeiter mit unterschiedlichen Hintergründen, Perspektiven und Persönlichkeiten vertreten sind – wie die 19 Mitarbeiter des polnischen Möbelherstellers Vox. Bei Microsoft hat ungefähr ein halbes Dutzend Manager Blackley, Bachus, Berkes und Hase unterstützt, einen Gaming-Kurs für das Unternehmen festzulegen. Die Vision von Blackley und Bachus war am radikalsten: Windows aufgeben und keine Lizenzgebühren von Spieleherstellern verlangen. Der für Microsofts Hardwaresparte verantwortliche Vice President wollte etwas Windows-kompatibles entwickeln. Und zwischen diesen beiden Polen stand James "J" Allard, der im Konzern hohes Ansehen genoss und in der Vergangenheit bereits erfolgreich große Veränderungen umgesetzt hatte, darunter auch Microsofts Einstieg ins Internetgeschäft Mitte der 90er Jahre.

Sorgen Sie dafür, dass sich Ihre radikale Gruppe zuerst darauf konzentriert, was das Unternehmen nicht tun sollte, und wer die Widersacher des Unternehmens sind. Das trägt dazu bei, die Übung positiv und konstruktiv zu halten. Der Grund dafür ist einfach: Denn häufig können sich Menschen besser auf ihre Abneigungen als auf ihre Vorlieben einigen, und ein gemeinsamer Feind ist ein starker Anreiz, sich zusammenzuschließen und mit vereinten Kräften eine neue Richtung zu definieren. Die Mitglieder der radikalen Gruppe bei Microsoft hatten zwar unterschiedliche Visionen, aber wer die Feinde waren, darüber waren sich alle einig: Sony und deren neue Spielekonsole Playstation 2 sowie die Strategie im eigenen Haus, einen allgemeinen, PC-basierten Gaming-Ansatz zu verfolgen. (Das Team taufte die Xbox-Initiative "Project Midway," nach der Seeschlacht zwischen der amerikanischen und der japanischen Marine, die einen Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg markiert hatte.)

Stellen Sie anschließend die Visionen einander gegenüber, immer in Zweierpaaren. Gibt es Überschneidungen? Gibt es starke Elemente einzelner Visionen, die andere übersehen haben? Die 19 Innovatoren bei Vox kamen nach der Entwicklung ihrer individuellen Hypothesen zu einem dreitägigen Workshop zusammen. Die Strategie, die das Unternehmen letztlich verfolgte, war eine Kombination aus den beiden oben beschriebenen Einzelvisionen: eine aktive Rolle für das Schlafzimmer und Möbel, die das gesellige Zusammenleben fördern. Vox taufte das Konzept "Wohnschlafzimmer", ein Raum, der eine zentrale Rolle spielt und in dem ältere Menschen auf angenehme Art und Weise Zeit mit Familie und Freunden verbringen können. Ein Bett, das 2012 auf den Markt kam, bietet ein großes Bücherregal, genug Platz für die Schuhe von Besuchern und einen klappbaren Bildschirm zum Filmeschauen. Als die englische Originalversion dieses Artikels geschrieben wurde, hatte Vox in Polen und den benachbarten Ländern nahezu 3600 dieser Betten verkauft, und der Absatz wuchs um 88 Prozent pro Jahr.

Auch der italienische Autobauer Alfa Romeo entwickelte eine Vision. Die Marke hat eine legendäre Geschichte: Sie stellte den ersten Formel-1-Sieger überhaupt und produzierte Kultmodelle wie das Cabrio Spider Duetto, das Dustin Hoffman in dem Film "Die Reifeprüfung" fuhr. Doch ungefähr 20 Jahre lang hatte das Unternehmen Schwierigkeiten, sich im von deutschen Marken dominierten Premiumsegment zu halten. Deshalb startete Alfa Romeo 2010 ein Innovationsprojekt mit einer radikalen Gruppe aus rund 20 Mitarbeitern. Einer regte die Abkehr von der traditionellen Vorstellung an, dass Kunden Premiumautos kaufen, um ihren Reichtum zur Schau zu stellen (Autos als Luxusgut); Premiumfahrzeuge seien vielmehr ein Mittel, mit dem Menschen ihre Fahrleidenschaft ausdrücken. Ein anderer stellte die Hypothese auf, nicht ein besonders starker Motor und eine hohe Endgeschwindigkeit seien die entscheidenden Elemente des Wertversprechens, sondern die Agilität und das Handling eines Wagens.

Das Team kombinierte die beiden Ideen und riet dem Unternehmen, agile Autos für routinierte, leidenschaftliche Fahrer zu bauen. Ein Mitglied verglich das Premiumsegment der Automobilbranche mit dem "Guide Michelin", der genussfreudigen Verbrauchern Luxusrestaurants empfiehlt. Daraus entstand schließlich eine Vision, die die Alfa-Romeo-Innovatoren mit Lonely Planet verglichen, einem Verlag für Reiseführer, der leidenschaftlichen und erfahrenen Touristen unkonventionelle Restaurants zeigt.

Daraus entstand eine Strategie, die zum Beispiel den Alfa Romeo 4C hervorbrachte, der 2013 auf den Markt kam. Er ist billiger als viele andere Sportwagen, hat einen kleinen Motor und ist leicht – unter anderem weil viel Carbon verbaut wird und die Ausstattung spartanisch ist (das Auto verfügt weder über Servolenkung noch Fußmatten). Aber das Masse-Leistungs-Verhältnis kann mit erheblich teureren Sportwagen wie Ferrari mithalten. Das Konzept erwies sich als regelrechter Kassenschlager: Alle Fahrzeuge des ersten Produktionsjahres waren binnen weniger Wochen nach Markteinführung verkauft.

4. Externe Kritiker

Eine radikale Gruppe kann sich auf eine oder mehrere mögliche Richtungen einigen, die im vierten Schritt externen Kritikern vorgestellt werden. Diese sollen anders als bei offenen Innovationsansätzen keine neuen Ideen beisteuern, sondern vielmehr sinnvolle und kritische Fragen stellen, damit das Unternehmen die innovative Richtung weiter verbessern und optimieren kann. Unter den Externen sollten nicht nur Vertreter der Zielgruppe sein, sondern auch Experten aus ganz unterschiedlichen Bereichen, die einen anderen Blickwinkel haben. Ich bezeichne diese Experten als "Interpreten", denn sie verstehen die Relevanz von Trends, die den Nutzern des Produkts unter Umständen verborgen bleibt.

Alfa Romeo hat für den Kreis der externen Kritiker mehr als 100 Kandidaten geprüft und sich schließlich für 14 Interpreten des Reiseerlebnisses entschieden. Die meisten kamen nicht aus dem typischen Netzwerk der Automobilindustrie. Unter ihnen waren ein Hersteller von Lederwaren, der CEO einer Luxusferienanlage, ein Produzent von Fitnessgeräten und ein Theaterregisseur, der gerade ein respektloses Stück über das Selbstbild der modernen Reichen geschrieben hatte. Das Alfa-Team präsentierte ihnen die Hypothesen, die der neuen Alfa-Vision zugrunde lagen, und forderte sie auf, diese Annahmen zu diskutieren und zu hinterfragen. Philips Electronics hat bei der Entwicklung seiner Produktserie Ambient Experience, einem ganzheitlichen Medizintechnikansatz, der Patienten die Angst nehmen soll, ebenfalls ein breites Spektrum an Interpreten zurate gezogen. Neben den üblichen Verdächtigen (Ärzte, Krankenhausmanager, Hersteller von medizinischen Geräten und Marketingexperten) konsultierte Philips auch Vertreter scheinbar weniger naheliegender Bereiche (Architektur, Psychologie, moderne Innenarchitektur, LED- und Videotechnologie, Interaktionsdesign, interaktive Hard- und Software). Ein Kinderpsychologe schlug vor, sich bei der Angst der Patienten nicht nur auf die Untersuchung an sich zu konzentrieren, sondern auch auf die Zeit im Wartezimmer, bevor es losgeht. Auch dieser Beitrag hat die Vision von Philips optimiert. Vox hat von einem Spezialisten für Wellness und Aromatherapie den Tipp bekommen, das Bett nicht ausdrücklich für Senioren zu konzipieren, sondern für alle Kunden attraktiv zu gestalten. Das hat den Absatz nicht nur auf andere Kundensegmente ausgedehnt, sondern auch die Verkaufszahlen bei Senioren erhöht. In dem Beitrag "Designing Breakthrough Products" (Harvard Business Review, Oktober 2011) gehe ich näher darauf ein, wie Sie gute Interpreten finden.

Klassische Strategieanalysetools wie die strategische Kontur von Kim und Mauborgne und die Business Model Canvas von Alexander Osterwalder und Yves Pigneur sind weitere Möglichkeiten, neue Richtungen zu hinterfragen, ebenso wie die vielen Daten, die sich über das Internet gewinnen lassen, etwa zu den Vorlieben der Kunden. Setzen Sie doch zwei Datenanalyseteams ein: eins, das Daten sucht, die die Hypothesen für eine neue Richtung stützen, und eins, das Gegenargumente sucht. Auf dieser Basis können Sie dann entscheiden, welche Ergebnisse überzeugender sind.

Bei der Suche nach neuen Lösungen für alte Probleme kann Kritik der Ideenfindung im Weg stehen. Aber wer bisher ungelöste Probleme aufdecken will oder neu definieren möchte, was eigentlich wertvoll ist, kann Kritik als Innovationsmotor nutzen. Wenn ein Unternehmen eine neue Richtung für sich definiert, kann es unter den vielen Ideen für Produkte und Geschäftsmodelle die richtigen auswählen und zum Erfolg führen.

VON ROBERTO VERGANTI

ROBERTO VERGANTI ist Professor für Führung und Innovationen an der Politecnico di Milano.

Zusammenfassung

Das Problem

Herkömmliche Methoden der Ideenfindung wie Crowdsourcing und Design Thinking führen zu einer Flut von Ideen für neue Angebote und Geschäftsmodelle. Was den Managern aber fehlt, ist eine Methode, um die Konzepte mit dem größten Potenzial herauszufiltern.

Die Lösung

Ermitteln Sie grundlegende gesellschaftliche oder technische Veränderungen, die dazu führen könnten, dass die Kunden andere Dinge wertschätzen als früher. Entwickeln Sie auf dieser Basis eine neue Richtung für Ihr Unternehmen. Fangen Sie bei der Bewertung von Ideen in Ihrem eigenen Unternehmen an – mit einem Prozess, der auf die Kunst der Kritik setzt, nicht auf ein bloßes Zusammentragen von möglichst vielen Ideen.

Literatur

Roberto Verganti: Innovation of Meaning, MIT Press 2016.

Roberto Verganti: Design-Driven Innovation: Changing the Rules of Competition by Radically Innovating What Things Mean, Harvard Business Press 2009.

HBM Online

Roberto Verganti: Erfolgsfaktor Design, in: Harvard Business Manager, April 2007, Seite 26, Nachdrucknummer 200704026.

Clayton M. Christensen et al.: Was ist disruptive Innovation?, in: Harvard Business Manager, Januar 2016, Seite 64, Nachdrucknummer 201601064.

Kontakt: roberto.verganti@polimi.it

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