5,7 Prozent aller an Covid-19-Erkrankten haben langandauernde Symptome entwickelt. - Getty Images
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Coronavirus: „Long-Covid ist vor allem ein Problem unserer Leistungsgesellschaft“

Expertinnen für das rätselhafte Krankheitsbild nach einer Corona-Infektion haben erste Risikofaktoren ausgemacht. Ganz vorne mit dabei: Die Volkskrankheiten.

Berlin. Wer sind die Patient:innen, die nach einer Covid-19-Infektion noch länger oder gar chronisch mit Symptomen zu kämpfen haben – und vor allem: was haben sie gemeinsam?

Das versucht das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi) mithilfe von Abrechnungsdaten zu beantworten und so ein Bild von den am stärksten gefährdeten Personen zu zeichnen. Denn noch wissen wir viel zu wenig über die Krankheit der vermeintlich Genesenen.

Mandy Schulz ist beim Zi für Data Science und Versorgungsanalysen zuständig und präsentierte kürzlich intern erste Ergebnisse ihrer Auswertung zu Long Covid. Demnach hätten 5,7 Prozent aller an Covid-19-Erkrankten langandauernde Symptome entwickelt, die ihrer vorangegangenen Virus-Infektion zugeordnet werden konnten.

Von Long-Covid spricht man, wenn diese länger als vier Monate nach der Infektion anhalten und chronisch werden; von Post-Covid, wenn Beschwerden länger als zwölf Wochen nach Genesung bleiben.

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„Die Liste der möglichen Symptome ist lang und nicht abschließend“, sagt Schulz. Allerdings stünden Ermüdung, Erschöpfung, Halsschmerzen/Heiserkeit, Kurzatmigkeit und Kopfschmerzen weit oben auf der Liste. Aber auch Haarausfall und Durchfall werden als Langzeitfolgen von Covid-19 geführt.

Nach der Erkrankung braucht es Zeit zum Auskurieren.
Kristina Spöhrer, Hausärztin

Man habe es nicht nur mit einem dynamischen Infektionsgeschehen zu tun, sondern auch mit einer sehr lebendigen Forschungslage, die nahezu täglich neue Schlüsse zulässt. „Es kommen jeden Tag neue Symptome dazu“, sagt Schulz.

Auffällig sei insbesondere, dass mehr als 97 Prozent der Patient:innen mit dem Post-Covid-Syndrom bereits vor ihrer Infektion mit SARS-CoV-2 in vertragsärztlicher Behandlung waren und häufiger bestimmte somatische und psychische Vorerkrankungen aufwiesen. Dazu zählen neben Adipositas und Rückenschmerzen auch Anpassungsstörungen.

Fortsetzung bestehender Volkserkrankungen?

Dominik Graf von Stillfried, der Geschäftsführer des Zi, leitet daraus die These ab, dass es sich bei dem Post-Covid-Syndrom in all seinen Ausprägungen eher um eine Fortsetzung der bestehenden Volkserkrankungen handele als um eine gänzlich neue, wie es zuletzt immer wieder angeklungen war.

So habe sich Adipositas in den Abrechnungsdaten als die häufigste Risikoerkrankung für die Entwicklung von Post- oder Long-Covid herausgestellt.

Dennoch sei durch die Langzeitfolgen von Covid-19 ein neuer Versorgungsbedarf entstanden, der für die niedergelassenen Ärzte viel Koordinationsaufwand bedeutet, so Kristina Spöhrer. Die Hausärztin aus Winsen/Luhe ist eine von vielen Allgemeinmediziner:innen, die zurzeit mit dem rätselhaften und sehr individuellen Krankheitsbild konfrontiert sind, das Covid-19-Genesene zeigen.

Sie rät dazu, die weiteren Forschungsergebnisse abzuwarten, bevor falsche Schlüsse gezogen werden. „Das Problem ist, dass die Post- und Long-Covid-Problematik den Infektionswellen hinterherhängt.“ Es zeichne sich allerdings ab, dass es extrem wichtig ist, sich nach der Erkrankung genug Zeit zum Auskurieren zu geben.

Das bestätigen auch die Erfahrungen von Jördis Frommhold, Chefärztin der Abteilung für Atemwegserkrankungen und Allergien an der Median Klinik Heiligendamm und Vorsitzende des neuen Ärzteverbands Long Covid. Sie mahnt, Post-Covid und Long-Covid genau voneinander zu unterscheiden, denn bei Long-Covid handele es sich um eine chronische Erkrankung, die dem bekannten Chronischen Fatigue-Syndrom sehr ähnelt.

Wichtig zu wissen sei Frommhold zufolge auch, dass intensivpflichtige Patient:innen eine ganz andere Rehabilitation benötigen als Patient:innen, die einen eigentlich milden Verlauf von Covid-19 hatten, dann aber Long-Covid-Symptome entwickeln.

Sie sehe ihrer Klinik in Heiligendamm weniger Patient:innen mit Vorerkrankungen als solche, die zuvor leistungsstark waren und mitten im Leben standen. „Long-Covid ist vor allem ein Problem unserer Leistungsgesellschaft“, so Frommhold.

Viele Betroffene gönnen sich nicht die Zeit, die sie eigentlich bräuchten, um Covid-19 gut auszukurieren. „Mit diesen Patient:innen haben wir dann am Ende die größten Probleme“, so die Medizinerin.

Erster Anlaufpunkt: Hausarztpraxis

Frommhold rät Patient:innen mit Verdacht auf Long-Covid, ihre Symptome selbst ernst zu nehmen und zunächst die Hausarztpraxis aufzusuchen. Gut informierte und aufgeklärte Patient:innen könnten dabei helfen, die Diagnose frühzeitig zu stellen.

Das sei jedoch nicht immer einfach, sagt Spöhrer. Sie sieht viele Patient:innen, die mit sehr unspezifischen Symptomen zu ihr kommen. Da heiße es dann zum Beispiel: „Ich bin immer noch so müde“ oder „Ich kann nicht mehr richtig durchatmen“. Man müsse dann sehr individuell schauen, was für die Patient:innen getan werden kann.

Wir haben viel zu viel Zeit verstreichen lassen.
Jördis Frommhold, Chefärztin

„Manchmal hilft eine längere Auszeit, manchmal eine Heilmittelverordnung.“ Problematisch sei es allerdings, zeitnah Atemtherapeuten zu finden, Termine für Physiotherapie auszumachen oder einen Reha-Platz zu bekommen.

Auch die niedergelassenen Psychotherapeut:innen sehen seit einiger Zeit immer häufiger Post- und Long-Covid-Patient:innen, wie die Auswertungen des Zi zeigen. Das sei auch kein Wunder, so von Stillfried. Schließlich befänden wir uns seit vielen Monaten im Ausnahmezustand.

In den Abrechnungsdaten sei deutlich erkennbar, dass insbesondere die Inanspruchnahme von Kinder- und Jugendpsycholog:innen in den vergangenen zwei Jahren gestiegen ist.

Um die Menschen, die an Long- oder Post-Covid leiden, bestmöglich versorgen zu können, brauche es vereinte Kräfte, so Frommhold. Vernetzung und Weiterbildung spielen dabei eine wichtige Rolle. Im neu gegründeten Ärzte-Verband geht es zurzeit darum, geeignete Versorgungspfade zu entwickeln, die auch die Potenziale der Digitalisierung ausschöpfen.

Es sei eine Stärke der Digitalisierung, dass auch fehlende Kapazitäten der Physio- oder Ergotherapie ausgeglichen werden können. Nicht zuletzt sei es notwendig, in Forschung zu investieren. „Wir haben viel zu viel Zeit verstreichen lassen“, sagt Frommhold.

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