Die Daten-Illusion
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Viele Unternehmen versprechen sich heute Wettbewerbsvorteile von der Analyse ihrer Kundendaten. Doch das ist kein Automatismus. Sieben Fragen helfen Ihnen zu verstehen, was die Informationen in Ihrem Fall wirklich wert sind.
Von Andrei Hagiu, Julian Wright
Viele Führungskräfte und Investoren gehen davon aus, dass sich mit der Nutzung von Kundendaten erhebliche Wettbewerbsvorteile erzielen lassen. Die Theorie geht so: Je mehr Kunden ein Unternehmen hat, umso mehr Daten kann es sammeln. Und wenn es diese Daten mit maschinell lernenden Programmen analysiert, kann es bessere Produkte anbieten und mehr Kunden gewinnen. So kann es immer weiter Daten sammeln und am Ende seine Konkurrenten vom Markt drängen – ähnlich wie es Unternehmen mit erheblichen Netzwerkeffekten tun. Leider ist diese Annahme häufig falsch; meist überschätzen Menschen die Vorteile der Datennutzung massiv.
Der positive Kreislauf, der sich durch diese datengestützte Optimierung ergibt, ähnelt auf den ersten Blick der Wirkung herkömmlicher Netzwerkeffekte, wobei ein Angebot - etwa eine Social-Media-Plattform - umso stärker an Wert gewinnt, je mehr Menschen es nutzen. So entsteht eine kritische Masse an Nutzern, die letztlich dazu führt, dass Wettbewerber verdrängt werden. In der Praxis halten herkömmliche Netzwerkeffekte jedoch länger an und sind meist auch wirkungsvoller. Um also eine möglichst starke Wettbewerbsposition zu erreichen, brauchen Sie beides: Netzwerkeffekte ebenso wie datengestütztes Maschinenlernen. Allerdings sind nur wenige Unternehmen in der Lage, beides zu entwickeln.
Trotzdem ist es unter den richtigen Bedingungen möglich, kundengenerierte Daten zur Verteidigung gegen den Wettbewerb zu nutzen, selbst wenn keine Netzwerkeffekte existieren. In diesem Artikel werden wir erläutern, welche Bedingungen das sind, und helfen Ihnen herauszufinden, ob diese auch in Ihrem Unternehmen vorliegen.
Unternehmen, die ihr Geschäftsmodell auf Daten stützen, gibt es schon sehr lange. Gute Beispiele sind Wirtschaftsauskunfteien und Datenaggregatoren wie der Informationsdienst Lexis-Nexis oder die Medienkonzerne Thomson Reuters und Bloomberg, um nur einige zu nennen. Diese Unternehmen sind durch bedeutende Marktschranken vor neuen Wettbewerbern geschützt, da sich durch den Erwerb und die Strukturierung solch riesiger Datenmengen erhebliche Skaleneffekte ergeben. Ihr Geschäftsmodell besteht jedoch nicht darin, Kundendaten zu nutzen, um ein bestehendes Angebot zu optimieren.
Den Ansatz, Kundendaten zu sammeln und damit Produkte und Dienstleistungen zu verbessern, verfolgen Unternehmen bereits seit Langem. Doch in der Vergangenheit nahm dieser Prozess viel Zeit in Anspruch und war nur begrenzt erweiterbar. Automobilhersteller, Konsumgüterkonzerne und viele andere traditionelle Produktionsunternehmen mussten dafür Vertriebsdaten durchforsten, Kunden befragen und Fokusgruppen einsetzen. Allerdings waren die Vertriebsdaten oft nicht mit den Daten einzelner Kunden verknüpft. Und weil Umfragen und Fokusgruppen teuer und aufwendig sind, wurden meist nur von einer relativ kleinen Zahl von Kunden Daten erhoben.
Das änderte sich dramatisch, als die Cloud und neue Technologien aufkamen. Unternehmen konnten plötzlich riesige Datenmengen sehr schnell verarbeiten und konkreten Nutzen daraus ziehen. Mit dem Internet verbundene Produkte und Dienstleistungen können nun Kundendaten direkt sammeln, beispielsweise personenbezogene Daten, Suchverhalten, bevorzugte Inhalte, Kommunikationsverhalten, Posts in sozialen Medien, GPS-Daten und Benutzermuster. Sobald selbstlernende Algorithmen diesen "digitalen Ausstoß" (Digital Exhaust) analysiert haben, kann ein Unternehmen sein Sortiment automatisch an die Ergebnisse und sogar an individuelle Kunden anpassen.
Diese Entwicklungen machen datengestützte Analysen heute viel effektiver als jenes Wissen über Kunden, das Unternehmen in der Vergangenheit nutzten. Allerdings sind sie keine Garantie dafür, dass Wettbewerbern der Markteintritt zuverlässig verwehrt bleibt.
Um herauszufinden, wie nachhaltig ein Wettbewerbsvorteil ist, den sich ein Unternehmen durch datengestützte Analysen erworben hat, sollte es sich die folgenden sieben Fragen stellen.
Je höher der Mehrwert ist, desto größer ist auch die Chance auf langfristigen Nutzen. Schauen wir uns dafür ein Unternehmen an, bei dem der Wert der Kundendaten sehr hoch ist: Mobileye, den Weltmarktführer für Fahrerassistenzsysteme (FAS), beispielsweise Kollisionswarn- und Spurhaltesysteme. Mobileye verkauft seine Systeme hauptsächlich an Autohersteller, die diese umfassend testen, bevor sie sie in ihre Produkte einbauen. Dabei ist entscheidend, dass die Systeme einwandfrei funktionieren. Die Testdaten sind eine wichtige Grundlage zur Optimierung der entsprechenden Funktionen. Weil Mobileye diese Informationen von Dutzenden seiner Kunden gesammelt hat, konnte das Unternehmen die Genauigkeit seiner FAS auf 99,99 Prozent steigern.
Relativ gering dagegen ist der Wert von Kundeninformationen beispielsweise bei Herstellern von Smart-TVs. Einige dieser Geräte enthalten mittlerweile Software, die personalisierte Show- oder Filmempfehlungen abgibt, ermittelt aufgrund von individuellen Nutzungsgewohnheiten und der Beliebtheit bestimmter Sendungen oder Filme bei anderen Nutzern. Bislang haben Verbraucher allerdings wenig Interesse an dieser Funktion (die es auch bei Streaminganbietern wie Amazon und Netflix gibt). Sie entscheiden beim Kauf eher nach Größe des Geräts, Bildqualität, Bedienkomfort und Lebensdauer. Wenn das Lernen aus Kundendaten für Hersteller eine größere Rolle spielen würde, wäre der Wettbewerb auf dem Markt für Smart-TVs vielleicht weniger intensiv.
Oder anders gefragt: Wie schnell erreicht das Unternehmen einen Punkt, an dem zusätzliche Kundendaten den Wert eines Angebots nicht weiter verbessern? Je langsamer der Grenznutzen abnimmt, desto höher ist die Eintrittsbarriere für Wettbewerber. Wenn Sie Frage Nummer zwei beantworten, sollten Sie auf Folgendes achten: Beurteilen Sie den Nutzen weiterer Analysen vor allem anhand der Zahlungsbereitschaft Ihrer Kunden. Beurteilen Sie ihn nicht anhand irgendwelcher anderen Messwerte, die typisch für Ihre Anwendung sind, etwa dem Prozentsatz an Chatbotanfragen, die Sie zufriedenstellend beantworten konnten, oder der Zahl der Klicks auf Filmempfehlungen.
Nehmen wir einmal an, Sie stellen die Präzision des Fahrerassistenzsystems von Mobileye grafisch dar, und zwar im Verhältnis zur Nutzung durch die Kunden (Gesamtzahl der gefahrenen Kilometer bei jenen Autoherstellern, die das System testen). Sie kommen zu der Erkenntnis, dass die Daten einiger weniger Hersteller sowie ein moderater Testaufwand ausreichen würden, um eine Präzision von 90 Prozent zu erreichen. Wollen Sie jedoch auf 99 Prozent oder gar 99,99 Prozent kommen, benötigen Sie wesentlich mehr Tests und eine größere Anzahl von Autoherstellern. Es wäre allerdings falsch, die Daten so zu interpretieren, dass der Grenznutzen der Kundendaten schnell abnimmt. Denn der Nutzen der um 9 Prozent (oder 9,99 Prozent) höheren Genauigkeit ist immer noch extrem hoch – schließlich geht es hier um Menschenleben. Selbst für die größten Autohersteller wäre es schwierig, die dafür notwendige Menge an Daten ganz allein zu generieren. Und potenzielle Wettbewerber von Mobileye hätten große Mühe, diese Daten zu replizieren. Aus diesem Grund konnte sich Mobileye eine vorherrschende Position auf dem Markt für Fahrerassistenzsysteme sichern. Das Unternehmen wurde so zu einem äußerst attraktiven Akquisitionsziel für den Mikroelektronikkonzern Intel. Im Jahr 2017 zahlte er 15 Milliarden Dollar für Mobileye.
Bleibt der Grenznutzen der Erkenntnisse aus Kundendaten selbst dann noch hoch, nachdem ein Unternehmen einen sehr großen Kundenstamm aufgebaut hat, haben die angebotenen Produkte und Dienstleistungen in der Regel erhebliche Wettbewerbsvorteile. Das ist etwa der Fall bei Produkten, die zur Vorhersage seltener Krankheiten entwickelt wurden (das kalifornische Unternehmen RDMD hat sich darauf spezialisiert), sowie bei Onlinesuchmaschinen wie Baidu oder Google. Obwohl Microsoft viele Jahre Arbeit und Milliarden von Dollar in seine eigene Suchmaschine Bing investiert hat, war es nicht in der Lage, Google vom Thron zu stoßen. Sowohl Suchmaschinen als auch Systeme zur Vorhersage von Krankheiten benötigen riesige Mengen an Benutzerdaten, um konstant verlässliche Ergebnisse zu liefern.
Ein Gegenbeispiel, bei dem der Grenznutzen von Benutzerdaten relativ schnell abnimmt, sind smarte Thermostate. Sie brauchen nur wenige Tage, um die Temperaturvorlieben ihrer Benutzer über den Tag hinweg zu erlernen. Vor diesem Hintergrund sorgt weiteres datengestütztes Lernen nicht für einen nennenswerten Wettbewerbsvorteil. 2011 brachte das Unternehmen Nest (2014 von Google übernommen) die ersten intelligenten Thermostate auf den Markt, die in der Lage waren, vom Heizverhalten ihrer Benutzer zu lernen. Doch mittlerweile hat Nest mit erheblicher Konkurrenz durch Akteure wie Ecobee oder Honeywell zu kämpfen.
Wenn Daten schnell veralten, wird es – unter gleichbleibenden Bedingungen – einfacher für Konkurrenten, in den Markt vorzudringen. Denn sie müssen keinen großen Erkenntnisvorsprung aufholen, den sich etablierte Unternehmen womöglich über jahrelange Datenanalyse erarbeitet haben.
Alle Daten, die Mobileye über die Jahre von Automobilherstellern gesammelt hat, sind für die aktuellen Versionen seiner Produkte immer noch relevant. Dasselbe gilt für Informationen über die User der Suchmaschine, die Google über Jahrzehnte zusammengetragen hat. Auch wenn manche Suchbegriffe mit der Zeit seltener werden und neue Trendbegriffe aufkommen, sind die viele Jahre umfassenden historischen Suchinformationen von unbestreitbarem Wert, um auch die aktuellen User zufriedenzustellen. Dass die von ihnen genutzten Daten mit der Zeit kaum an Relevanz verloren haben, erklärt, warum Mobileye und Google Search als Unternehmen so fest im Sattel sitzen.
Bei Social Games für Computer und Mobilgeräte jedoch lässt die Relevanz der Erkenntnisse aus Kundendatenanalysen in der Regel schnell nach. Der Markt kam 2009 in Gang, als Zynga sein erfolgreiches Spiel "FarmVille" einführte. Das Unternehmen war bekannt dafür, dass es für Designentscheidungen intensiv Kundendaten analysierte. Doch es stellte sich heraus, dass sich die Erkenntnisse aus einem Spiel nicht ohne Weiteres auf andere übertragen ließen. Social Gaming ist trendabhängig, und die Vorlieben der User ändern sich schnell. Es ist daher schwierig, mit Kundendatenanalysen einen nachhaltigen Wettbewerbsvorteil aufzubauen. Nach einigen weiteren Erfolgen wie "FarmVille 2" und "CityVille" brachte Zynga keine neuen Hits mehr heraus. Im Jahr 2013 verlor es fast die Hälfte seiner User. An seine Stelle traten Spieleanbieter wie Supercell ("Clash of Clans") und Epic Games ("Fortnite"). Nach einem Höchststand von 10,4 Milliarden Dollar im Jahr 2012 bewegte sich der Marktwert von Zynga während der folgenden sechs Jahre meist unterhalb von 4 Milliarden Dollar.
Um eine wirkungsvolle Eintrittsbarriere zu schaffen, brauchen Unternehmen einzigartige Kundendaten, die sich nicht ohne Weiteres ersetzen lassen. Schauen wir uns einmal das Start-up Adaviv aus der Region Boston an, in das wir investiert haben. Es bietet ein Pflanzenbausystem an, das es Erzeugern (mittlerweile hauptsächlich von Cannabis) ermöglicht, einzelne Pflanzen kontinuierlich zu überwachen. Das System arbeitet mit künstlicher Intelligenz, einer Software für maschinelle Bilderkennung und einer eigens entwickelten Methode der Datenannotation, um biometrische Merkmale von Pflanzen zu überwachen, die für das menschliche Auge unsichtbar sind, etwa frühe Anzeichen von Krankheiten oder Nährstoffmangel. Es wandelt diese Daten in Informationen um, mit denen Landwirte den Ausbruch von Krankheiten verhindern und Ernteerträge steigern können. Je mehr Erzeuger mit Adaviv arbeiten, desto größer wird die Bandbreite an Varianten, landwirtschaftlichen Bedingungen und anderen Faktoren, von denen es lernen kann, und desto präzisere Vorhersagen für neue und bestehende Kunden sind möglich. Völlig anders sieht es beispielsweise bei Anbietern von Spamfiltern aus, die relativ preisgünstig an User-Daten kommen. Das erklärt, warum es Dutzende dieser Anbieter gibt.
Dabei sollten Manager aber immer daran denken, dass der technische Fortschritt ihre Marktposition gefährden kann, auch wenn sie auf einzigartigen oder geschützten Informationen beruht. Ein Beispiel dafür ist Spracherkennungssoftware. In der Vergangenheit mussten User ihre Software erst einmal trainieren, damit diese ihre Stimme und ihre Sprachmuster erkannte. Je öfter jemand die Software nutzte, desto leistungsfähiger wurde sie. Diesen Markt dominierten viele Jahre lang die Dragon-Lösungen des US-Unternehmens Nuance. In den vergangenen zehn Jahren entwickelten sich die personenunabhängigen Spracherkennungssysteme jedoch rasant. Heute lassen sie sich mithilfe öffentlich verfügbarer Sprachdatensätze trainieren und lernen in kürzester Zeit, die Stimme eines neuen Users zu verstehen. Diese Entwicklung hat es vielen anderen Unternehmen ermöglicht, neue Anwendungen für Spracherkennung auf den Markt zu bringen – zum Beispiel automatisierten Kundendienst am Telefon, automatisierte Mitschriften von Besprechungen oder virtuelle Assistenten. Auch in seinen Kernmärkten setzen sie Nuance damit zunehmend unter Druck.
Es ist schwer, aus Kundendaten nachhaltige Wettbewerbsvorteile zu ziehen, wenn Konkurrenten ganz einfach die Verbesserungen kopieren können, die aus deren Analyse entstanden sind. Das ist auch der Fall, wenn die Daten einzigartig oder geschützt sind und wertvolle Erkenntnisse bieten.
Eine Reihe von Faktoren beeinflusst die Fähigkeit von Unternehmen, dieses Problem zu lösen. Einer dieser Faktoren ist die Frage, ob Verbesserungen in einen komplexen Produktionsprozess eingebettet sind und sich dadurch schwieriger kopieren lassen. Der Musikstreamingdienst Pandora profitiert von einer solchen Barriere. Mithilfe des hauseigenen Music Genome Project, das Millionen Songs anhand von 450 Attributen kategorisiert, ermöglicht Pandora seinen Usern, sich eigene Radiosender nach ihren musikalischen Vorlieben zusammenzustellen. Je öfter ein User seine Sender hört und die abgespielten Songs bewertet, desto besser kann Pandora die Musikauswahl auf dessen Geschmack abstimmen. Diese Art der Individualisierung können Konkurrenten nicht einfach imitieren, weil das Music Genome Project die unerlässliche Grundlage dafür ist.
Problemlos überwachen und kopieren lassen sich im Gegensatz dazu jene Designverbesserungen, die daraus lernen, wie Kunden die zahlreichen Programme zur Verbesserung der Büroproduktivität nutzen, etwa Calendly zur Kalenderkoordinierung oder Doodle für die Terminplanung. Daher bieten Dutzende von Unternehmen ähnliche Software an.
Ein weiterer Faktor besteht in der Frage, wie schnell sich die Erkenntnisse aus Kundendaten ändern. Je schneller das passiert, desto schwieriger ist es für andere, sie nachzuahmen. So lassen sich viele Designmerkmale von Google Maps sehr einfach kopieren – was beispielsweise Apple Maps auch getan hat. Ein entscheidender Mehrwert von Google Maps liegt jedoch in der Fähigkeit, Verkehrsprognosen zu erstellen und die bestmögliche Route vorzuschlagen. Dieses Feature ist wesentlich schwieriger zu kopieren, da es mit User-Daten in Echtzeit arbeitet, die innerhalb weniger Minuten schon wieder veraltet sind. Nur Unternehmen mit einem ähnlich großen Kundenstamm (wie Apple in den USA) haben eine Chance, dieses Feature angemessen nachzuahmen. In den USA schließt Apple Maps mittlerweile zu Google Maps auf. In anderen Ländern, in denen Apple nur einen relativ kleinen Kundenstamm hat, war das bisher nicht möglich.
Im Idealfall können sie beides bewirken, aber der Unterschied zwischen den beiden Fällen ist wichtig. Wenn Daten eines einzelnen Users helfen, das Produkt für diese Person zu verbessern, kann das Unternehmen sein Angebot individuell auf diesen Kunden zuschneiden, was jedoch Kosten verursacht. Lässt sich das Produkt mit den Daten eines Users aber auch für andere verbessern, kann dies Netzwerkeffekte auslösen (muss es aber nicht). Beide Methoden zur Produktverbesserung helfen, Eintrittsbarrieren gegenüber Wettbewerbern zu errichten. Die erste Methode bindet Bestandskunden ans Unternehmen, während die zweite ein wichtiger Vorteil bei der Neukundenakquise ist.
Beispielsweise war Pandora der erste große Akteur im digitalen Musikstreaming, fiel dann aber hinter Spotify und Apple Music zurück, die nach wie vor auf Wachstumskurs sind. Wie bereits erwähnt, besteht das Hauptverkaufsargument von Pandora darin, dass es Radiostationen auf den individuellen Geschmack seiner User zuschneiden kann. Der Lerneffekt durch die Vorlieben anderer User ist dabei aber stark begrenzt. Die individuellen Bewertungen einzelner User ermöglichen es Pandora, musikalische Merkmale zu ermitteln, die ihnen gefallen. Dann bietet die Software für die User Songs an, die ebenfalls diese Merkmale besitzen.
Im Gegensatz dazu konzentriert sich Spotify wesentlich stärker darauf, den Usern Sharing- und Discoveryfunktionen anzubieten, zum Beispiel die Möglichkeit, die Stationen anderer User zu durchsuchen oder anzuhören. Auf diese Weise entstehen Netzwerkeffekte, die weitere Kunden anziehen. Der Service von Pandora ist außerdem bisher nur in den USA zugelassen (wo er eine treue Fangemeinde hat), während Spotify und Apple Music mittlerweile weltweit etabliert sind. Und auch wenn Pandora im Februar 2019 für 3,5 Milliarden Dollar vom Satellitenradioanbieter Sirius XM übernommen wurde, war es Spotify, das im April 2018 an die Börse ging und schon im November 2019 ganze 26 Milliarden Dollar wert war. Eine Personalisierung aufgrund von Daten eines einzelnen Users sorgt ganz klar für die Bindung von Bestandskunden; sie führt aber nicht zum selben exponentiellen Wachstum wie Netzwerkeffekte.
Schnelle Lernzyklen machen es Wettbewerbern schwer, Schritt zu halten, vor allem wenn es innerhalb der durchschnittlichen Kundenvertragsdauer mehrere Produktverbesserungszyklen gibt. Dauert es jedoch Jahre oder mehrere Produktgenerationen, um Verbesserungen aufgrund von User-Daten umzusetzen, haben Wettbewerber größere Chancen, in der Zwischenzeit selbst Innovationen anzuschieben und ihre eigenen Daten zu sammeln. Der Wettbewerbsvorteil durch Kundendaten ist also größer, wenn die Erkenntnisse von heute zu häufigeren Verbesserungen des Produkts führen, die nicht nur zukünftigen, sondern auch aktuellen Kunden zugute kommen. Einige der genannten Produktbeispiele – Onlinekarten, Suchmaschinen und KI-basierte Pflanzenbausysteme – lassen sich schnell aktualisieren und um das aus Kundendaten gewonnene Wissen erweitern.
Ein Gegenbeispiel sind Onlinekreditgeber wie LendUp oder LendingPoint. Diese Plattformen lernen, bessere Kreditentscheidungen zu treffen, indem sie die Rückzahlungshistorie ihrer Kunden analysieren und untersuchen, inwiefern diese mit verschiedenen Aspekten von User-Profilen und User-Verhalten korreliert. Hier basiert der einzige Nutzen für aktuelle Kreditnehmer auf den Erkenntnissen aus der Analyse früherer Kunden. Das lässt sich schon an den Verträgen und Tarifen ablesen, die Kunden angeboten bekommen. Von eventuellen zukünftigen Lerneffekten können sie nicht profitieren, da sich ihre bestehenden Verträge dadurch nicht ändern. Aus diesem Grund ist es den Kunden auch gleichgültig, wie viele andere Kunden es gibt, wenn sie entscheiden, ob sie ein Darlehen von einem bestimmten Anbieter beziehen. Bestandskunden bleiben vielleicht bei ihrem aktuellen Anbieter, weil dieser sie besser kennt. Doch der Kampf um Neukunden bleibt hart.
Die Antworten auf die Fragen 6 und 7 geben Ihnen Auskunft darüber, ob die datenbasierte Optimierung echte Netzwerkeffekte schafft. Für Kunden wird es unter zwei Voraussetzungen interessant zu wissen, wie viele andere User es gibt: wenn – erstens – Erkenntnisse aus der Datenanalyse einzelner Kunden zu einem besseren Erlebnis für alle anderen Kunden führen und wenn – zweitens – diese Erkenntnisse so schnell in ein Produkt integriert werden, dass bereits die aktuellen User davon profitieren. Der Mechanismus ist hier ganz ähnlich wie beim Netzwerkeffekt von Onlineplattformen. Der Unterschied liegt allerdings darin, dass die Plattform-User größere Netzwerke bevorzugen, weil sie mit mehr Menschen kommunizieren wollen und nicht etwa weil mehr User mehr Informationen bringen, die ein Produkt verbessern könnten.
Schauen wir uns dazu noch einmal Google Maps an. Viele User verwenden es unter anderem deshalb, weil sie davon ausgehen, dass viele andere Autofahrer dies auch tun. Je mehr Verkehrsdaten die Software bei ihnen einsammelt, desto besser kann sie Straßenbedingungen und Fahrtzeiten vorhersagen. Auch Google Search und das KI-basierte Pflanzenbausystem von Adaviv profitieren von datenbasierten Netzwerkeffekten.
Genau wie herkömmliche Netzwerkeffekte können auch sie Eintrittsbarrieren aufbauen. So stellen beide Arten von Netzwerkeffekten Neuanbieter vor ein großes Kaltstartproblem, auch Henne-Ei-Problem genannt: Wer herkömmliche Netzwerkeffekte erzielen möchte, braucht eine Mindestanzahl an Nutzern, um diese Effekte in Gang zu bringen. Und wer datenbasierte Netzwerkeffekte schaffen will, braucht von Beginn an eine gewisse Datenmenge, um den positiven Lernkreislauf zu starten.
Trotz dieser Ähnlichkeiten gibt es entscheidende Unterschiede zwischen herkömmlichen und datenbasierten Netzwerkeffekten. Erstens ist bei datenbasierten Netzwerkeffekten das Kaltstartproblem normalerweise weniger gravierend, weil sich Daten einfacher kaufen lassen als Kunden. Häufig lässt sich ein anfänglicher Mangel an Kunden durch alternative Quellen von Daten ausgleichen.
Zweitens muss das Unternehmen kontinuierlich neue Erkenntnisse aus Kundendaten gewinnen, wenn es auf Dauer datenbasierte Netzwerkeffekte schaffen will. Im Gegensatz dazu gilt für herkömmliche Netzwerkeffekte, was Intuit-Mitgründer Scott Cook oft gesagt hat: "Produkte, die von [herkömmlichen] Netzwerkeffekten profitieren, verbessern sich, während ich schlafe." Bei herkömmlichen Netzwerkeffekten schaffen die Interaktionen zwischen Kunden (und unter Umständen auch mit Drittanbietern) selbst dann einen Mehrwert, wenn die Plattform keine weiteren Innovationen bringt. Daher hätte ein neues soziales Netzwerk, das objektiv bessere Funktionen anbietet als Facebook (etwa besseren Datenschutz), dennoch große Probleme, sich gegen die starken Netzwerkeffekte des Platzhirschs durchzusetzen. Fakt ist: Die meisten User wollen einfach auf derselben sozialen Plattform sein wie alle anderen.
Drittens lassen sich fast alle Vorteile des Erkenntnisgewinns aus Kundendaten mit einer relativ geringen Anzahl von Kunden erzielen. Bei manchen Anwendungen – etwa der Spracherkennung – werden dramatische Verbesserungen durch KI den Bedarf an Kundendaten so weit reduzieren, dass der Wert datenbasierten Lernens irgendwann gegen null geht. Herkömmliche Netzwerkeffekte hingegen reichen weiter und wirken länger nach: Jeder neue Kunde erhöht in der Regel den Mehrwert für bestehende Kunden (die mit ihm interagieren können), auch wenn die Zahl der bestehenden Kunden bereits sehr groß ist.
Derzeit werden selbst profane Konsumgüter mit intelligenten und vernetzten Funktionen ausgestattet. So können zum Beispiel neuartige Kleidungsstücke mittlerweile auf das Wetter reagieren, Schritte zählen und Vitalzeichen überwachen. Auf dieser Grundlage lässt sich datenbasiertes Lernen nutzen, um die vorhandenen Angebote immer weiter zu verbessern und zu personalisieren. Eine starke Wettbewerbsposition verschaffen sich Anbieter jedoch nur unter drei Bedingungen: wenn der Mehrwert durch die Analyse von Kundendaten hoch und dauerhaft ist; wenn die analysierten Daten geschützt sind und Produktverbesserungen anstoßen, die nur schwer zu kopieren sind; oder wenn sich dadurch Netzwerkeffekte ergeben.
In den kommenden Jahrzehnten werden Unternehmen nicht darum herumkommen, ihr Produktangebot mithilfe von Kundendaten zu verbessern, wenn sie weiter im Geschäft bleiben wollen. Etablierte Anbieter könnten sich so zudem einen Vorteil gegenüber neuen Wettbewerbern verschaffen. In den meisten Fällen wird sich dadurch aber keine "Winner takes all"-Dynamik ergeben. Stattdessen werden jene Unternehmen in der nahen Zukunft am wertvollsten und stärksten sein, die einerseits mit herkömmlichen Netzwerkeffekten arbeiten und diese andererseits durch datenbasiertes Lernen ergänzen. Die Marktplätze von Alibaba und Amazon, der App Store von Apple sowie Facebooks soziale Netzwerke sind gute Beispiele dafür. 
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Die Autoren
Andrei Hagiu ist Associate Professor für Informationssysteme an der Questrom School of Business der Boston University. Twitter: @theplatformguy. Julian Wright ist Ökonomieprofessor an der National University of Singapore.
