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Die digitalen Hidden Champions

Deutsche Unternehmen verpassen den digitalen Wandel? Das gilt nicht für unsere mittelständischen Weltmarktführer. Sie sind erfolgreich mit digitalen Produkten, Prozessen und Dienstleistungen. Eines ihrer Geheimnisse? Kundennähe.

Von Hermann Simon

Deutschland liegt bei der Digitalisierung hinten", "Deutschland setzt seinen Erfolg aufs Spiel", "Digitalisierung? Deutschland lädt noch" – das sind nur einige deprimierende Schlagzeilen der vergangenen Monate. Der allgemeine Tenor in Politik und Gesellschaft ist düster: Unternehmen hierzulande haben den Zug verpasst. Niemals werden sie es mit den digitalen Riesen aus dem Silicon Valley und aus China aufnehmen können.

Das mag richtig sein – für die Verbrauchermärkte (B2C). Doch mit der Realität industrieller Märkte (B2B) in Deutschland hat dieses Bild wenig zu tun. Hier haben sich mittelständische Weltmarktführer in den vergangenen Jahren zu digitalen Vorreitern entwickelt, ganz ohne die mediale Aufmerksamkeit, die Google, Amazon & Co. genießen. Nur ein paar Beispiele: Das beste Übersetzungsprogramm der Welt, Deepl.com, kommt aus Köln. Die Software von Teamviewer aus Göppingen – Weltmarktführer in der Fernkontrolle von Computern – ist auf mehr als zwei Milliarden Geräten weltweit installiert. Das von Informatikprofessor Jürgen Schmidhuber an der TU München entwickelte Long Short-Term Memory (LSTM) findet sich sogar auf mehr als drei Milliarden Smartphones und unterstützt "sichtbare" Apps wie Siri. Sogar beim autonomen Fahren ist Deutschland führend, mit 40 Prozent aller seit 2010 weltweit registrierten Patente. So steckt in den Systemen, die von der Google-Tochter Waymo oder von Tesla genutzt werden, zu großen Teilen deutsche Technologie.

Wie kann das sein? Mit welchen Strategien schaffen es die deutschen Mittelständler, ihre globale Marktführerschaft auch in der Digitalisierung zu verteidigen? In diesem Artikel werden wir sehen, dass es keineswegs nur um Technologie geht. Auch Kundennähe und Marketing spielen eine herausragende Rolle in der Erfolgsgeschichte von Deutschlands mittelständischen Weltmarktführern.

Nach wie vor spielt Deutschland im Export an der Weltspitze mit, auch wenn China und die USA uns mittlerweile überholt haben. Pro Kopf exportieren wir sogar doppelt so viel Waren und Dienstleistungen wie jeder andere große Staat. Woher kommt diese Überlegenheit? Nicht von den Großunternehmen, denn auch bei unseren europäischen Nachbarn gibt es ähnlich viele Konzerne pro Kopf der Bevölkerung. Nein, die Ursache des anhaltenden deutschen Exporterfolgs liegt in unseren mittelständischen Welt- und Europamarktführern, den sogenannten Hidden Champions. Diese Unternehmen gehören in ihrem Markt zu den Top drei in der Welt oder sind Nummer eins in Europa. Ihr Umsatz beträgt im Schnitt 325 Millionen Euro (maximal fünf Milliarden), und sie sind in der Öffentlichkeit eher wenig bekannt. Deutschland hat mehr dieser sehr erfolgreichen Firmen als jedes andere Land.

Wie kommen die Hidden Champions aber nun mit der Digitalisierung zurecht? Um diese Frage zu beantworten, muss man zwischen Verbraucher- und Industriemärkten unterscheiden. Die Verbrauchermärkte (B2C) im Internet sind ein fast ausschließlich amerikanisches Spiel. Daneben hat sich China abgeschottet und eigene, sehr erfolgreiche Unternehmen wie Alibaba oder Tencent entwickelt. Europäische Unternehmen spielen in den digitalen Verbrauchermärkten dagegen keine Rolle, von wenigen Ausnahmen wie Skype oder Spotify einmal abgesehen. Der Zug in diesen Segmenten dürfte für Europäer abgefahren sein. Ein Aufholen oder gar Überholen erscheint sehr schwierig.

Ganz anders sieht es im Industriesektor (B2B) aus. Bei den digitalen Märkten für industrielle Prozesse handelt es sich in aller Regel um Nischen, denn solche Märkte mit einer Größe von maximal einer Milliarde Euro sind für die Giganten des Internets nicht interessant. So macht es für Apple bei einem Umsatz von 265 Milliarden Euro wenig Sinn, sich um einen Markt von 500 Millionen Euro zu kümmern. Zudem sind industrielle Prozesse weitaus komplexer als Verbraucherprozesse. Bei der innerbetrieblichen Logistik in einer Fabrik muss jedes Teil sekundengenau am richtigen Ort sein, während es bei Amazon kein Problem ist, wenn eine Lieferung eine Stunde oder sogar einen Tag später kommt. Industrielle Prozesse erfordern zudem sehr tiefes Know-how, das frische Universitätsabsolventen nicht besitzen. Am Markt ist dieses Wissen kaum verfügbar, sondern es steckt in den Köpfen der Mitarbeiter jener Unternehmen, die auf solche Prozesse spezialisiert sind.

All das sind ideale Bedingungen für die Hidden Champions, die traditionell in Nischenmärkten mit tiefem Know-how agieren und dort ihre Kompetenzen erfolgreich digitalisiert haben. Die Kundennähe der Hidden Champions erweist sich dabei als entscheidender Vorteil, weil diese sich hervorragend mit der Wertschöpfungskette ihrer Kunden auskennen. So können sie mit neuen, digitalen Lösungen echten Kundennutzen schaffen. Zudem sind die Eintrittsbarrieren in solche Märkte hoch.

Im Folgenden werde ich zeigen, wie die Hidden Champions ihre Nischenmärkte bei digitalen Produkten, digitalen Industrieprozessen und digitalen Industrieservices besetzt haben.

Hidden Champions sind sehr innovativ. Pro 1000 Mitarbeiter halten sie 31 Patente, deutsche Großunternehmen dagegen nur sechs. Traditionell waren ihre Innovationen eher inkrementeller Art – beispielsweise bei Stihl, dem Weltmarktführer bei Motorsägen. Dieser brachte in einem einzigen Jahr 42 Innovationen in seine Motorsägen ein. Doch mit der Digitalisierung ändert sich diese Vorliebe für schrittweise Verbesserungen. Nun bringen Hidden Champions zunehmend auch Durchbruchsinnovationen auf den Markt. Hier einige Beispiele für disruptive Innovationen mit hohem digitalen Gehalt:

Der Volocopter aus Bruchsal ist der erste elektrische Hubschrauber der Welt. Dieses Fluggerät ist deutlich mehr als ein klassisch elektromechanisches Produkt, denn es handelt sich im Kern um ein autonomes Lufttaxisystem. Das ist keineswegs nur eine Zukunftsvision: In Dubai arbeitet Volocopter bereits an einem solchen System. Bemerkenswert ist dabei, dass das Start-up diesen Auftrag gegen den deutlich preisgünstigeren chinesischen Wettbewerber Ehang gewonnen hat. Dieser Fall zeigt, dass deutsche Hidden Champions selbst auf modernsten digitalen Feldern gegenüber chinesischen Wettbewerbern keineswegs chancenlos sind. Nicht weniger ambitioniert ist das Start-up Lilium aus München, das ein vertikal startendes und landendes Elektroflugzeug entwickelt hat. Im Mai 2019 absolvierte es seinen Jungfernflug. Lilium hat bereits mehr als 100 Millionen Euro Venturecapital eingeworben – ein Zeichen dafür, dass bahnbrechende Start-ups auch in Deutschland finanzierbar sind.

Das lässt sich auch über das Kölner Start-up DeepL sagen, das derzeit als das beste Übersetzungsprogramm der Welt gilt – das haben auch internationale Vergleichstests mit den Konkurrenzsystemen Google Translate und Bing Translator nachgewiesen. Mithilfe künstlicher Intelligenz übersetzt die kostenlose Software neun Sprachen in einer Qualität, die mittlerweile professionelle Übersetzer um ihren Job fürchten lässt.

Wo kauft Elon Musk die Maschinen ein, mit denen die Brennkammern für die Marsrakete seines Raumfahrtkonzerns SpaceX gefertigt werden? Bei MK Technology , das in der Nähe von Bonn sitzt und Systeme für den Feinguss (englisch: investment casting) produziert. Kürzlich hielt ich in Finnland, wo die industrielle Produktion ebenfalls stark ist, einen Vortrag vor 900 Produktionsexperten. Von ihnen wusste nur ein einziger, was sich hinter dem Begriff Investment Casting verbirgt. Bei einem anderen Vortrag in der Industrieregion Siegen mit 200 Zuhörern konnten immerhin fünf etwas mit diesem Begriff anfangen. Diese Reaktionen zeigen, wie weit MK Technology mit dem Feinguss, einer alternativen Technik zum 3-D-Druck, dem allgemeinen Industriewissen voraus ist. Elon Musk hätte tausend 3-D-Drucker gebraucht, um den Job zu machen, den jetzt wenige Maschinen von MK erledigen.

Den Hidden Champion Phoenix Contact , eines von vier Unternehmen im ostwestfälischen Electronic-Interface-Cluster, kennen nur Experten. Dabei hat dieses Unternehmen 12.000 Mitarbeiter und setzt mehr als zwei Milliarden Euro um. Es hat ein Batterieladesystem entwickelt, das deutlich schneller lädt als alle bisherigen Systeme – und wie jeder Besitzer eines Elektroautos weiß, sind Ladezeiten eines der größten Ärgernisse dieser neuen Technologie. Dass ein deutsches Unternehmen hier Weltspitze ist, wird so manchen überraschen.

Die Digitalisierung vollzieht sich jedoch keineswegs nur bei Produkten, sondern noch stärker bei industriellen Prozessen. Die folgenden Beispiele belegen die führende Position deutscher Hidden Champions in diesem Bereich.

Kärcher ist Weltmarktführer bei Hochdruckreinigern, die mit Wasser arbeiten, und wächst sehr stark. Seine Kunden fordern eine Vielzahl von Varianten für unterschiedliche Anwendungszwecke und Zielgruppen. Flexibilität bei Produktion und Prozessen ist damit für das in Winnenden bei Stuttgart beheimatete Familienunternehmen ein ausschlaggebender Wettbewerbsfaktor. Auf der neuesten Produktionslinie kann Kärcher in 24 Stunden 40.000 verschiedene Produktvarianten herstellen. Durch diese extrem hohe Flexibilität kann es individuelle Kundenwünsche passgenau erfüllen und erreicht eine enorme Lieferfähigkeit. Das alles funktioniert natürlich nur mit voll digitalisierten Prozessen.

Der Baustoffhersteller Knauf hat die Reaktionszeit beim ungeplanten Ausfall von Baustoffen auf Großbaustellen von drei auf eine Stunde reduziert. Das ist revolutionär und gelingt nur mit einer voll digitalisierten Supply Chain. Bauunternehmer schätzen eine solche Servicequalität sehr, denn sie sparen viel Geld, wenn Baustellen nur eine Stunde stillstehen statt drei Stunden.

Die Kunden von Trumpf , Weltmarktführer bei Lasermaschinen zur Metallbearbeitung, kaufen bei dem Ditzinger Werkzeugmaschinenbauer individuell gefertigte Werkzeuge. In der analogen Welt schickten sie eine Zeichnung, mit deren Hilfe Trumpf die Teile fertigte. Dieser Prozess dauerte vier Tage; heute gelingt das in vier Stunden. Kunden liefern online eine Datei, auch der gesamte Produktionsprozess sowie die anschließende Logistik laufen digital ab. Entsprechend schneller können Kunden ihre Werkzeuge nutzen, sparen Lagerhaltung und werden selbst flexibler.

Auch MK Technology passt in dieses Muster. Traditionell dauert es eine Woche, eine komplizierte Feingussform herzustellen. Auf den Maschinen von MK Technology geht das in vier Stunden. Solche und viele weitere Innovationen mit hohem Digitalgehalt bringen hohen Kundennutzen und verteidigen die Marktführerschaft der Hidden Champions.

Solche digitalisierten Prozesse führen zu starken Effizienzsteigerungen. Sie sind aber in der Öffentlichkeit kaum bekannt, da sie sich im Backoffice der Industrie abspielen.

Durch die Digitalisierung sind zahlreiche neue Hidden Champions entstanden, die keine Produkte herstellen, sondern industrielle Dienstleistungen mit digitalen Methoden anbieten. Einer davon ist der anfangs erwähnte Softwareanbieter Teamviewer, der Weltmarktführer bei der Fernwartung von Computern ist. Seine Software ist auf zwei Milliarden Geräten weltweit installiert; sie erleichtert dezentrales Arbeiten und die Arbeit im Homeoffice. Wer Probleme mit seinem Rechner hat, kann diese unabhängig von seinem Aufenthaltsort beheben lassen. Daraus ergeben sich gleichermaßen Nutzen- wie Kostenvorteile. Der Computernutzer, der ein Problem hat, meldet sich beim Experten, der sich unkompliziert auf den Rechner aufschaltet. In der Regel können IT-Experten mittels Teamviewer das Problem innerhalb weniger Minuten lösen, ohne dass der User sein Büro verlassen muss.

Eines der beeindruckenden Phänomene der Digitalisierung sind sogenannte bestandslose (asset free) Unternehmen. Die bekanntesten Beispiele sind Uber oder Airbnb. Auch die Münchner Muttergesellschaft von Flixbus, Flixmobility, ist ein rein digitales Unternehmen, das keinen einzigen Bus besitzt, sondern nur das System organisiert. Ihr Umsatz ist in drei Jahren auf mehr als 500 Millionen Euro gestiegen. Flixmobility ist mittlerweile in 26 Ländern aktiv und 2019 sogar in den US-Markt eingestiegen. Das Geschäft von Flixmobility ist genau genommen nicht der Personentransport – diesen erbringen die Busunternehmer –, sondern das Betreiben eines digitalen Systems.

Der Zahlungsdienstleister Wirecard war bis vor Kurzem nur wenigen Experten bekannt. Durch den Aufstieg in den Dax im Jahr 2018 hat sich das geändert. In der Spitze erreichte das Unternehmen mit Sitz in Aschheim bei München einen Börsenwert von 23 Milliarden Euro. Wirecard erleichtert die Zahlungsabwicklung in vielfacher Weise, indem es Bonitätsprüfung, Kreditgewährung, Rabatte, Gutschriften und andere Services automatisiert. Sichtbar ist Wirecard für den Verbraucher allenfalls an gelegentlichen Terminals in asiatischen Hotels. Ansonsten spielt sich seine Arbeit im Hintergrund komplexer Transaktionsprozesse ab.

Die Abwicklung von Kfz-Schäden ist für Versicherungen ein personalintensiver, kostenträchtiger und langwieriger Prozess. Schäden müssen abgeschätzt, Sachverständige eingesetzt, Betrügereien aufgedeckt werden. Der Dienstleister ControlExpert aus Langenfeld im Rheinland hat sich dieses Problems angenommen und übernimmt automatisiert die Abwicklung von Kfz-Schäden. Während dieser Prozess früher mehrere Wochen dauerte, ist jetzt alles in wenigen Stunden erledigt. Das spart Kosten. Zudem müssen die Kunden nicht lange warten und sind zufriedener. Pro Jahr wickelt ControlExpert auf diese Weise mehr als neun Millionen Schadensfälle ab.

Das Münchener Start-up Riskmethods erfasst mithilfe von Big Data globale Lieferketten. Diese bergen enorme Risiken, denn vom Rohstoff bis zum Endprodukt kann alles Mögliche schiefgehen. Einzelne Industrieunternehmen sind nur ein Glied in einer solchen Kette und können den gesamten Prozess, bei dem ungeheure Datenmengen anfallen, unmöglich überblicken. Hier springt Riskmethods ein. Dank seiner digitalen Lösungen werden Störungen anderthalb Tage schneller gemeldet als im alten System. Diese revolutionäre Entwicklung macht es möglich, Unterbrechungen in der Wertschöpfungskette früher zu erkennen und, falls möglich, zu verhindern.

Warum sind die Hidden Champions in der Digitalisierung erfolgreich? Wie gehen sie vor? Was können wir von ihnen lernen? Technologische Kompetenz bringen sie alle mit. Aber das allein reicht nicht. Die Hidden Champions selbst betrachten Kundennähe als ihre größte Stärke. An zweiter Stelle folgt das Image, das als geronnene Wirkung bisheriger Leistungen interpretiert werden kann. Dazu gehört auch das Thema Marke. Hidden Champions sind zwar in der Öffentlichkeit wenig bekannt, doch bei ihren direkten Kunden haben sie einen hohen Bekanntheitsgrad – und eine ausgezeichnete Reputation. Das gilt oft sogar weltweit.

Viele dieser Mittelständler haben in ihren engen Märkten starke Weltmarken aufgebaut. Auch ohne systematische oder gar groß angelegte Marktforschung stufen sie ihre Marktkenntnis als hoch ein. Dazu gehört in ihren Augen nicht nur das Wissen über quantitative Daten, sondern vor allem das Gespür für den Markt, seine Trends und die Bedürfnisse der Kunden. Obwohl ihre Märkte typischerweise fragmentiert und zahlenmäßig schwer zu fassen sind, trauen sich die Hidden Champions aufgrund ihrer Kundennähe ein tiefes Verständnis der gegenwärtigen wie zukünftigen Kundenbedürfnisse zu.

Für die Digitalisierung kommt der Kundennähe höchste Bedeutung zu – also eine tiefe Kenntnis der beim Kunden ablaufenden Prozesse. Sie ist Voraussetzung dafür, dass Digitalisierung echten Kundennutzen stiftet. Marketing dagegen – etwa im Sinne von systematischer Marktforschung – stößt irgendwann an Grenzen. Der Grund: Die Kunden wissen mangels tieferer Kenntnisse oft selbst nicht, was sie von der Digitalisierung erwarten können oder was diese bewirken kann. In solchen Situationen reicht der traditionelle Marketingansatz nicht mehr aus, nach dem Unternehmen ihre Kunden befragen und aus deren Äußerungen eine Lösung ableiten. Stattdessen müssen sie die Bedürfnisse ihrer Kunden tiefgreifend verstehen lernen, indem sie die Kunden selbst, deren Innovationsprozesse und Digitalisierungskompetenzen einbeziehen. Die Grafik (siehe oben) zeigt, dass Hidden Champions die Integration von Kundenbedürfnissen und Technologie wesentlich besser bewältigen als Großunternehmen. Das gilt auch für die Digitalisierung.

Wenn Unternehmen mit ihren Innovationen und Digitalisierungsbemühungen Erfolg haben wollen, müssen sie die beiden Antriebskräfte Kundenbedürfnis und Technologie zusammenführen. In einer Befragung, die ich 2018 bei 150 Hidden Champions in Deutschland durchgeführt habe, sagten 65 Prozent, dass diese Antriebskräfte bei ihnen gut ausbalanciert seien. Bei den Großunternehmen dagegen sind nur 19 Prozent dieser Meinung. Allerdings sollten Unternehmen nicht nur spektakuläre Durchbruchsinnovationen anstreben. Viele Hidden Champions sind gerade deshalb so erfolgreich, weil sie ständig und mit großer Beharrlichkeit kleinere, stufenweise Verbesserungen einführen. In der Summe werden daraus Spitzenleistungen, mit denen die Wettbewerber nicht mithalten können.

Die Anregungen zu diesen Verbesserungen kommen oft von den Kunden selbst. Eine wichtige Rolle dabei spielen Topkunden, die oft auch die Funktion eines Entwicklungspartners einnehmen. So sagen 68 Prozent der von uns befragten Hidden Champions, dass sie "besonders stark von der Beziehung zu den wichtigsten Kunden profitieren". Diese Topkunden sind äußerst anspruchsvoll und treiben mit ihren extrem hohen Anforderungen die Unternehmen zu ständigen Verbesserungen. Bei der Stange bleiben sie aber nur, wenn sie immer wieder begeistert werden.

Topkunden eignen sich zudem hervorragend als Referenzen. So verfolgte Klaus Grohmann explizit das Ziel, mit seinem Maschinenbauunternehmen Grohmann Engineering aus Prüm in der Eifel Lieferant der Topkunden in seinen Zielbranchen zu sein. Mit dieser Fokussierung gewann er praktisch alle führenden Unternehmen der Branche als Kunden. Tesla-CEO Elon Musk schätzte die Kompetenzen von Grohmann sogar so hoch ein, dass er den Maschinenbauer 2017 übernahm, um dessen gesamte Kapazität für den Aufbau der gigantischen Batteriefabrik von Tesla in Nevada zur Verfügung zu haben. Heute heißt das Unternehmen Tesla Grohmann Automation.

Bei der Digitalisierung spielen Zusammenarbeit und sogenannte Ökosysteme eine zunehmend wichtige Rolle. Solche Kooperationen setzen ein tiefes gegenseitiges Vertrauen der Partner voraus. Hier zahlen sich die meist langjährigen Beziehungen der Hidden Champions zu ihren Kunden und Lieferanten aus. Denn für den Aufbau von Vertrauen ist nichts wichtiger als Zeit. Für die Einbindung in digitale Ökosysteme müssen sich die traditionell eher verschlossenen Hidden Champions allerdings stärker nach außen öffnen. Hier zeigt sich jedoch, dass sie nach wie vor Wert darauf legen, ihre Kernkompetenzen zu kontrollieren. Die Balance zwischen Öffnung und Verschlossenheit erweist sich für sie gelegentlich als schwierig.

Die erste und größte Herausforderung für Unternehmen besteht darin, echten Kundennutzen zu stiften. Matthias Schrader, Gründer der Internetagentur Sinner Schrader, hat diese Herausforderung bei der Digitalisierung in einem Beitrag für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" 2018 treffend ausgedrückt: "Es geht im Kern um die Entdeckung von Kundennutzen." Das bedeutet in der Industrie vor allem höhere Effizienz, Produktivität, Kostenersparnis, Flexibilität und Lieferfähigkeit. Die Digitalisierungsbemühungen der Hidden Champions sind klar auf diese Faktoren ausgerichtet.

Als ich den finnischen Fabrikautomatisierer Fastems besichtigte (der am Niederrhein ein Tochterunternehmen hat), hörte ich immer wieder den Satz: "Unser Job ist es, die Effizienz unserer Kunden zu steigern." Fastems ist führend bei sogenannten Production Management Systems, die Maschinen verschiedener Hersteller integrieren. Das Motto von Fastems lautet "8760" – das ist die Zahl der Stunden pro Jahr. Dahinter steckt das Versprechen, dass die von Fastems-Systemen gesteuerten Maschinen rund um die Jahresuhr einsatzbereit sind.

Das Bemühen um Effizienz bezieht sich bei Hidden Champions jedoch in der Regel nicht auf den Ist-Zustand, sondern ist zukunftsgerichtet. Das setzt voraus, dass sie zukünftige Kundenbedürfnisse antizipieren und schon jetzt vorhersagen können, welche Leistung ihre Anlagen in Zukunft bringen werden. Zwei Beispiele von Unternehmen, deren Produkte hohe Digitalisierungsgrade aufweisen, illustrieren die entsprechenden Ambitionen: Auf der Webseite des Breisgauer Mittelständlers Sick , eines der Weltmarktführer in der Sensorik, heißt es: "Wir bleiben an der Spitze, weil wir die Erwartungen unserer Kunden vorwegnehmen. Führerschaft bedeutet, dass man die Norm für andere wird. Wir setzen den Maßstab im Weltmarkt."

Ähnlich klingt der Anspruch der Rosen Gruppe , die heute zwar ihren Hauptsitz in der Schweiz hat, ihre Wurzeln und einen wichtigen Standort aber in Lingen (Ems): "Unser Ziel ist es, der wettbewerbsstärkste Anbieter der Welt zu sein. Wir gehen weit über die momentanen Markterfordernisse hinaus, indem wir die zukünftigen Bedürfnisse des Marktes antizipieren." Das Familienunternehmen ist der globale Marktführer in der Inspektion und Wartung von Pipeline-Systemen.

Die Fähigkeit, zukünftige Bedürfnisse von Kunden bereits heute zu verstehen und passende digitale Lösungen bereitzustellen, ist die hohe Kunst des Marketings.

Die klare Überlegenheit von Hidden Champions rührt daher, dass sie nicht nur einen Wettbewerbsvorteil besitzen, sondern gleich mehrere. Dabei steht die Produktqualität an erster Stelle. Aber auch bei Wirtschaftlichkeit, Service und Lieferpünktlichkeit sind sie ihren Konkurrenten überlegen. Besonders interessant und relevant für die Digitalisierung ist die Dynamik dieser Wettbewerbsvorteile.

In zwei Befragungen im Abstand von zehn Jahren (2008 und 2018) untersuchten wir die Wichtigkeit verschiedener Wettbewerbsparameter für Hidden Champions. Dabei zeigte sich, dass "Beratung" mit zehn Prozentpunkten die stärkste Bedeutungszunahme verzeichnet. Die Gewichte von "Systemintegration" und "ease of use" (Benutzerfreundlichkeit) sind jeweils um acht Prozentpunkte angestiegen.

Für den Erfolg digitaler Lösungen spielen diese Parameter eine herausragende Rolle. Dass sie so viel wichtiger für Unternehmen geworden sind, ist eine höchst relevante Erkenntnis. Denn sie zeigt, dass sich die Wettbewerbsvorteile vom engeren Produkt auf das sogenannte Augmented Product verlagern, also auf Produkt plus Service. Das bedeutet nicht, dass engere Produktmerkmale wie Qualität weniger wichtig werden. Sie bleiben Conditio sine qua non für die Kundenakzeptanz (Muss-Kriterien). Jedoch bieten die um das Produkt herum gelagerten, meist intangiblen Parameter neue Chancen zur Differenzierung gegenüber dem Wettbewerb. Ihr Vorteil: Sie wurzeln in der Kompetenz der Mitarbeiter und sind schwerer nachzuahmen als Leistungsmerkmale, die Teil des Produkts selbst sind und deshalb nachgebaut werden können. Zudem brauchen Wettbewerber mehr Zeit, um den Vorsprung der Hidden Champions bei solchen Leistungsmerkmalen aufzuholen – etwa weil sie erst ihre Mitarbeiter qualifizieren müssen.

Weil die intangiblen Parameter an Bedeutung zunehmen, wird die Wettbewerbsmatrix komplexer. Für Unternehmen wird es schwieriger, die Parameter zu optimieren und Investitionsmittel optimal einzusetzen. Zudem müssen sie mehr Mitarbeiter in die Prozesse einbeziehen, sodass Auswahl, Training und Einsatz stärkere Koordination erfordern. Diese erhöhte Komplexität lässt sich nur noch schwer mit intuitiven Methoden oder gefühlter Kundennähe erfassen. Sie verlangt nach systematischen Marketingmethoden wie der Conjoint-Analyse oder ähnlichen Verfahren.

Die Digitalisierung berührt alle Aspekte der Strategie von Hidden Champions. Die deutschen Welt- und Europamarktführer haben die Digitalisierung keineswegs verschlafen, sondern marschieren ganz vorn mit. Mit dieser positiven Einschätzung stehe ich keineswegs allein da. So sagte Peter Bartels, bei der Prüfungs- und Beratungsgesellschaft PwC für Familienunternehmen und Mittelstand verantwortlich, in einem Beitrag der Zeitung "Die Welt": "Deutschlands Familienunternehmen haben gute Voraussetzungen, um bei der industriellen Vernetzung der Produktion ganz vorn mitzuspielen."

Zwar spielen deutsche Unternehmen im digitalen Verbrauchermarkt – wie bisher in traditionellen Konsumgütermärkten – global keine große Rolle. Die Stärke der Hidden Champions liegt vielmehr in industriellen Produkten, Prozessen und Dienstleistungen. Dort sind sie in der Digitalisierung stark, weil sie eine hohe Kundennähe besitzen, also die Prozesse ihrer Kunden sehr tief kennen. Zudem verfügen sie über hohe technologische Kompetenz, die eine Integration von Produkt und Software ermöglicht. Und schließlich lassen sie sich bei ihren Angeboten nicht von Spinnereien leiten, sondern stellen knallhart Effizienz, Produktivität, Zeitersparnis und Flexibilität in den Vordergrund – genau jene Faktoren, die Industriekunden schätzen.

Der Mittelstand muss diese Stärke verteidigen und ausbauen. Die Hidden Champions haben gezeigt, dass sie dies auch in der Digitalisierung beherrschen. 

© HBM 2019

Der Autor

Hermann Simon ist Gründer und Honorary Chairman der Unternehmensberatung Simon-Kucher & Partners. Er prägte den Begriff Hidden Champions, erfand die BahnCard und gilt als bekanntester Pricing-Experte weltweit. Heute ist er ein international gefragter Redner und Buchautor. 2021 soll sein neues Buch über Hidden Champions erscheinen.

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